3Dissoziation und Assoziation
Dissoziation und Assoziation – Trennen, Teilen, Aufteilen und Verbinden, Zusammenfügen, Verknüpfen – sind in der Hypnotherapie häufige, in unterschiedlicher Art angewendete Methoden. Die Arbeit mit den verschiedenen Bewusstseinszuständen, dem Hier-und-jetzt-Zustand und dem Trancezustand, beinhaltet schon eine Aufteilung in verschiedene Zustände. Das Modell des Bewussten und des Unbewussten (»unconscious mind«) impliziert ebenfalls die Aufteilung in zwei Teile. Lehrer (1985) beschrieb die Metapher zur Veränderung mittels Hypnose. Mit der Aufteilung in zwei Teile spielt auch Haley (1993) in Bezug auf die Hypnotherapie: Langzeit- versus Kurzzeittherapie, Gegenwart versus Vergangenheit, gutes versus böses Unbewusstes. Oft wird Klienten in der Trance suggeriert, ein Teil der Person gehe einen Weg und ein anderer Teil einen anderen. Nach Barber (1985) ist Hypnose ein »Erleichterer« (engl. faciliator) des therapeutischen Prozesses im Allgemeinen und des Zugangs zu verschiedenen Teilen, insbesondere zum Unbewussten. In der Hypnosetherapie kann mit mehr als zwei Teilen gleichzeitig gearbeitet werden.
Gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ICD-10 der WHO sind »Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen; F44)« gekennzeichnet durch den teilweisen oder völligen Verlust »der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen.«4
Im psychotherapeutischen und hypnotischen Kontext kann Dissoziation folgendermaßen verstanden werden: Die Außenwelt kann auf zwei verschiedene Arten wahrgenommen werden – einerseits aus der eigenen Perspektive, in Assoziation, oder aus der Außenperspektive, in Dissoziation. Die Art und Weise, wie wir unsere Außenwelt wahrnehmen, beeinflusst unser Denken und unsere Möglichkeiten, auf sie zu reagieren. Uns selbst nehmen wir vor allem in Assoziation wahr. Manchmal ist es hilfreich, wenn man sich selbst von außen betrachtet, also in Dissoziation.
Assoziation und Dissoziation sind in verschiedenen Zusammenhängen relevant, bei der Arbeit mit Traumatisierten, in Zusammenhang mit Schmerzen und beim Empfinden von Empathie in sozialen Situationen sowie vor allem bei kalter Aggression.
Bereits ab dem frühen Kindesalter (Bauer 2005), sicher aber ab dem Kindesalter sind Menschen fähig, beide Perspektiven einzunehmen und zwischen Assoziation und Dissoziation zu wechseln. Der Wechsel zwischen diesen beiden Blickwinkeln geschieht im Normalfall kontrolliert.
Assoziation wird in diesem Zusammenhang als Einssein mit sich und das Sich-als-Ganzes-Erleben definiert. Dissoziation kann verschiedene Ebenen betreffen (Tabelle 1):
•Körperteile (Schmerzkontrolle)
•Eigenschaften (Schattenseiten)
•Gedächtnisinhalte (Straftaten)
•Gefühle und Wahrnehmungen
Probleme können entstehen, wenn nicht beide Perspektiven eingenommen werden können, wenn man nicht zwischen den Blickwinkeln zu wechseln vermag oder wenn dies nicht kontrolliert geschieht.
Dissoziation ist das Gegenteil von Assoziation und beinhaltet den Mangel an Assoziation. Dissoziation kann in unterschiedlicher Weise erfolgen und auch für die Hypnotherapie oder allgemein für die Beratung und Therapie genutzt werden. Tabelle 1 fasst dies übersichtlich zusammen.
Verdrängung versus Dissoziation
Nach Phillips u. Frederick (2003) können beide Mechanismen folgendermaßen differenziert werden. Verdrängung wie auch Dissoziation sind unbewusste psychische Abwehrmechanismen:
•Verdrängung kann nach Breuer u. Freud (1895) als Verlagerung besonders schmerzhaften Materials ins Unbewusste verstanden werden. Dort wird es vergessen, beeinflusst jedoch weiterhin geistige Prozesse wie Denken, Fühlen und Verhalten.
