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Eure Heimat ist unser Albtraum

Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski uvm.

AutorFatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl182 Seiten
ISBN9783843720427
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
»Das sind die Stimmen, die wir hören müssen. Damit es in diesem Land nicht noch finsterer wird.« Margarete Stokowski Wie fühlt es sich an, tagtäglich als 'Bedrohung' wahrgenommen zu werden? Wie viel Vertrauen besteht nach dem NSU-Skandal noch in die Sicherheitsbehörden? Was bedeutet es, sich bei jeder Krise im Namen des gesamten Heimatlandes oder der Religionszugehörigkeit der Eltern rechtfertigen zu müssen? Und wie wirkt sich Rassismus auf die Sexualität aus? Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat - einem völkisch verklärten Konzept, gegen dessen Normalisierung sich 13 Autor_innen wehren. Zum einjährigen Bestehen des sogenannten 'Heimatministeriums' sammeln Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schonungslose Perspektiven von Denker_innen, die Rassismus und Antisemitismus erfahren. In persönlichen Essays geben sie Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt.   Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa uvm.

Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, war Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman Ellbogen, für den sie mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Roman Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 

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Leseprobe

Sichtbar

von Sasha Marianna Salzmann

Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. Ich werde nie wissen, wie es ist, unvorsichtig sein zu können beim Küssen im Park, einfach draufloszuknutschen. Was es heißt, durch die Straßen zu streifen und nicht damit rechnen zu müssen, dass jemand im Vorbeigehen meine Haare zu berühren versucht. Wie es ist, sich nicht ständig in Selbstgesprächen zu beschwichtigen, wenn man mehrmals am Tag gefragt wird, ob man Deutsch verstehe. Mich in der Menge aufzulösen, ist keine Option für mich. Ich gehöre gleich mehreren Minderheiten an; das kaschieren zu wollen, birgt für mich größere Gefahren, als meine Positionen zu benennen.

Your silence will not protect you2, heißt ein Essayband von Audre Lorde, in dem sie gleich in mehreren Texten die destruktive Kraft von (selbst) auferlegtem Schweigen herausarbeitet: Der einzige Weg, der verhindert, dass das, was man ist, gegen einen verwendet wird, sei das Sprechen über sich, bevor es andere tun. Andernfalls blieben die Angriffe und Beurteilungen der anderen in den Grauzonen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, und man wird danach behaupten können, man habe von nichts gewusst.

Ich denke an die Jüdinnen und Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts so damit beschäftigt waren, sich zu assimilieren, dass Hitler sie daran erinnern musste, dass sie nie dazugehören würden und nie erwünscht wären. Diese Menschen wurden jüdisch durch Diskriminierung, durch Ausgrenzung, durch ihren Tod. Viele von ihnen meinten, wenn sie sich als Teil der christlich-deutschen Gesellschaft verstünden, dann seien sie es auch. Einige glaubten der antisemitischen Propaganda und schämten sich ihrer selbst: »Wer sich assimilieren konnte oder wollte, für den war alles, was an den Moschus des Judentums erinnerte, eine Art hässlicher Atavismus, wie ein Fischschwanz, den man noch hinter sich herzieht, nachdem man den Schritt aufs Festland geschafft hat«, schreibt Maria Stepanova in ihrem Roman Nach dem Gedächtnis3. Das Ergebnis ist bekannt. Assimilation führt ins Verderben. Warum versuchen wir also dazuzugehören? Welche Versprechen birgt es, so zu sein wie alle, das »Normalsein«? Und kann man nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts wirklich glauben, dass man als Minorität in einer Gemeinschaft geschützt wird, wenn man leise ist und sich so unauffällig wie möglich verhält?

Zumindest im jüdischen Kontext bedeutet das Nicht-Auffallen und Nicht-Benennen, dass man nicht vorkommt. Wenn ich meine Kultur nicht feiere, existiert sie nicht, versuchte ich der Frau, die sich mir als Christin vorstellte, zu erklären, als sie mich nach einer Lesung darauf hinwies, dass für sie die Art, wie ich meinen Davidstern gut sichtbar über dem Shirt trage, Exhibitionismus sei.

