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E-Book

Onkel Wolfram

Erinnerungen

AutorOliver Sacks
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783644000858
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein originelles Buch voller Geschichten und Anekdoten mit unerwarteten Einsichten - ein echter Sacks! «Wolfram» heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch «Uncle Tungsten» - nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

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Leseprobe

Kapitel eins Onkel Wolfram


Viele meiner Kindheitserinnerungen betreffen Metalle: Von Anfang an schienen sie einen besonderen Zauber auf mich auszuüben. Von der Uneinheitlichkeit der Welt hoben sie sich auffällig ab mit ihrem Glanz, ihrem Schimmer, ihrem silbrigen Schein, ihrer Glätte und ihrem Gewicht. Sie waren kühl, wenn man sie berührte, und gaben Töne von sich, wenn man sie anschlug.

Ich liebte die gelbe Farbe, die Schwere des Goldes. Oft zog meine Mutter den Ehering vom Finger und ließ mich eine Zeit lang damit spielen, während sie mir berichtete, dass er unantastbar, gegen jedes Anlaufen gefeit sei. «Sieh nur, wie schwer er ist», sagte sie dann. «Noch schwerer als Blei.» Ich kannte Blei, denn ich hatte mit dem schweren, weichen Stück Rohrleitung gespielt, das der Klempner einmal zurückgelassen hatte. Auch Gold sei weich, sagte meine Mutter, deshalb werde es gewöhnlich mit anderem Metall gemischt, um es härter zu machen.

Wie beim Kupfer – das mischte man mit Zinn, um Bronze herzustellen. Bronze! Schon allein das Wort war für mich wie ein Fanfarenstoß, der zur Schlacht aufrief, wo Bronze kühn auf Bronze prallte, Bronzespeere auf Bronzeschilde, den großen Schild des Achill. Man könne Kupfer aber auch mit Zink legieren, sagte meine Mutter, das ergebe Messing. Wir alle – meine Mutter, meine Brüder und ich – hatten unsere eigenen Messingmenora für Chanukka. (Mein Vater hatte einen silbernen Leuchter.)

Ich kannte Kupfer, die glänzende rötliche Färbung des großen Kupferkessels in unserer Küche – er wurde nur einmal im Jahr heruntergenommen, wenn die Quitten und Holzäpfel im Garten reif waren und meine Mutter sie zu Gelee einkochte.

Ich kannte Zink: Die stumpfe, leicht bläuliche Vogeltränke im Garten war aus Zink; und Zinn, von der schweren Zinnfolie, in die die Sandwiches fürs Picknick eingewickelt wurden. Meine Mutter zeigte mir, dass Zinn oder Zink ein besonderes «Geschrei» ausstoßen, wenn man sie biegt. «Das liegt an der Verformung der Kristallstruktur», sagte sie und vergaß, dass ich fünf war und die Erklärung noch nicht verstehen konnte. Trotzdem faszinierten mich ihre Worte und weckten den Wunsch, mehr zu wissen.

Im Garten gab es eine riesige Rasenwalze aus Gusseisen. Viereinhalb Zentner wiege sie, sagte mein Vater. Wir Kinder konnten sie kaum von der Stelle bewegen, aber er war ungeheuer stark und konnte sie vom Boden heben. Sie war immer etwas rostig, was mich beunruhigte, weil der Rost absplitterte und kleine Löcher und Vertiefungen hinterließ. Ich befürchtete, die Walze könnte ganz zerfressen werden und eines Tages zerfallen, sodass nur noch ein Haufen von Rostsplittern und rotem Staub übrig bliebe. Ich wollte, dass Metalle stabil waren, stabil wie Gold – fähig, alle Angriffe der Zeit abzuwehren.

