Einführung
Emotionen – aktuell, spannend und immer besser erforscht
Das Thema »Emotionen« bewegt die Gemüter. Zunehmend taucht es in Zeitschriften und als Buchtitel auf. Bisweilen wird sogar von einer »emotionalen Wende« gesprochen – was zum Ausdruck bringen soll, dass Gefühle mittlerweile hoffähig geworden sind. Ein großer Teil der Ratgeberliteratur beschäftigt sich mit ihnen. Doch auch in der Wissenschaft nimmt die Auseinandersetzung mit Emotionen zu. Spätestens seit den 1990er-Jahren findet eine eingehende Forschung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen statt.
Als Ergebnis dieser Untersuchungen scheint der Mensch in einem sehr viel stärkeren Maß von basalen Emotionen und persönlichen Gefühlen gesteuert zu sein als bisher angenommen. Auf verschiedenen Gebieten, z. B. der Motivationspsychologie und der Neurowissenschaften, wird deutlich, dass menschliches Denken und Handeln von emotionalen Anteilen bestimmt ist (Kuhl 2010; Roth 2011). Hinzu kommt, dass ein Großteil dieser Dynamik unbewusst abläuft und körperliche Prozesse massiven Einfluss darauf haben. Die Gattung Mensch kann deshalb mit Fug und Recht als Homo sapiens emotionalis bezeichnet werden.
Emotionen und Gefühle sind komplexe dynamische Gefüge, die sich ähnlich den Naturkräften bewegen. Manchmal scheinen sie zart auf, manchmal entladen sie sich explosionsartig. Sie überkommen eine Person oder ergreifen von ihr Besitz. Sie breiten sich in einer Gruppe aus und scheinen »ansteckend« zu sein. Offenbar können kleinste Auslöser ganze Reaktionsketten in Gang setzen. In der Regel entziehen sie sich der willentlichen Kontrolle und ereignen sich unwillkürlich. Dies kann sehr konkret fassbar sein, wie z. B. wenn man auf eine andere Person wütend ist, oder eher unkonkret und nebulös. Mitteilungen wie »Irgendwie geht es mir schon seit Tagen nicht gut« weisen auf emotionale Anteile hin, die unser Erleben eher diffus beeinflussen. Sie sind noch nicht klar und scheinen konturlos, doch prägen sie das innere Klima. In diesem Fall spricht man von einer »Stimmung«.
Auf solcher Weise steuern Emotionen sowohl das subjektive Erleben als auch das Interagieren und Kommunizieren. Jedes Zustandekommen eines sogenannten Problems ist daher mit emotionalen Anteilen verknüpft. Realität, sowohl in subjektiver als auch in sozialer Hinsicht, wird durch Fühl-Denk-Verhaltensprogramme (Ciompi 1997, 2013) konstruiert.
Emotionen als Motivation, Anlass und Thema der Beratung
Wenn eine Person sich entschließt oder Mitglieder einer Organisation zu der Entscheidung kommen, Coaching oder Beratung in Anspruch zu nehmen, spielen neben oder hinter dem vorgebrachten Anlass Gefühle und Emotionen eine erhebliche Rolle. Dies gilt sowohl für eine persönliche Arbeitsunzufriedenheit als auch für organisationale Veränderungsprozesse wie z. B. Umstrukturierungen oder das Initiieren eines Kulturwandels. Der Coach bzw. Berater tut gut daran, die emotionalen Anteile zu beachten und in die Arbeit einzubeziehen. Erst allmählich verbreitet sich die Einsicht, dass Ratschläge wie »Da müssen sie ihre Emotion zur Seite tun« oder »Das dürfen sie nicht persönlich nehmen« keinesfalls hilfreich sind. Vielmehr wirken sie ähnlich wie die paradoxe Aufforderung »Sei spontan!« und führen zu Ratlosigkeit oder Frustration. Ratschläge solcher Art weisen eher darauf hin, dass der Coach unsicher oder sogar unfähig ist, mit emotionalen Anteilen zu arbeiten.
Persönliche Lebenssituationen in Beruf und privatem Alltag bieten Anlässe für Coaching. Sie ergeben sich bei Rollenfragen, beruflichen Neuorientierungen oder konfliktuellen Erfahrungen. Auf der Ebene des inneren Erlebens tauchen dann auf: Stressempfinden oder Ängste, starke Unzufriedenheit oder anhaltende Verstimmungen, Unsicherheit und Ohnmacht, Sehnsüchte und der Wunsch nach Veränderung. Jede Situation wird subjektiv gedeutet und bewertet, was immerzu mit Gefühlen verknüpft ist. In der Geschäftigkeit des Alltags werden die genannten emotionalen Zustände jedoch kaum oder nur teilweise wahrgenommen, geschweige denn bewusst verarbeitet. Vielmehr geht damit oftmals ein diffuses Erleiden einher. Dabei sind es genau diese Erlebensanteile, die in das Coaching führen! Es wäre deshalb hilfreich, sich ihrer anzunehmen. Werden sie als Wirkfaktoren angemessen in die Beratung integriert, dient es der nachhaltigen und erwünschten Veränderung (Schreyögg 2015). Auch für den organisationalen Kontext rückt diese Erkenntnis allmählich in den Fokus der Aufmerksamkeit (Fröse, Kaudela-Baum u. Dievernich 2015).
