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E-Book

Gesammelte Aufsätze 5: Die Welt der Märchen

AutorHeiko Fritz, Heino Gehrts
VerlagIgel Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl340 Seiten
ISBN9783868156973
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Viele heute überlieferte Märchen sind in Geschichten übersetzte Darstellungen von Initiationsgeschehnissen. Sie stammen demgemäß aus den Initiationszeitaltern, also aus den schamanischen und rituellen Kulturepochen. Diese beiden Thesen von Heino Gehrts, der sie in Schriften von Hans Siuts, Pierre Saintyves und Vladimir Propp vorbereitet fand, werden durch seine Aufsätze in diesem Band umfassend und sehr detailreich untermauert. Eine solche kulturgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Aufklärung über den Zusammenhang von Märchenstruktur und den damals vorherrschenden kulturellen Gegebenheiten macht deutlich, dass die Märchen Ausdruck eines geistigen Entwicklungsstandes sowohl des Einzelmenschen als auch der menschlichen Gesellschaft sind. Damit ist der Grundstein dafür gelegt, sich der Frage, wie die Menschen in früherer Zeit ihr Leben in der Welt auffassten, einmal aus einer ganz anderen Perspektive zu nähern.

Der Herausgeber Heiko Fritz, Autor zahlreicher Bücher und kleinerer Publikationen, ist Philosoph, dessen Untersuchungen immer wieder das Gebiet der Märchenforschung streifen. Dies spiegelt sich sowohl in seinen letzten Buchveröffentlichungen wider als auch in seinem gerade abgeschlossenen Projekt, das er auf der Website www.ist-die-welt-zu-retten.de präsentiert. Im Igel Verlag erscheinen seit 2014 die von ihm herausgegebenen 'Schriften zur Märchen-, Mythen- und Sagenforschung'. Weitere Bände der Reihe sind in Vorbereitung.