Manchmal bat ich meine Mutter, ihren Verlobungsring hervorzuholen und mir seinen Diamanten zu zeigen. Er glitzerte stärker als alles, was ich bislang gesehen hatte. Man konnte fast meinen, er sende mehr Licht aus, als er empfange. Sie zeigte mir, wie mühelos er Kratzer ins Glas schnitt, und forderte mich auf, ihn an die Lippen zu legen. Er war eigenartig und verblüffend kalt. Metall fühlte sich immer kühl an, aber der Diamant eisig. Der Grund sei, so Mutter, dass er Wärme so gut leite – besser als jedes Metall. Er entziehe den Lippen die Körperwärme, sobald er sie berühre. Dieses Gefühl habe ich nie vergessen. Ein andermal zeigte sie mir, was geschieht, wenn man mit einem Diamanten einen Eiswürfel berührt: Er leitet die Wärme aus der Hand in das Eis und durchschneidet es wie Butter. Meine Mutter erzählte mir, der Diamant sei eine besondere Form des Kohlenstoffs, aus dem gleichen Element wie die Kohle, die wir im Winter in allen Zimmern verwendeten. Das verwirrte mich – wie konnte diese schwarze, poröse, undurchsichtige Kohle das Gleiche sein wie der harte, durchsichtige Edelstein in ihrem Ring?

 

Ich liebte Licht, besonders das Leuchten der Schabbes-Kerzen am Freitagabend, wenn Mutter ein Gebet murmelte, während sie sie anzündete. Wenn sie brannten, durfte ich sie nicht berühren – sie seien heilig, wurde mir gesagt, ihre Flammen seien heilig und kein Spielzeug. Ich war verzaubert von dem kleinen blauen Kegel in der Mitte der Kerzenflamme. Warum war er blau? Unsere Kamine wurden mit Kohle beheizt. Häufig starrte ich ins Herz eines Feuers und beobachtete, wie es von Dunkelrot zu Orange, zu Gelb wechselte, dann bearbeitete ich es mit dem Blasebalg, bis es fast in Weißglut war. Ich fragte mich, ob es blau erstrahlte, in Blauglut geriete, wenn es heiß genug würde.

Brannten die Sonne und die Sterne auf die gleiche Weise? Warum gingen sie nicht aus? Woraus bestanden sie?

Ich war beruhigt, als ich erfuhr, dass der Erdkern aus einer großen Eisenkugel besteht. Das klang solide und verlässlich. Es freute mich, dass wir selbst aus ganz den gleichen Elementen gemacht sind, die den Stoff von Sonne und Sternen bilden, und einige von meinen Atomen möglicherweise einmal zu einem fernen Stern gehört haben. Aber es erschreckte mich auch, denn es gab mir das Gefühl, meine Atome wären mir nur leihweise überlassen und könnten sich jederzeit davonmachen, davonfliegen wie das feine Talkumpuder, das bei uns im Badezimmer stand.

Ständig bombardierte ich meine Eltern mit Fragen. Woher die Farben kämen. Wie es meiner Mutter gelinge, die Flamme des Gasbrenners zu entzünden. Was mit dem Zucker geschehe, wenn man ihn in den Tee rühre. Wo er bleibe. Warum sich Blasen bildeten, wenn Wasser koche. (Oft beobachtete ich, wie Wasser auf dem Herd kochte, und sah es vor Hitze erzittern, bevor die Blasen emporquollen.)

Meine Mutter zeigte mir noch andere Wunder. Sie hatte ein Halsband aus polierten gelben Bernsteinstücken und führte mir vor, wie winzige Papierschnipsel aufflogen und an dem Bernstein haften blieben, wenn man ihn zuvor rieb. Oder sie hielt mir den elektrisierten Bernstein ans Ohr, sodass ich ein leises Knistern spürte und hörte, einen Funken.

Meine beiden Brüder Marcus und David, neun und zehn Jahre älter als ich, führten mir gern ihre Magneten vor, indem sie sie unter einem Stück Papier bewegten, auf das sie Eisenfeilspäne gestreut hatten. Ich wurde nicht müde, die prächtigen Muster zu bewundern, die von den Magnetpolen ausstrahlten. «Das sind Kraftlinien», erklärte mir Marcus, was mich allerdings nicht schlauer machte.