An diese Frau musste ich denken, als ich in dem Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes las, dass 43,8 Prozent der deutschen Bevölkerung voll und ganz oder mindestens tendenziell dem Satz zustimmen: »Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen.« Für die meisten dieser Gruppe ist ihre eigene Sexualität als Norm markiert; sie fordern mein Schweigen, meine Unauffälligkeit und damit mein Verschwinden mit dem Verweis darauf, dass man über Homosexualität nicht mehr sprechen müsse, denn Homos seien längst überall angekommen. Selbst hochrangige Politiker_innen seien offen homosexuell und stünden mit ihrem Lebensstil für die Toleranz der westlichen, christlichen Gesellschaft. Sieht man sich aber die Geschichte von Queerness genauer an, wird deutlich, wie ungesichert und immer aufs Neue umkämpft dieses Feld ist: Das in Deutschland 1872 eingeführte und von den Nazis 1935 verschärfte Homosexuellengesetz unter dem § 175, das Männer für gleichgeschlechtliche Akte mit Zuchthaus bestrafte, wurde erst 1994 abgeschafft. Die Rehabilitierung aller Verurteilten und ihrer Sexualpartner folgte erst 2017, viele der Betroffenen waren längst tot.

Die sogenannte Ehe für alle wurde in Deutschland zwar 2017 eingeführt, wird aber nach wie vor kontrovers diskutiert und bleibt umstritten.

Erst 2018 nahm die Weltgesundheitsorganisation Transidentitäten von der Liste der Geisteskrankheiten. Trotzdem müssen diese Menschen zwei voneinander unabhängige psychiatrische Gutachten vorlegen, wenn sie eine Hormonbehandlung beginnen wollen. Das aktuell verabschiedete Gesetz zur dritten Geschlechtsoption, das neben »männlich« und »weiblich« auch den Eintrag »divers« vorsieht, zielt auf Intersexuelle, aber nicht auf Transidente und Nicht-Binäre. Ich selber, als nicht-binäre Person, bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass Menschen die Art, wie ich mich selbst wahrnehme, für eine psychische Störung halten.

Gleichzeitig stimmt es, dass Lesben- und Schwulenrechte mittlerweile eine relevante Spielkarte in politischen Machtkämpfen darstellen. Seinem Selbstverständnis nach steht Europa für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Nicht zufällig lässt jedes Land, das in die EU will, gleich nach der Bewerbung um den Beitritt eine Gay Pride Parade zu. Meistens zum ersten Mal und unter Einsatz eines massiven Polizeiaufgebots, das die Demonstrierenden und Feiernden vor dem wütenden Mob schützen soll. Nicht umsonst nennt uns Russland, das sich in radikaler Opposition zu der Union sieht, in der wir leben: Gayropa.

Und so gibt es hierzulande das Märchen vom guten Schwulen. Der a) weiß ist, b) dasselbe begehrt wie jede heterosexuelle Person angeblich auch: einen Partner, ein Haus, Autos und Karriere. Einer von ihnen, Jens Spahn, bewarb sich zum Zeitpunkt, als ich an diesem Text schrieb, um den Vorsitz der aktuell regierenden Partei des Landes. Seine Sexualität verschweigt er nicht, allerdings gibt er auch zu, dass er zu seinem privaten wie öffentlichen Coming-out durch innerparteiliche Machtkämpfe gezwungen wurde. Außerdem wird er nicht müde zu betonen, dass er keine »schwule Klientelpolitik« machen will. Auf keinen Fall will er damit auffallen, dass er schwul ist. Sein Markenzeichen ist sein Hass auf die Muslim_innen: Er will Burkas verbieten, wettert gegen in Unterhosen duschende muslimische Männer in Fitnessclubs und zieht Parallelen zwischen der religiösen Herkunft von Tätern und ihren Verbrechen. Wenn es allerdings darum geht, Argumente für seine Demagogie zu finden, kommt Spahn die eigene sexuelle Orientierung gerade recht: Er behauptet, Angst vor dem Islam zu haben, weil man ihn in einem muslimischen Land wegen seiner Homosexualität von Türmen schubsen würde. Auf die Nachfrage eines Journalisten, wie es um die Akzeptanz der Ehe für alle in dem kleinen christlichen Ort steht, aus dem Spahn kommt (Ottenstein im Westmünsterland), antwortete er: »Sicherlich gibt es Vorbehalte. Aber nur weil jemand Vorbehalte hat, ist er deshalb nicht automatisch homophob.«4

