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E-Book

Ästhetisches Lernen im Vor- und Grundschulalter

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783170330740
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Kindliche Zugänge zur Welt sind besonders stark 'ästhetisch' geprägt. Für die Frühpädagogik rücken damit die ästhetischen Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster der Kinder besonders ins Blickfeld & nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Entwicklungsaufgaben der Kinder Der Band eröffnet Zugänge zu den ästhetischen Handlungsweisen und Fähigkeiten der Kinder (im Alter von 0 bis 12 Jahren) und zeigt wie durch bildnerisch-ästhetische Praxis, etwa in der KiTa, kindliche Bildungsprozesse begleitet, angeregt und unterstützt werden können. Das Buch ist geprägt von zwei thematischen, eng miteinander verflochten Hauptsträngen: Einmal die Reflexion und Deutung ästhetischer Wahrnehmungsmuster und Aneignungsprozesse von Kindern; zum anderen werden daraus Handlungs- und Praxiskonzepte für den Elementar- und Primarbereich entwickelt, die darauf ausgelegt sind, den Kindern über ihre ästhetischen Erfahrungen Lernprozesse zu ermöglichen. Theoretisch fundiert, empirisch hinterfragend und praxisorientiert präsentiert der Band interdisziplinäre Zugänge zu einem der zentralen Themen aktueller Früh- und Elementarpädagogik.

Professor Dr. Norbert Neuß lehrt an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit dem Schwerpunkt Pädagogik der Kindheit. Professorin Dr. Lena S. Kaiser lehrt Kindheitswissenschaften an der Hochschule Emden/Leer.

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Leseprobe

2          Bedeutung der Ästhetik für kindliche Bildungsprozesse


Gerd E. Schäfer


»Jede unserer Erkenntnisse beginnt bei den Sinnen« (Leonardo da Vinci, 2006, S. 17).

Wenn man davon ausgeht, dass Kinder vom ersten Augenblick ihres extrauterinen Lebens an Erfahrungen machen, speichern und bewerten, dann sind die sensorischen, motorischen und emotionalen Prozesse die Grundlage dafür, wie Welt wahrgenommen und gedacht wird. Aus den verschiedenen Bereichen der Künste wissen wir, dass man die Sensibilität für die sensorischen Wahrnehmungen und den sensorischen Ausdruck in hohem Maße differenzieren kann. Wenn zwei das Gleiche wahrnehmen, dann kann die Wahrnehmung eines jeden doch sehr unterschiedlich ausfallen. Und dies gilt nicht nur für den künstlerischen Bereich, sondern auch für den Alltag und zwar von Anfang an. Die erste Bildungsaufgabe besteht also in der Differenzierung und Bildung der sensorischen Möglichkeiten; dies jedoch nicht als sensorisches Training, sondern als eine Strukturierung der wahrgenommenen Welt mit sinnlichen Mitteln. Seit wir gewohnt sind Kunst und Wissenschaft voneinander zu trennen, ist uns das Verständnis dafür weitgehend verloren gegangen, dass jede Wahrnehmung einer äußeren oder inneren Wirklichkeit zunächst ein ästhetischer Akt ist, der diese Wirklichkeit aus einem Eindruck von zunächst ungeordneten Reizen in ästhetisch geordnete sensorische Muster verwandelt. Nur eine sinnlich geordnete Welt kann schließlich ins Bewusstsein treten und mit anderen geistigen Werkzeugen – Spiel, Phantasie, Gestalten, Beschreiben, Nachdenken usw. – weiterbearbeitet werden. Wo wir keine sinnliche Ordnung einrichten können, werden wir von chaotischen Reizen überwältigt.1

Diese Umwandlung muss am Anfang des Lebens für alle Lebensbereich erst einmal eingerichtet werden, bevor sie uns dann später automatisch zur Verfügung steht, so dass wir den Eindruck haben, die Welt läge bereits geordnet in Dingen der Natur und der Kultur vor uns. Sie bildet ein verkörpertes, implizites Wissen, welches uns wie natürlich vorkommt und das wir deswegen nicht in Zweifel ziehen.2

Wir geraten aber auch als Erwachsene noch in Verwirrung, wenn wir etwas, was wir wahrnehmen, nicht identifizieren, d. h. bereits bekannten Mustern zuordnen können. Was am Anfang des Lebens eine zentrale Aufgabe darstellt, beschränkt sich im weiteren Leben nur noch auf die Situationen und Erfahrungen, die wirklich neu sind. Aber man kann sein Leben auch darauf einrichten, möglichst wenig oder möglichst viel Neues noch zu erfahren. Und dementsprechend muss man lernen, mit solchen Verwirrungen immer wieder umzugehen, sie zu ordnen und erkennbar zu machen, oder diese aus dem Leben, so gut es geht, auszuklammern. Doch diese Ordnung des Neuen mit den sensorischen und anderen geistigen Mitteln bleibt eine zentrale Aufgabe, wenn es darum geht, neue und bisher nicht gelöste Probleme anzugehen.

Unter Ästhetik wird hier also kein Vorläufer künstlerischer Gestaltung verstanden. Vielmehr wird dieser Begriff in seiner elementaren Bedeutung – wie sie Baumgarten im 18. Jahrhundert bereits entwickelt hat3 – verwendet, nämlich als Ordnung der sinnlichen Wahrnehmung. Wirklichkeit wird nicht einfach realistisch wahrgenommen, sondern »ästhetisch konstituiert«.4

Im Kontext frühkindlicher Bildungsprozesse bedeutet dies, dass

•  sinnliche Erfahrung5 kein a priori der kindlichen Entwicklung ist, sondern von den Entwicklungsmöglichkeiten abhängt, die im soziokulturellen Umfeld gegeben sind;

•  diese eine Entwicklung durchmachen und auf diese Weise die biographischen Erfahrungen strukturiert wird;

•  alle Formen des Wahrnehmens mithin ein Denken sind.