Dann gab es noch das Kristallradio, das mir mein Bruder Michael schenkte. Ich spielte damit im Bett, indem ich den Draht auf dem Kristall umherbewegte, bis ich einen Sender laut und klar hörte. Und nicht zu vergessen die Uhren mit Leuchtzifferblättern – das ganze Haus war voll von ihnen, weil mein Onkel Abe ein Pionier auf dem Gebiet der Leuchtfarben war. Wie mein Kristallradio nahm ich sie abends mit unter meine Bettdecke, in mein privates, geheimes Gewölbe, und sie erfüllten meine Höhle aus Betttüchern mit einem unheimlichen, grünlichen Licht.

All diese Dinge – der geriebene Bernstein, die Magneten, das Kristallradio, die Zifferblätter mit ihrem unermüdlichen Leuchten – vermittelten mir einen Eindruck von unsichtbaren Strahlen und Kräften, das Gefühl, dass sich hinter der vertrauten, sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen eine dunkle Welt voller geheimnisvoller Gesetze und Phänomene verbarg.

Immer wenn wir einen «Kurzen» hatten, kletterte mein Vater zum Sicherungskasten aus Porzellan hoch oben an der Küchenwand, ermittelte die durchgebrannte Sicherung, die zu einem Klumpen zusammengeschmolzen war, und ersetzte sie durch eine neue Sicherung aus einem merkwürdigen, weichen Draht. Es war schwer vorstellbar, dass Metall schmelzen konnte – waren Sicherungen tatsächlich aus dem gleichen Material gemacht wie Rasenwalzen und Zinnkrüge?

Sicherungen bestünden aus einer Speziallegierung, erklärte mir mein Vater, einer Mischung aus Zinn, Blei und anderen Metallen. Sie alle hätten relativ niedrige Schmelzpunkte, aber noch niedriger sei der Schmelzpunkt ihrer Legierung. Ich fragte mich, wie das möglich war. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dem seltsam niedrigen Schmelzpunkt dieses neuen Metalls? Überhaupt, was war Elektrizität, und wie konnte sie fließen? War sie eine Art Flüssigkeit wie die Wärme, die auch geleitet werden konnte? Warum floss sie durch Metall, aber nicht durch Porzellan? Auch das verlangte nach einer Erklärung.

Meine Fragen nahmen kein Ende und machten vor nichts Halt, wenn sie auch immer wieder um meine Obsession, die Metalle, kreisten. Warum glänzten sie? Warum waren sie glatt? Warum kühl? Warum hart? Warum schwer? Warum bogen sie sich und brachen nicht? Warum erzeugten sie Töne? Wie konnten sich zwei weiche Metalle wie Zink und Kupfer oder Zinn und Kupfer zu härteren Stoffen verbinden? Was verlieh Gold seinen gelben Glanz, und warum lief es nie an?

Meistens ging meine Mutter geduldig auf meine Fragen ein, aber wenn ihre Geduld schließlich erschöpft war, sagte sie: «Mehr kann ich dir nicht sagen, wenn du es genauer wissen willst, musst du Onkel Dave fragen.»

Solange ich mich erinnern kann, nannten wir ihn Uncle Tungsten, Onkel Wolfram, weil er Glühlampen mit feinen Drähten aus Wolfram (tungsten) herstellte. Seine Firma hieß Tungstalite. Oft besuchte ich ihn in der alten Fabrik in Farringdon und beobachtete ihn bei der Arbeit, mit Klappkragen und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Das schwere dunkle Wolframpulver wurde gepresst, gehämmert, rotglühend gesintert und dann zu einem immer feineren und feineren Draht für die Leuchtfäden gezogen. Das schwarze Pulver hatte sich in Onkels Hände so eingebrannt,...

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