Demnach wären die Hardliner in Ungarn, Polen, Bayern und den Niederlanden auch nicht homofeindlich, vermutlich auch nicht die eine Million Demonstrant_innen gegen die Ehe für alle, die in Paris vor wenigen Jahren auf die Straße gingen. Nur Moslems sind in Jens Spahns Denkraum Feinde der Schwulen.

Nationale, patriotische, schwule Retter des Abendlandes gibt es zur Genüge. Diese Haltung ist keine Erfindung Spahns. Mit dem Begriff des Homonationalismus5 beschreibt die Gender-Theoretikerin Jasbir Puar, wie Mitglieder ausgegrenzter Minderheiten ihren (Karriere-)Weg in einer Mehrheitsgesellschaft machen: Ökonomisch starke, meist weiße Homosexuelle treten als Vertreter_innen europäischer Errungenschaften auf, die sie gegen vermeintlich homofeindliche Kulturen verteidigen müssen.

Homonationalismus ist selbstverständlich nicht nur den Schwulen vorbehalten: Alice Weidel behauptete unlängst in einer Rede vor Mitgliedern ihrer Partei »Alternative für Deutschland«, dass sie schon Millionärin wäre, wenn sie nur einen Cent für die immer wieder gestellte Frage verlangt hätte, wie sie als lesbische Frau (mit einer Partnerin aus Sri Lanka und zwei adoptierten Kindern, alle leben in der Schweiz) eine rechtsnationale Partei repräsentieren könne. Eine Partei, die in ihrem Programm wenig Konkretes bietet außer Hass auf Minderheiten. Hass auf den angeblichen Genderwahn. Hass auf »den Islam«. You name it.

Weidels Antwort ist vorhersehbar und funktioniert nach demselben Prinzip wie die Argumentation von Jens Spahn: Sie sei natürlich nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Homosexualität in der AfD.6

Ich beobachte die Zuhörer_innenschaft, vor der Alice Weidel die zwölfminütige Rede zu ihrer sexuellen Orientierung hält. Sie jubelt. Schrumpelige Opas halten den Daumen hoch. Frauen applaudieren mit glänzenden Augen und sind kurz vor Standing Ovations. Ich frage mich, was wäre, wenn dieselbe Alice Weidel jetzt sagen würde: »Ihr Lieben, der Wohlstand unserer Gesellschaft basiert auf massiver Ausbeutung dieses Planeten und seiner Völker, und darum stehe ich heute hier und fordere die konsequente Umverteilung der Güter und offene Grenzen.« Ich stelle mir vor, wie die Frau mit dem toupierten kastanienbraunen Haar, die ihre Lippen über die Ränder hinaus mit bräunlichem Rot überschminkt hat, ihren Sitznachbarn mit dem Ellbogen anstößt und so, dass alle im Raum es hören können, flüstert: »Sie ist eine Lesbe, oder?« Woraufhin der Herr im gestreiften Hemd und mit rahmenloser Brille, die ihm eng auf der Nasenwurzel sitzt, sein Kinn noch höher in die Luft reckt, seine Arme aus der...

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