Ganzer Körper, ganze Person | Video, Filmleinwand | Überblick Kontrolle von Emotionen, Schmerzen, kinästhetischen Wahrnehmungen |
Körperteil | Kälteunempfindlich machen Neben sich legen, als gehörte es nicht zu meinem Körper | Schmerzkontrolle |
Gefühle | Kognition ansprechen Körperliche Dissoziation spontanes »numbing« (Betäuben) bei akutem Trauma Nach Trauma Dissoziation durch Trigger erneut ausgelöst | Kontrolle »Schutz« Vermeidung |
Wahrnehmungsgebiete | Körperliche Dissoziation Andere Gebiete besonders ansprechen | Bearbeiten Kontrolle Spontan, z. B. Schutz davor, Elternstreit oder Kritik zu hören |
Persönlichkeitsaspekte | Betonung auf andere Ignorieren Sich mit Gestaltmethoden gezielt in entsprechenden Bewusstseinszustand versetzen | Bearbeiten Kontrolle Lebenssituation aushalten Schutz Selbstsicherheit |
Gedächtnisinhalte | Vergessen, ignorieren Sich mit Gestaltmethoden gezielt in entsprechenden Bewusstseinszustand versetzen | Bearbeiten Kontrolle Lebenssituation aushalten Schutz |
Tabelle 1: Verschiedene Formen der Dissoziation – wie sie durchgeführt werden können und wozu sie dienen
•Dissoziation hingegen wird nach Janet (1904) als seitliches Entschwinden aus dem Bewusstsein definiert. Dabei kommt es zu einer Trennung zwischen dissoziiertem Erlebnis und dem Teil des Geistes, der weiß und erinnert.
Beispiele dissoziativer Phänomene:
•Melodie im Kopf, auf die man keinen Einfluss hat
•Tagträumen
•Versunkenheit in Lektüre
•Beteiligt bei automatischen Handlungen wie z. B. Autofahren
Dissoziative Störungen und ihre Symptome
In der ICD-10 werden folgende Symptome aufgezählt:
•Amnesie: Gedächtnisverlust
•Fugue: Entschlossene und zielgerichtete Reise in einem Zustand dissoziativer Amnesie, über den alltäglichen Aktionsradius hinaus. Trotz späterer Amnesie kann das Verhalten dabei völlig normal erscheinen.
•Stupor: Beträchtliche Verringerung oder vollständiges Fehlen von Willkürbewegungen und Sprache sowie normalen Reaktionen auf Licht, Geräusche und Berührung.
•Trance und Besessenheitszustände: Zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung
•Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung: Veränderung oder Verlust von Empfindungen oder Bewegungsfunktionen.
•Bewegungsstörungen: Teilweiser oder vollständiger Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Gliedmaßen
•Krampfanfälle: Ähnlich wie epileptische Anfälle
•Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen: Unterschiedliche Verluste der verschiedenen sensorischen Modalitäten
•Gemischte, sonstige oder nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen
Das DSM-5, die 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) teilt einige der hier beschriebenen Störungsbilder anders ein (Falkai u. Wittchen 2015). Alle dissoziativen Störungen mit körperlichen Aspekten (motorische Symptome und Ausfälle, Anfälle und Krämpfe, sensorische Symptome und Ausfälle) werden im DSM-5 den somatischen Belastungsstörungen zugeordnet und dort als Subtyp der Konversionsstörung behandelt. Durch diese Einteilung in die somatischen Belastungsstörungen stellt das DSM-5 die Symptomatik in den Vordergrund. Trotzdem beinhalten aber die Kriterien den Zusammenhang mit Konflikten oder anderen Belastungen.
Die ICD-10 berücksichtigt den belastenden Auslöser stärker. (Er ist ja Teil der generellen Kriterien der Kategorie.) Sie fasst die dissoziativen Störungen mit starken somatischen Symptomen (z. B. die dissoziative Sensibilitätsstörung) mit den weniger körperlich betonten (z. B. Amnesie) in einer Kategorie zusammen.
Im DSM-5 gelten nur die weniger körperlich betonten Störungen der ICD-Kategorie F44 als dissoziativ: die Amnesie, die Fugue und die Identitätsstörung (in der ICD-10 als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet). Dazu kommt die Depersonalisationsstörung, die wiederum in der ICD-10 in einer anderen Kategorie verortet wird – bei »F48: sonstige neurotische...