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E-Book

Das Jugendalter

Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster

AutorRolf Göppel
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl322 Seiten
ISBN9783170364516
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
The author focuses on the question of what ?adolescence= actually is. What are the challenges and problems that young people face in this age group? What are the special aspects and basic qualities of this situation as part of life and the sense of life it brings with it? The book provides an overview of the most important theories of adolescence. Starting with the ?classical= positions in adolescence theory, the volume goes on to open up interdisciplinary approaches to the topic in which different interpretations arising from psychoanalysis, developmental psychology, neurobiology, sociology and finally educational studies are presented and discussed in concise form. As the opening volume in the ?Adolescence= series, the book supplies a theoretical and scholarly framework for the series with an instructive and wide-ranging overview of the relevant approaches to the theory of adolescence.

Prof. Rolf Göppel teaches at the Institute for Educational Science at the Heidelberg College of Education, with a special focus on ?General Education=.

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Leseprobe

2          Jugend als »großes Fadensuchen« – die (Innen-)Perspektive der Coming-of-Age-Literatur (Anne Frank, Crazy, Tschick)


 

Aus der Perspektive der Jugendlichen mag vielleicht sogar die ganze umfangreiche Jugendforschung, die bisweilen ihre Ergebnisse zu solchen Generationenlabels verdichtet, als eine Zumutung erscheinen, als der Versuch, sie trotz ihrer offensichtlichen Unterschiedlichkeit zu einer Kategorie »Jugend« oder zu einer besonderen »Jugendgeneration« zusammenzufassen, sie vielleicht auch noch in unterschiedliche »Jugendtypen« zu sortieren. Es mag sich bei ihnen auch Widerstand regen gegen das Ansinnen, ihre jeweiligen Denkweisen, Ansichten und Einstellungen zu erforschen, ihre Verhaltensmuster und Gefühlskonflikte zu deuten und somit letztlich ihre Begeisterung und ihre Schwärmereien, ihre Verwirrung und ihre Verweigerung, ihre Empörung und ihre Auflehnung als eben bloß »jugendtypische Phänomene« zu »erklären« und diesen Dingen, die sie so sehr beschäftigen, somit ihre tiefere Bedeutung abzusprechen. Aber natürlich ist auch den Jugendlichen selbst bisweilen ihr eigenes Innenleben, das was ihnen passiert, was sie fühlen und empfinden, ein ziemliches Rätsel.

Besonders eindringlich kommt dies etwa in dem Tagebuch von Anne Frank zum Ausdruck. Dieses Tagebuch, das das jüdische Mädchen Anne Frank vom Juni 1942 bis zum August 1944 führte und in dem die Verfasserin neben den alltäglichen Begebenheiten des beengten und stets bedrohten Zusammenlebens in dem Versteck im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 in Amsterdam vor allem ihre inneren Empfindungen und Entwicklungsprozesse in sehr subtiler und reflektierter Weise darstellt, gehört zu den klassischen Dokumenten der autobiografischen Beschreibung jugendlichen Seelenlebens. Es wurde in über 70 Sprachen übersetzt und ist mit einer Auflage von rund 30 Millionen Exemplaren eines der meistgedruckten Bücher der Welt. In vielen Schulklassen wurde und wird dieses Buch als Pflichtlektüre ausgewählt. Einerseits deshalb, weil hier das Thema »Holocaust« an einem exemplarischen Einzelschicksal behandelt werden kann, denn das Versteck im Hinterhaus flog im August 1944 auf und die Familie Frank wurde deportiert und Anne Frank fiel im Frühjahr 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Andererseits aber auch deshalb, weil die tiefgründigen Reflexionen über innere Empfindungen, über Sehnsüchte, Hoffnungen, Zweifel, Irritationen, Ambitionen, Konflikte, Enttäuschungen, welche die Tagebuchschreiberin damals zu Papier brachte, die jugendlichen Leser auch heute noch sehr zur Identifikation und Auseinandersetzung einladen.

In ihrer allerletzten Eintragung vom 1. August 1944 notiert die 15-jährige Anne in ihr Tagebuch – welches sie stets in Form von Briefen an eine imaginäre Freundin namens Kitty verfasst hat –, dass sie

»eigentlich nicht eine, sondern zwei Seelen habe. Die eine beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit, Spöttereien über alles, meine Lebenslust und vor allem meine Art, alles von der leichten Seite aufzufassen: Darunter verstehe ich: keinen Anstoß nehmen an Flirten, einem Kuß, einer Umarmung, einem unanständigen Witz. Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und verdrängt die andere, die viel schöner, reiner und tiefer ist. Nicht wahr, die gute Seite von Anne kennt niemand, und darum können mich auch so wenige Menschen leiden. …

Meine leichte, oberflächliche Art wird der tiefen immer über sein und sie besiegen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie oft ich schon versucht habe, diese Anne, die doch nur die Hälfte ist von dem, was Anne heißt, wegzuschieben, zu lähmen, zu verbergen; es geht nicht und ich weiß auch nicht, warum es nicht geht.