Vielleicht hängt es unter anderem mit der jüngeren »Algorithmengläubigkeit« einer digitalisierten Gesellschaft zusammen, dass Menschen einen konstruktiven Umgang mit den eigenen Emotionen weniger im Blick haben. Bei Gefühlen und Emotionen zeigt sich, wie wenig sich das Leben durch ein trivialisierendes »0/1« beherrschen lässt. Denn emotionale Prozesse verlaufen weder linear noch digital, sondern assoziativ und verbunden mit dem gesamten Organismus. Sie lassen sich nicht instruktiv steuern oder per Knopfdruck beseitigen.
In Emotionen zeigt sich die Kreatürlichkeit des Menschen. Sie stellen ein Erbe der Evolution dar und vollziehen sich in Aktivitäten des sogenannten limbischen Systems, welches im Zentrum des menschlichen Gehirns liegt. Doch stellen Gefühle nicht nur eine natürliche Gegebenheit dar. Denn sie werden in Prozessen »bezogener Individuation« (Stierlin 1989) gelernt und weisen auf die Eingebundenheit des Einzelnen in soziale Kontexte hin.
Zum Aufbau dieses Buches
Das vorliegende Buch will das Thema Emotionen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht für den Beratungskontext beleuchten. Daher umfasst es zwei große Teile. Nach der Einführung legen die Kapitel 1 bis 3 in Teil I: Theoretische Überlegungen das ideelle und begriffliche Fundament, die Kapitel 4 bis 7 bilden anschließend den umfangreichen Teil II: Praxis.
Kapitel 1 stellt grundlegende Gedanken zur Arbeit mit Emotionen vor. Es liefert Hinweise, um Emotionen zu verstehen, zu akzeptieren und zu verändern. Zunächst wird in Kapitel 1.1 »Gefühle verstehen« ein kurzer Blick auf ihre Geschichte geworfen (Kap. 1.1.1). Hier wird deutlich, wie unterschiedlich Emotionen in den Geistesund Naturwissenschaften gesehen und bewertet worden sind. In Kapitel 1.1.2 werden begriffliche Differenzierungen vorgenommen. Mittlerweile sind Emotionen Thema unterschiedlicher Felder wissenschaftlicher Forschung und werden hinsichtlich diverser Aspekte untersucht. Einige von ihnen finden hier Beachtung. Die Forschungen zu Emotionen sind mittlerweile enorm umfangreich und ausdifferenziert. Sie alle darzustellen ist aber nicht die Absicht dieses Textes.
Grundsätzlich ist eine Emotion kein fest umrissenes »Ding«, sondern vielmehr ein dynamisches Gefüge, welches sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt (Kap. 1.1.3). Damit lässt sich beispielsweise zwischen dem subjektiv erlebten Gefühl und der körperlich verankerten Emotion unterscheiden.
Für den Kontext von Coaching und Organisationsberatung sind solche Aspekte wie die Relation zwischen Emotionen und Bedürfnissen (Kap. 1.1.4), die Rolle des Unbewussten (Kap. 1.1.6) oder die Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Körper von Belang (Kap. 1.1.5). Diese Themen werden in eigenen Abschnitten kurz dargestellt und mit Hinweisen zu den jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsfeldern versehen. In einigen Abschnitten, sowohl im Theorie- als auch im Praxisteil, beziehe ich mich auf das Konzept der Affektlogik nach Luc Ciompi (1997, 2013), das in einem eigenen Unterkapitel dargestellt ist (Kap. 1.1.7). Von Ciompi stammt der Begriff des »Fühl-Denk-Verhaltensprogramms«, welcher bereits darauf hinweist, dass menschliches Denken und Verhalten weitgehend von emotionalen Anteilen gesteuert werden. In seinem Konzept sind auch kollektive Affektlogiken erläutert, die gerade in der Arbeit mit Teams, Gruppen und mit einer gesamten Organisation eine wichtige Rolle spielen können. Bereits Ciompi weist auf die wirklichkeitskonstruierende und unwillkürliche Kraft von Emotionen hin. Wie sie sich auf der individuell-subjektiven Ebene und im sozialen Miteinander auswirkt, wird in den Kapiteln 1.1.8 und 1.1.9 dargestellt.
Mit dem Blick auf die bis dahin zusammengetragenen Aspekte lässt sich dann die Gretchenfrage stellen, ob und inwieweit sich Emotionen verändern lassen (Kap. 1.3). Auf jeden Fall ist es nötig, sie zu akzeptieren, anstatt gegen sie anzugehen (Kap. 1.2). Ebenso braucht es eine Arbeit auf der »limbischen Ebene« (Kap. 1.3.3).
Kapitel 2 schaut auf die Kontexte Coaching und Organisationsberatung. Beide Begriffe werden anhand ihrer Historie in Kürze erläutert (Kap. 2.1 u. 2.4). Im Laufe der letzten zehn Jahre wurde deutlich, dass das Einbeziehen der emotionalen Ebene als Erfolgsfaktor...