Die Entwicklung sensorischer Erfahrung ist also gleichbedeutend mit einer Entwicklung des ästhetischen Denkens. Jedes Wahrnehmen ist ein Erkenntnisprozess, der später – in vertrauten Bereichen individueller Lebenswirklichkeit – weitgehend automatische abläuft6, in seinen Anfängen in der frühen Kindheit jedoch einen wesentlichen Aspekt kindlicher Bildung ausmacht.

Unter dem Begriff der Ästhetik wird hier also eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis vorgestellt. Von daher wird ästhetische Bildung als die Bildung eines Denkens durch ästhetische Praktiken, eines ästhetischen Denkens begriffen. Damit werden die gestalterischen Produkte als Formen kindlicher Reflexion über ihr Bild von der Welt angesehen und nicht als Vorformen eines künstlerischen Ausdrucks.

2.1       Wahrnehmen wird zu einem großen Teil erlernt


Aus der Perspektive von Erwachsenen erscheint Wahrnehmen als eine Selbstverständlichkeit. Wir erinnern uns auch nicht, dass wir es gelernt haben. Niemand hat es uns beigebracht. Wir haben es auch nicht grundsätzlich lernen müssen, denn wir konnten es schon vom ersten Augenblick nach der Geburt oder schon vorher. Unsere Wahrnehmungsinstrumente sind nämlich in einem Jahrmillionen langen Lernprozess der Evolution entstanden. Ihr Bau, ihre Leistungsmöglichkeiten wie ihre Grenzen sind genetisch festgelegt. Aber was aus diesem vorgegebenen Potenzial gemacht wird, das hängt von den Herausforderungen der Umwelt ab, in die ein Kind hineingeboren wird.7

Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein Akrobat eine differenziertere Bewegungs- und Körperwahrnehmung hat und haben muss, als der Mensch mit einem »normalen« Bewegungsbereich, ebenso der Handwerker oder Segler. Ein Musiker hat sein Ohr in der Regel weiter geschult als derjenige, dem Musik nicht viel bedeutet. Das geht bis in die musikalischen Richtungen und Stile, die man bevorzugt. Ein Psychotherapeut wird Emotionen feiner wahrnehmen und erkennen als wir das im Alltag tun.

Die Unterschiede beginnen schon mit den Landschaften, in denen wir aufwachsen, deren Farbigkeit und Räumlichkeit unterschiedlich ist, je nach Ort, Klimazonen, Vegetation und Bevölkerungsdichte. Ein Mitteleuropäer dürfte kaum in der Lage sein, die Unterschiede der Farbigkeit, der Bewegungen, der Wolkenbildung und der Formen des Windes überhaupt zu erkennen wie es ein Fischer tut, der von Kindheit an gewohnt ist, sich mit dem Boot auf dem Meer zu bewegen. Wir wissen auch, dass solche Fähigkeiten verloren gehen, wo sie nicht mehr ausgeübt werden, deutlich in allen handwerklichen Künsten, die in verschiedenen Regionen der Welt ausgeübt wurden und die durch moderne Produktionsmethoden ersetzt werden.

Die Wirklichkeit, in der Menschen leben, ist so vielfältig, herausfordernd durch immer neue und nicht erwartbare Blickwinkel, dass sie von einer genetischen Ausstattung – und wäre sie noch so reichhaltig – nicht erfasst werden könnte. So kommen wir zwar mit Sinnesmöglichkeiten auf die Welt. Sie müssen aber erst auf die jeweils gegebenen Umwelten und ihre spezifischen Wahrnehmungsbedingungen eingestellt werden.

Selbst wenn wir als Erwachsene dies kaum mehr nachvollziehen können, am Beginn des menschlichen Lebens ist das differenzierte Wahrnehmen noch eine Aufgabe, die auch zum Problem werden kann, wenn die Herausforderungen – z. B. durch ungünstige soziale Bedingungen – hinter dem zurückbleiben, was in einem kulturellen Umfeld tatsächlich standardmäßig benötigt wird. Ich werde darauf zurückkommen.

2.2       Welche Weisen der Sinneswahrnehmung gibt es beim Menschen?


Es gibt in der gesamten Lebenswelt Millionen von Lösungen für das Problem der Wahrnehmung. Ich beschränke mich auf den Menschen: Er ist – wie sehr viele Lebewesen – mit vielfachen Wahrnehmungssystemen ausgestattet. Und es kommt ein weiterer Schritt hinzu: Er kann ein Bewusstsein von dem entwickeln, was er wahrgenommen hat.

Die Wahrnehmungssysteme der Menschen lassen sich in drei Dimensionen unterteilen:

•  Die Wahrnehmung über die Fernsinne. Mit ihnen erfahren wir etwas über die Welt außerhalb unseres Körpers.

•  Die Wahrnehmungen über unsere Körpersinne. Mit ihnen erfahren wir etwas über Zustände unseres Körpers und wie die Dinge aus der äußeren Welt auf den Körper einwirken.

•  Die emotionale Wahrnehmung. Auch Emotionen muss man als eine Wahrnehmungsform betrachten. Wir sprechen von Gefühlswahrnehmungen. Liebe, Haß, Ärger, Gleichmut usw., mit solchen Gefühlen erfahren wir etwas über die Beziehungen, in welchen wir uns befinden.

Um uns in der Welt zu orientieren, benötigen wir alle drei Wahrnehmungsdimensionen. Es ist wie ein Koordinatensystem mit drei Dimensionen: Ein Gegenstand lässt sich in der Welt da draußen sehen und...

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