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E-Book

Bonn. Atlantis der BRD

AutorJoachim Bessing
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783957577375
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Früher war Deutschland kleiner, und auch die deutsche Hauptstadt war von deutlich zurückhaltender Anmutung als das sich im eigenen Schmuddelglamour sonnende Berlin. Bonn ist bodenständig, sachlich und vielleicht ein bisschen zu leer. Vieles dort scheint zu groß geraten für das bescheidene Flair. Bonn ist das Museum der jungen Bundesrepublik. Dieses Buch versammelt Erinnerungen an diesen märklinhaften Zaubergarten, und zugleich taucht es ab in die Schattenwelt unter dem Heiligen Hügel. Damals in Bonn: Es gab Telefonapparate, Nachkriegstraumata und eine große starke SPD. Joachim Bessing und Christian Werner porträtieren in Wort und Bild die Schaltzentrale eines versunkenen Lands, seine Vergangenheit, Träume und Aussichten - nostalgisch, wo es angemessen, und bissig, wo es nötig ist.

Joachim Bessing, 1971 in Bietigheim am Neckar geboren, wurde bekannt mit seinen Kolumnen und zahlreichen Büchern, darunter Tristesse Royale, Rettet die Familie! und Untitled. Er lebt als Autor und Übersetzer in Berlin.

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Leseprobe

»Darf ich mich näher zu Ihnen setzen?«, heißt es bei Fassbinder (in Angst essen Seele auf).

Als Deutschland noch viel kleiner war, wurde vor allem sehr viel mehr geraucht. Es war extrem. Ich kann mich an Szenen erinnern, da ließ man sich zwischen den Gängen einen Aschenbecher bringen; man betrat mit einer glimmenden Kippe das Restaurant. Jeden Sonntag wurde im TV der Internationale Frühschoppen gezeigt, geleitet vom Vater Candida Höfers, deren Werk damals noch nicht existierte, da wurde durchgehend geraucht und geschmaucht, es wurde regelrecht gequalmt. Es war gemütlich, aber es würde auch bald vorbei sein, davon ahnte ich freilich nichts.

Das Atlantis der BRD liegt nicht auf dem Grund eines Meeres – welchem denn; dem schwäbischen etwa, dem Grund des Bodensees? Oder der Müritz?

Die Welt der einstigen Bundeshauptstadt liegt unter dem Dunst von Milliarden von Zigarren, Tabakspfeifen und Zigaretten versunken. Selbstgedrehte und Orient. Mit Filter und ohne.

In jener Zeit, in den Siebzigerjahren, wurde ich eines Abends von einer Biene in die nackte Fußsohle gestochen. Das war um die Stunde nach dem Abendbrot, zwischen sieben und acht, wenn die Kinder noch einmal »ohne Händewaschen« hinaus in die Gärten geschickt wurden. Dann traf man, wenn es dort nichts Besonderes gab, bald auf der Straße zusammen, die hufeisenförmig verlief und nur wenig breiter als eine Fahrspur war. Zu beiden Seiten von einem Trottoir umgeben. Im Sommer – und es musste ja Sommer gewesen sein; höchste Bienenzeit – war es dann vor dem Zubettgehen noch hell, und zwischen den Häusern stand abscheidend ein staubiges Licht. Weit und breit war kein Erwachsener zu sehen. Die Männer schenkten sich das zweite Bier ein, denn der erste Krug war, nach getaner Arbeit, noch in der Kehle verzischt. Jemand hatte seinen Rasen gesprengt, und eine Garbe von dem Gießwasser aus dem Schlauch war auf den Asphalt des Trottoirs gefallen. Dieser Duft war fortan Sommer für mich. Ich hatte mich an einer Hecke zu schaffen gemacht. Vielleicht hatte die Biene sich auf dem warmen Asphalt bloß ausruhen wollen, vielleicht war es aber auch schon September und sie hatte sich dort niedergelegt, um zu sterben. Als ich aus Unachtsamkeit mit nacktem Fuß auf sie getreten war, stach sie mitten in die sie überwölbende Bedrohung hinein.

