DIE
ERSTE
GENERATION
/
MAYER
AMSCHEL
der Millionär
aus dem Ghetto
Schmale, hölzerne Fachwerkhäuser: die Frankfurter Judengasse. Foto, um 1860. Das Haus zum „grünen Schild“, das letzte Haus der Familie Rothschild im Ghetto, stand in diesem Bereich.
DIE SLUMSTADT
Das jüdische Ghetto der alten Reichsstadt Frankfurt war kein angenehmer Ort. Es konnte beengter nicht sein: Die Judengasse war dreieinhalb Meter breit, knapp 330 Meter lang, von hohen Mauern umgeben, vorn und hinten ein Tor, links und rechts dicht gereiht die schmalen hölzernen Fachwerkhäuser, 195 an der Zahl. Kein Baum, kein Grün, nicht einmal ein Grashalm. Johann Wolfgang von Goethe, der berühmteste Sohn der Stadt und nur wenig jünger als der Stammvater der Rothschilds, beschrieb sie als einen zwischen Stadtmauer und Stadtgraben eingeklemmten Zwinger.1 Mitte des 18. Jahrhunderts drängten sich hier 3.000 Personen – das Fünfzehnfache der bei der Einrichtung im Jahr 1462 vorgesehenen Zahl. Es gab vier Synagogen, ein Badhaus, eine Gemeinschaftsbäckerei. Jeden Abend und an allen Sonn- und Feiertagen wurden die Tore fest verschlossen. Auch wenn der gelbe Fleck am Kleid der Männer und der gestreifte Schleier der Frauen zu Goethes Zeit bereits abgeschafft waren, so gab es doch immer noch Kleiderordnungen und am Tor weithin sichtbar die Judensau. Der Zutritt zu Kaffeehäusern, Parks oder öffentlichen Plätzen war verboten: „Kein Jude und kein Schwein / Dürfen hier hinein.“ Nicht einmal für die Toten war Platz genug. Auf dem Friedhof des Ghettos türmten sich 5.930 Grabsteine. Die sanitären Verhältnisse waren mehr als bedenklich. Es stank. Alles war voll Gerümpel, wie es in einem Viertel mit Altwarenhändlern und Secondhandshops nicht anders zu erwarten ist. Da die Straße immer noch von offenen Abwässergräben durchzogen war, waren die Ausdünstungen abscheulich. Alles war eng, unordentlich, laut und aufgeregt: die schreienden Kinder, die feilschenden Händler, die fluchenden Arbeiter.
Eingeklemmt zwischen Stadtmauer und Stadtgraben: das jüdische Ghetto Frankfurts. Stich von Matthäus Merian dem Älteren, 1628. Das Haus zur „hinteren Pfanne“ befand sich ganz im Norden der Judengasse.
Aber der junge Goethe gewann auch positive Eindrücke von der Judenstadt: von der jüdischen Gastfreundschaft, ihrem Tätigkeits- und Gemeinschaftssinn, ihren geheiligten Festen von Pessach bis Jom Kippur und von den feierlichen Zeremonien zur Beschneidung, Hochzeit, zum Laubhüttenfest und zum Begräbnis. Der äußere Druck hatte zu einem engen inneren Zusammenhang geführt, zu einer eigentümlichen Sprache, dem Judendeutsch, das in hebräischen Lettern mit Gänsekielen von rechts nach links hingekritzelt wurde, ebenso zu einer besonderen Alltagskultur und vor allem zu engen, immer wieder erneuerten Verwandtschaftsbeziehungen und Verwandtenehen.
AN DER SCHWELLE DER GLOBALISIERUNG
Mayer Amschels wirtschaftlicher Aufstieg begann am Anfang des „langen“ 19. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt der ersten Globalisierung, als in England die industrielle Revolution startete und die Dampfmaschine sich anschickte, die Fabriken zu verändern. Der Siebenjährige Krieg war der erste weltumspannende Krieg. Gekämpft wurde nicht mehr nur in Europa, sondern auch in den Kolonien. Es gab die neuen Kolonialwaren: die neuen Genussmittel und Drogen wie Kaffee, Tee, Schokolade, Zucker, Tabak, aber auch die neuen Treibmittel der Textilwirtschaft Baumwolle und Indigo, die nicht nur teuer und begehrt, sondern auch hoch besteuert und bisweilen sogar verboten waren, was sowohl den Fernhandel wie den Schmuggel beflügelte. Es gab viele neue Geschäftsideen. 2 Wer zugriff, konnte rasch reich werden.
Gutle Schnapper brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe mit Mayer Amschel Rothschild ein und gebar ihm 19 Kinder, von denen zehn überlebten. Porträt von Moritz Daniel Oppenheim, 1836.