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Leseprobe
Textprobe: Der Ritt auf den Glasberg Dieses Märchen vom Glasberg vertritt einen bestimmten Typus, AT 530. Die Märchen sind nämlich nicht alle so verschieden wie unsere Lebensläufe, sondern sie ordnen sich in Typen, die vor 85 Jahren in einem Register zusammengefaßt worden sind. Das Register umfaßt in 2500 Nummern alle möglichen überlieferten Erzählungen, und der jeweiligen Nummer werden die Buchstaben AT vorangestellt - nach den Verfassern des Registers, Aarne und Thompson. Bis 299 zählen die Tiermärchen; mit AT 300, dem Drachenkampfmärchen, beginnen die für uns eigentlich gewichtigen Wunder- oder Zaubermärchen; sie reichen bis 749. Daran schließen sich an die Legenden, die Novellenmärchen, die Erzählungen vom dummen Teufel oder Riesen - bis 1199. Damit haben wir uns vom eigentlichen Märchen schon weit entfernt; es folgen die Schwänke und die Lügengeschichten und schließlich noch einige für uns unbedeutende und gar nicht mehr märchenhafte Geschichten, Witze, Kettenerzählungen und andere. Märchen noch so wunderbar, Dichterkünste machen's wahr, - so lautet die poetische Antwort auf unsere Frage nach dem Gehalt eines Märchens wie dessen vom Glasberg. Wir fragen aber weiter mit dem portugiesischen Erzähler nach der alten Wirklichkeit der Märchen. Der tote Vater, die Grabwache, sein Vermächtnis, der Ritt - was ist das alles? War das einmal alles etwas? - Die Antwort erhalten wir in einer Welt, die in den letzten 150 Jahren erst eigentlich erforscht worden ist, in der des Schamanentums. Es handelt sich dabei um einen Personenkreis in den alten und den altertümlichen Kulturen, dem es aufgegeben war, zum besten ihrer Gemeinden den unmittelbaren Umgang mit den Wesen, mit Göttern, Geistern, Totenseelen zu pflegen, sie gegebenenfalls auf einer Seelenreise an ihren Stätten aufzusuchen, die guten zur Hilfe zu bewegen, die bösen, insbesondere die Krankheitsdämonen, niederzuringen. Doch wird in den Märchen von schamanistischen Überlieferungen nicht etwa erzählt, als seien sie der eigentliche Gegenstand der Darstellung, als käme es auf die schamanische Wundertat an; das Märchen ist keine Schamanenlegende. Sondern es erzählt von menschlichen Geschicken innerhalb jener alten wundersamen Kulturkulisse. Die Geschicke haben die Form eines besonderen Ereignistyps, nämlich die der Initiation. Dieser Ereignistyp ist den rituellen und den schamanischen Kulturen und den esoterischen Gemeinden eigen, und die zugehörige Erzählung schildert die Einweihung in Gehalt und Gestalt der jeweiligen Kultur durch den Erwerb der ihr eigentümlichen Einsichten und Befähigungen. Ganz so sind auch die Märchen initiatische Erzählungen. Die Märchen führen die Einweihungen insbesondere vor an ihren menschlichen Leitbildern, an den zum Königtum Berufenen. Könige sind im Zaubermärchen nicht erbliche Herrscher, nicht Rechtspersonen und Verwaltungsbeamte, sondern dem Wesen nach Schamanen. König wird im Märchen nicht ein Kronprinz, sondern wer etwas Bestimmtes vermag: sich in die Unterwelt hinabzulassen oder zu den Himmelsschlössern aufzufahren; Dämonen zu besiegen und Heilung zu bringen; stockende Geschicke zu lösen, das heißt, Wesen zu erlösen; Elementargeister und zaubrische Tiere als Helfer zu gewinnen. Auch das Mädchen bewährt sich auf ähnlichen Wegen und mit solchen Wesen als Geleitern. Mann und Weib finden den Herzgesellen auf goldenen Höhen, in der Unterwelt, in blauer Ferne. Wenn es um das Lebenswasser geht, so erringt der Held zugleich die Jenseitsbraut und zeugt mit ihr an der Quelle. Kurz, König wird, wer Schamanisches kann. Könige und Schamanen haben auch dies gemeinsam, daß ihnen in besonderem Maße der Lebensglanz, das Wesenslicht eigen ist. Schamanische Sagen erzählen, wie das Licht zur Einweihung in Mann oder Weib eingeht; in unseren Märchen hat es die Gestalt wunderbarer Gewänder und Rüstungen und erscheint als Gold und Sonne, lichte Mädchenschönheit, Goldeners Haupthaar. - In den Schamanenkulturen spielen Tierherr und -herrin eine große Rolle; in unseren Märchen finden Held und Heldin oftmals Hilfe bei den Herrschern der Vierfüßer, Vögel, Fische. Hilfsgeister in Tiergestalt, wie die Schamanen sie zur Einweihung erhalten, kehren im Märchen in Gestalt tierischer Ratgeber und Reittiere wieder. Die Geisterreitpferde seines Vaters gewinnt im Glasbergmärchen der jüngste Sohn oftmals durch nächtliche Wache am Grabe, ein unverhüllt schamanisches Motiv. Der Grabwache nahverwandt ist das allgemeine nächtliche Draußensitzen, um ein Gesicht zu erlangen und in diesem Gesicht eine Verbindung zu knüpfen mit helfenden Geistern. Das war weltweit verbreitetes Brauchtum, so bei den Jünglingsweihen mancher Indianerstämme; es findet sich aber auch in der altnordischen Überlieferung - als sitja úti und útiseta, Butensitten, zauberhafte Unternehmungen. In unseren Märchen stehlen geisterhafte Wesen allnächtlich die Feldfrüchte, und die Bauernsöhne müssen draußen wachen. Dem Jüngsten gelingt es, die Geister für sich zu gewinnen und mit ihrer Hilfe hohe Ziele zu erreichen. - Vom Goldapfelbaum des Königs werden allnächtlich die goldenen Früchte gestohlen. Die Königssöhne müssen unter dem Baume Wache halten; der Jüngste erlangt die Goldfeder des diebischen Vogels, und mit ihr der Spur folgend, gewinnt er nicht nur den Goldvogel, sondern das Geisterpferd und die hohe Braut aus dem Wunderland. Wollen wir solche Erlebnisse in unsere Vorstellung einordnen, dann müssen wir uns vor Augen halten, daß in den alten Kulturen das Erleben selbst noch ein anderes war. Für uns überwiegt so sehr das Leibeserleben, daß es Philosophen gegeben hat, die eine Wirklichkeit der Seele überhaupt nicht wollten gelten lassen. Unter dem Gesichtspunkt einer schamanistischen Psychologie aber würden wir sagen, daß wir Seelen sind, nicht, daß wir eine Seele haben. Denn wäre die Seele für uns ein habhafter Besitz, wer oder was wären dann wir als Besitzer? Von irgendeinem anderen Punkte ausgehend, von Leibes- oder Bewußtseinsfunktionen aus, gelangten wir nie mehr zu einer Wirklichkeit der Seele. Nur vom Ursprünglichsten ausgehend, erfassen wir wahrhaft unsere Wirklichkeit, und darum sind wir genötigt zu sagen, wir sind es. Nur darauf beruht die Möglichkeit märchenhaften Wesens und Daseins. Auch das Erleben des Leibes krönt sich erst als seelisches Erleben. Allerdings können wir die Seele auch zugunsten ihres körperlichen Organs vernachlässigen; doch unseren eigentlichen Zielen kommen wir näher, wenn wir den Leib leichter machen dadurch, daß die Seele die Führung erhält. Die Seele in Führung zu bringen, ist eigentlich das Hauptziel schamanischer und märchenhafter Initiation. Daher vermag der Schamane noch als Greis stundenlang in seiner mit schweren Eisenteilen behängten Tracht zu tanzen, - während andererseits unsere Sagen berichten, daß der vorwitzige junge Mann, der sich leibhaft in den Seelenreigen der Hexen einschleicht, dadurch zu Tode erschöpft wird. Im norwegischen Märchen meistert das Mädchen Kari Holzrock, mit dem schweren rumpelnden Holzkleide angetan, sein Schicksal bis hin zur Hochzeit mit dem Königssohn. Mit Eisenschuhen an den Füßen, mit dem Eisenstabe in der Hand, schamanische Ausrüstung (!), wandern im Märchen Liebende nach dem Geliebten durch die Welt und finden sie erst, wenn sie die Härten von Stahl und Stab völlig abgenutzt haben. Hieraus leuchtet uns die erste schamanische und märchenhafte Grundthese an, daß wir Seelen sind und mit der Seele das Leben zu meistern vermögen.
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