So fand mich jammernd, auf dem Trottoir sitzend und meine Schwellung betastend der Maler Duppel vor, der drei Häuser neben dem unseren in einem Dachgeschoss lebte, mit einer dicken Frau, die anscheinend derart dick war, dass sie ihr Heim dort in den Lüften niemals verlassen konnte. Man sah sie im Sommer und im Winter immer nur aus dem geöffneten Giebelfenster herausgelehnt eine Zigarette rauchen. Sie hatte glattes, sehr langes Haar, das ihr zu beiden Seiten des Busens hinunterhing. Nachmittags warf sie tütchenweise Ahoj-Brause zu uns herunter, ohne ein Wort. Er hingegen, Herr Duppel, war ganz klein und dünn. Ein Hänfling mit orangerotem Haar, das sich unter seiner weißen Malermütze hervorkringelte. Auch nach dem Feierabend trug er seine weiße Malerkluft mit Latzhose und schweren Schuhen, deren Leder von weißen Farbspritzern gesprenkelt war. Alle Häuser waren weiß, auch innen wurden die Raufasertapeten weiß angemalt. Duppel zündete sich eine Zigarette an, eine Krone, und drückte mir die Glut ihrer Spitze auf den Bienenstich. Das tat freilich noch mehr weh als der Stich an sich, aber immerhin war jetzt ein Schmerz von anderer Qualität entstanden. Der Bienenschmerz, in dem auch mein Bedauern über den von mir ungewollt verursachten Tod der lieben Biene eine Rolle gespielt haben wird, war überdeckt vom Brandschmerz, den mir unser Nachbar, der Maler Duppel, mit seiner Zigarette zugefügt hatte. Der war zu meinem Besten. Zwar konnte die Behandlung das kissenhafte Anschwellen meiner Fußsohle rings um die Brandwunde nicht verhindern, unter der das Bienengift davon unbeirrt seine die Gefäße sprengende Wirkung tat, aber als ich nach ein paar Tagen später wieder auftrat wie zuvor, musste ich noch immer an die Tortur des Ausbrennens denken. Und dass ich sie niemals wieder über mich ergehen lassen würde.

Uns Kindern gegenüber hatten die Erwachsenen alle Rechte. Bei Streichen hatte man sich vorzusehen, denn es drohten ja Strafen. Die konnten unvorhersehbarerweise drastisch ausfallen, man wusste nie, mit wem man es zu tun bekam. Einmal wurde ich beim Versuch des Klingelputzens vom aus dem Haustürspalt hervorschießenden Arm einer Nachbarin erfasst und mit Gewalt ins Innere des Hausflurs gezogen, die steinerne Treppe hinuntergeschleppt, um in einem fensterlosen Kellerraum eingesperrt zu werden – vor dessen Tür sich bald schon eine ihrer halbwüchsigen Töchter aufbauen sollte, um mich mit ihrem unheimlichen Geheule noch tiefer in die Furcht hineinzutreiben. Manchmal erzählte man daheim von solcher Behandlung, oft auch nicht. Meistens hieß es »selber Schuld.« Aber einmal, als ich in der zweiten Klasse der Grundschule im Rechenunterricht durch heimliches Reden die Klassenruhe gestört haben soll, klebte mir meine Lehrerin, ein sogenanntes Fräulein Reichart mit goldenem Dutt und stets ganz in Schwarz mit Beffchen, meinen Mund quer zu mit einem Heftpflaster, und das sollte bis zur Pause dort kleben bleiben. Da beschwerten sich meine Eltern anderntags bei unserem Rektor Herrn König über die Behandlung, denn ich hätte beim Rechnen doch ersticken können. Der Ortspfarrer Mayer hingegen, der uns Religionsunterricht erteilte, durfte uns weiterhin ungehemmt mit seinem Geigenbogen einen neuen Scheitel ziehen, wie er das nannte. Der Pfarrer stand als Instanz noch über dem Rektor, weil er auch nach Schulschluss im Ort als Autorität anzuerkennen war.