Im Jahr 1770, im Alter von 26 Jahren, hatte Mayer Amschel seine wohl wichtigste geschäftliche Entscheidung getroffen: Er heiratete Gutle Schnapper, die Tochter eines wohlhabenden Geldwechslers aus dem Ghetto. Sie brachte eine ansehnliche Mitgift von 2.400 Gulden in die Ehe ein, was ungefähr dem Jahreseinkommen der Familie Goethe entsprach. Was aber viel wichtiger war: Sie gebar ihm neunzehn Kinder. Zehn überlebten, fünf Töchter und fünf Söhne. Das war der eigentliche Beginn der rothschildschen Erfolgsgeschichte. Gutle war tatsächlich eine wirklich bemerkenswerte Frau, nicht nur wegen der vielen Kinder und durch das hohe Alter, das sie erreichte, sondern auch durch den in vielen Anekdoten gerühmten Mutterwitz, mit dem sie ihr Leben bewältigte. Dass sie erst 1849 im Alter von 96 Jahren verstarb, machte Frankfurt noch lange zu einem Fixpunkt für alle Rothschilds und sicherte den Zusammenhalt der Großfamilie. Ihr Haus in der Judengasse hatte sie trotz des inzwischen erlangten Reichtums bis zu ihrem Tod nie verlassen.
Seinen Töchtern konnte er schon Aussteuern zwischen 5.000 und 10.000 Gulden geben, seinem ältesten Sohn Amschel ein Hochzeitsgeschenk von 30.000 Gulden.
Das Haus „Zum grünen Schild“, Judengasse 148, ab 1786 Sitz der Familie Rothschild, lag im sonnigen Zentrum des Ghettos. Aber nur die linke Haushälfte gehörte den Rothschilds.
Die Katastrophe von 1796: Der französische General Jean-Baptiste Kléber lässt Frankfurt beschießen, die Judenstadt gerät in Brand.
Doch der Erfolg glich alles aus. Nathan machte mit den Baumwollwaren, die er auf den Kontinent exportierte und mit jenen Geldern bezahlte, die der Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel für den Verkauf oder die Vermietung seiner zwangsrekrutierten Soldaten an England kassierte, ein doppeltes Geschäft. Bald konnte er ein Haus im elegantesten Teil Manchesters erwerben und 1806 in die jüdische Oberschicht Englands einheiraten. Die Mitgift, die Hannah Barent-Cohen mitbrachte, war mehr als zehnmal so hoch wie jene, die sein Vater Amschel seinerzeit von den Schnappers erhalten hatte. 1808 übersiedelte Nathan von Manchester nach London, weil mit Napoleons Kontinentalsperre der Textil- und sonstige Warenhandel Richtung Kontinent völlig zum Erliegen gekommen war. Aber mit Schmuggel konnte man ohnehin viel mehr verdienen und im Geldgeschäft und dem riskanten Transfer von Gold in Barren und Münzen lagen die allergrößten Verdienstchancen. Die Rothschilds standen langfristig gesehen auf der richtigen Seite, auf jener der Gegner Napoleons, obwohl sie auch an Geschäften mit dem Franzosenkaiser ausgezeichnet verdient hatten.
Erfolgreiches Geschäftsfeld: Ab 1771 verschickte Mayer Amschel Rothschild an seine Kunden gedruckte Münzkataloge.
Mayer Amschel blieb ein Leben lang der Judengasse treu, obwohl er längst so reich geworden war, dass er überall hätte wohnen können, in einem prächtigen Palais in der Christenstadt oder in einem Haus mit Garten vor der Stadt. Doch er hatte nie mit den orthodoxen Traditionen gebrochen und verkörperte in seiner runden, ungepuderten Perücke, dem dünnen Kinnbart und der abgetragenen Kleidung immer noch den Typus des untertänigen Juden. Er war seit mehreren Jahren kaiserlicher Hofagent, mit dem Recht, Waffen tragen zu dürfen und mit der Befreiung von allen Zoll- und Mautgebühren im Reich, auch wenn das seit der Auflösung des Reichs nicht mehr viel wert war. 1808 war er schwer erkrankt. Das viele Reisen hatte ihn frühzeitig erschöpft. Aber auf sein Leben konnte er mit Befriedigung zurückblicken: Sein Geschäftsvermögen hatte bei Aktiva von 1,973.192 Gulden und Passiva von 1,458.692 Gulden einen Nettobetrag von 514.500 Gulden erreicht.6 Die Kinder arbeiteten alle in der Firma, auch die Frauen. Man handelte mit Waren aller Art, hatte Indigo im Wert von 48.929 Gulden auf Lager, dazu auch Tee, Zucker, Kaffee und englische Stoffe. Zwar hätte die von Napoleon verhängte Kontinentalsperre den Import aller Kolonialwaren unterbinden sollen. Aber nie vorher hatte dieser Handel in Frankfurt so geblüht wie während dieser Zeit und Mayer Amschel spielte dabei eine Hauptrolle. Aber in summa war er immer mehr zum Bankier geworden. Bereits 1810 hatte er einen Partnerschaftsvertrag aufsetzen lassen. Er behielt sich selber 370.000 Gulden, die beiden ältesten Söhne Amschel und Salomon erhielten je 185.000 und Carl und James je 30.000 Gulden. Doch er als Vater sollte das letzte Wort in allen Entscheidungen haben, war berechtigt, ohne Rücksprache Einstellungen und Entlassungen vorzunehmen, Geld herauszunehmen, und was das Wichtigste war, kein Familienfremder, aber auch kein Schwiegersohn sollte sich in das Geschäft einmischen können. Alle verpflichteten sich, bei Streitigkeiten kein Gericht anzurufen. Den Schwiegersöhnen und erst recht den Schwiegertöchtern stand kein Einblick in die Geschäftsbücher zu, auch nicht beim...