Ich habe Angst, daß alle, die mich kennen, so wie ich immer bin, entdecken würden, daß ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere. Ich habe Angst, daß sie über mich spotten, mich lächerlich und sentimental finden, mich nicht ernst nehmen. Ich bin gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden; aber nur die ›leichte‹ Anne ist es gewöhnt und kann es vertragen, die ›schwere‹ ist zu schwach dazu. …

So wie ich es schon sagte, empfinde ich alles anders als ich es ausspreche, und darum habe ich den Ruf von einem Mädel, das Jungens nachläuft, flirtet, naseweis ist und Romane liest. Die vergnügte Anne lacht darüber, gibt freche Antworten, zieht gleichgültig die Schultern hoch, tut, als ob es sie nicht angeht, aber, o weh, genau umgekehrt reagiert die stille Anne. …

Es schluchzt in mir: ›Siehst Du, das ist daraus geworden: Schlechte Meinung, spöttische und verstörte Gesichter, Menschen, die dich unsympathisch finden, und das alles, weil Du den Rat der eigenen guten Hälfte nicht hörst.‹ – Ach ich möchte schon hören, aber es geht nicht; wenn ich still und ernst bin, denkt jeder, es sei eine neue Komödie, und dann muß ich mich mit einem Witz herausretten, ganz zu schweigen von meiner engeren Familie, die denkt, daß ich krank sei, mir Kopfschmerz- und Nerventabletten zu schlucken gibt, Puls und Stirn fühlt, ob ich Fieber habe, und sich nach meiner Verdauung erkundigt und dann meine schlechte Laune kritisiert. Das halte ich nicht aus. Wenn so auf mich aufgepasst wird, werde ich erst recht schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche immer wieder nach einem Mittel, so zu werden, wie ich so gerne sein möchte, und wie ich sein könnte, wenn … ja wenn keine anderen Menschen auf der Welt lebten« (Frank 1955, S. 230f.).

An manchen Formulierungen ist erkennbar, dass diese Tagebuchaufzeichnungen nicht aus der unmittelbaren Gegenwart stammen. Dennoch können die Themen, die zur Sprache kommen: Widersprüche zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen, Diskrepanz zwischen Ideal-Ich und Real-Ich, Bedürfnis nach Klarheit, Sehnsucht nach Anerkennung, Autonomiewünsche und Konflikte mit den überfürsorglichen Eltern . … wohl auch heute noch als ziemlich typische Phänomene des Jugendalters gelten.

Etwas flapsiger und weniger tiefgründig-idealistisch kommt die jugendtypische Reflexion über das Leben und seine Herausforderungen, über die Spannung zwischen dem Drang zum Tiefsinn einerseits und dem Hang zum Unsinn andererseits, in aktuellen Coming-of-Age Romanen zum Ausdruck. Wenn es ihnen gelingt, das spezielle Lebensgefühl der Jugend plastisch einzufangen, erlangen sie bisweilen den Status von wahren Kultbüchern. Das Buch »Crazy« von Benjamin Lebert, das zudem deutlich autobiografische Züge trägt und vom Autor bereits im zarten Alter von 16 Jahren verfasst wurde, gehört sicherlich zu jenen Büchern. Innerhalb kurzer Zeit hat es mehr als 25 Auflagen erreicht und wurde verfilmt.

Zwischen den 15–16-jährigen Jungen im Internat, um die die ganze Erzählung kreist, entwickelt sich, nachdem sie beim verbotenen nächtlichen Ausflug zum Mädchentrakt gerade mit einigen Mühen die Feuerleiter überwunden haben, folgendes Gespräch über das Leben an sich und als solches:

»›Und wie ist das Leben?‹ fragt Kugli

›Anspruchsvoll‹, antwortet Felix.

Ein großes Grinsen macht die Runde.

›Sind wir auch anspruchsvoll?‹ will Janosch wissen.

›Das weiß ich nicht‹, erwidert Felix. ›Ich glaube, wir befinden uns gerade in einer Phase, wo wir den Faden finden müssen. Und wenn wir den Faden gefunden haben, sind wir auch anspruchsvoll.‹

›Das verstehe ich nicht‹, bemerkt Florian entrüstet. ›Was sind wir denn, bevor wir anspruchsvoll sind?‹

›Vorher sind wir, so glaube ich, Fadensuchende. Die ganze Jugend ist ein einziges großes Fadensuchen‹« (Lebert 2000, S. 65).

Später, bei einem noch waghalsigeren nächtlichen Ausflug, der sie in die Großstadt München führen soll, kommt das Gespräch der Jungen noch einmal auf die Rede vom »Fadensuchen« zurück.

»›Benjamin Lebert – du bist ein Held‹, sagt Janosch mit tiefer Stimme. …

›Und warum?‹ will ich wissen.

›Weil durch dich das Leben spricht‹, entgegnet Janosch.

›Durch mich?‹ frage ich.

›Durch dich‹, bestätigt er.

›Was durch mich spricht, ist beschissen‹, antworte ich.

›Nein, – aufregend. Man findet immer etwas Neues.‹

›Aber will man das denn?‹ frage ich.

›Klar will man...

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