Weiter oben, also noch über den Arbeitgebern und Banken und direkt unter Bonn standen die Großeltern. Die fuhren entweder am Sonntagnachmittag selbst vor, oder man reiste nach dem Mittagessen im Auto zu ihnen hin. Sie lebten in prächtigen Häusern und servierten aus großen Kannen die damals noch seltene, weil kostbare Spezialität Kaffee. Danach zogen sich die Männer in eine Sitzecke zurück, während die Frauen an der aufgehobenen Kaffeetafel sitzen blieben. Beim Spielen mit den wenigen, eigens für Enkelbesuche aufbewahrten Gegenständen zog ich mich unauffällig unter das Tischtuch zurück, um meine Mutter und ihre Schwester, die Tante, die Großtante, meine Großmutter, vor allem aber die unfassbar uralte Mutter von allen, die Urgroßmutter mit dem appetitlichen Namen Rosa, bei dem Gespräch zu belauschen, das unter ihrem Vorsitz geführt wurde. Einmal war ich in der Wohnung dieser allein lebenden Greisin gewesen. Da gab es an der Küchendecke eine weitflächige Beule im Putz, wo im Krieg eine ins Hausdach gehagelte Phosphorbombe sich Stunde um Stunde tiefer und tiefer durch die Etagen gebrannt hatte – bis es auf dem Kellerboden dann nicht mehr weiterging. Löschen half nichts gegen den Phosphorklumpen. Man konnte lediglich abwarten und dabei zuschauen, wie der Feuerball durch die Decken auf die Fußböden krachte. Die Urgroßmutter, damals schon über achtzig Jahre alt, hatte endlos hochinteressante Geschichten auf Lager, da sie vor ihrer Hochzeit mit einem Angestellten der Heilbronner Gaswerke, und lange vor dem Krieg noch, im Hohenlohischen als Magd gearbeitet hatte. Von daher konnte sie erzählen, dass man uns Säuglinge einst wohl ganz fest in Leinentücher eingewickelt habe, wie in Zwangsjacken, damit wir nicht mehr zappeln konnten. Als Christstollen seien wir dann am Feldrand zu einem Haufen gestapelt worden, damit die Erwachsenen, während wir dort aufeinandergestapelt gelegen hätten, ungestört die Feldarbeit verrichten konnten. Damit wir schön schliefen, hätten sie uns jeweils einen Tuchzipfel in den Mund gesteckt, in den sie Mohnsaat eingedreht hätten. Diese Behandlung nannte sich »den Mohnschnuller geben.«

Die Gespräche von Vater, Schwiegervater und dem froschmäuligen Onkel – der Urgroßvater war längst gestorben – waren dagegen uninteressant. In der Sitzecke ging es zuerst um das Geschäft und danach um Bonn. Da wurde es rasch hitzig, weil der Onkel durch seine vorgewölbte Oberlippe scharf Luft einzog, um seine Ansichten vorzubringen. Mit seinem »Rede doch nicht«, beendete der Großvater dann die Debatte. »Du warst nicht dabei.«

Bei den Frauen ging es um die Rätsel des Lebens. Manchmal war ich vor lauter Lauschen eingeschlafen und erwachte dann viel später erst allein unter einem Federbett im dunklen Zimmer, wenn abgefahren werden sollte. Rechtzeitig zur Tagesschau waren wir wieder daheim.

Es sollte noch viele Jahre lang dauern, bis wir unseren ersten Farbfernseher erhielten. Bis dahin schauten wir in Schwarz-Weiß auf einem Apparat Made in Germany, den meine Eltern vor meiner Geburt geschenkt bekommen hatten von den Großeltern, damit sie die Mondlandung mit anschauen konnten. Für die Bilder dieser als enorm...

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