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E-Book

TEXT + KRITIK 222 - Michael Lentz

AutorJan Wilm
Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl110 Seiten
ISBN9783869167947
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Ob in seinen 100 Liebesgedichten 'Offene Unruh' (2010) oder im jüngsten Roman 'Schattenfroh' - für Michael Lentz (*1964) und für seine Figuren und Stimmen ist die Literatur die zentralste Erfahrungs- und Reaktionsform der Kultur. Michael Lentz betrat zuerst als Lyriker und Anagramm-Artist die deutschsprachige Literaturbühne. Mit seiner Erzählung 'Muttersterben' gewann er 2001 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit den 1980er Jahren entstand ein umfangreiches Werk aus Lyrik, Theaterstücken, Hörspielen, musikalischen Arbeiten, literaturwissenschaftlichen Texten sowie den Romanen 'Liebeserklärung' (2003), 'Pazifik Exil' (2007) und 'Schattenfroh' (2018). Lentz' Schaff en durchtaucht sprachgewaltig und experimentell die Tiefen menschlicher Gefühle, die Verschlingungen von Trauer, Liebe und Verlusterfahrung, und bleibt dabei voller Ironie und Humor. Die Beiträge des Hefts durchwandern die Sprach- und Existenzräume des Lentz-Kosmos, schöpfen aus den Einfluss- und Voraussetzungsfaktoren seines Werks und widmen sich der gesamten Bandbreite seines enormen Schaffens zwischen Lyrik, Epik, Dramatik und Musik. Die kritischen Beiträge werden ergänzt durch lyrische Korrespondenzen und Reaktionen.

Jan Wilm arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, sowie als Übersetzer und Literaturkritiker. Er ist Mitherausgeber von 'Samuel Beckett und die deutsche Literatur' (2013) und 'Beyond the Ancient Quarrel. Literature, Philosophy, and J.M. Coetzee' (2017), sowie Autor von 'The Slow Philosophy of J.M. Coetzee' (2016).

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Leseprobe

Susanne Komfort-Hein

»Alles Camouflage. Kurzes Leben, lange Kunst«
Gegenwärtigkeit im »Pazifik Exil«


»Amerika existiert nicht«1


»Die sollen mich schon auf hundert Meter wittern. Eindeutig Brecht.« – Irgendwo zwischen Santa Monica und Pacific Palisades in Südkalifornien schreitet der deutsche Autor die »geruchlose Unendlichkeit der Straßenfluchten«2 demonstrativ zu Fuß ab, ungewaschen, mit Eigelbfleck auf dem Hemd und Hausschuhen an den Füßen. Bertolt Brecht, den es ins amerikanische Exil verschlagen hat, befindet sich soeben auf dem Weg zu einer Cocktailparty, vorbei an der »Erniedrigungsarchitektur« der immer gleichen Fassaden spätkapitalistischer »Monotonie«. Zur Tatenlosigkeit verdammt, wünscht er sich auf seinem Weg das hier und jetzt (noch) nicht Erfüllbare: »Man müsste Musik bei sich tragen können. Oder unterwegs telefonieren.«3 Er wolle »den Amerikanern mal so richtig (…) zeigen, was es heißt, ein weltberühmter deutscher Dramatiker zu sein, der zurzeit wohl bedeutendste Dramatiker überhaupt. Wenn alle meine Stücke in Amerika gespielt würden, wäre es um Amerika besser bestellt.«4 Seinen buchstäblich langen Marsch tritt er als kulturpolitische Demonstration und als Kampf um Sichtbarkeit, um Distinktionsgewinn in eigener Sache an, »ein Zufußgehen gegen Amerika (…). Wer nicht zu Fuß geht, ist Amerikaner.«5

Auf diesem langen Marsch gegen den Strom des american way of life ist die Sache mit den Hausschuhen jedoch nicht geplant – eine peinliche Nachlässigkeit; aber Brecht weiß sie sofort in eine produktive Haltung zu verwandeln. Er »dankt es seinen Hausschuhen, (…), dass ihm der Shakespeare jetzt einfällt, den wird er die nächsten Tage mal auseinandernehmen, ob vielleicht noch anderes darin brauchbar ist. Man muss das Zeug nehmen und umschreiben, denkt Brecht. Das erzähle ich dem Eisler, und damit er’s glaubt, lasse ich die Hausschuhe an.«6 Darin mag man sofort die Anspielung auf ein Brecht’sches Verfahren entdecken, das unter anderem dessen Shakespeare-Bearbeitung bestimmte: sich das Überlieferte »rein als Material« anzueignen, um ihm »den Stil unserer Epoche aufzudrücken«.7 Die Liaison von pampigem Protest in Pantoffeln und renitentem Remix rezipierter literarischer Tradition hat den Mann allerdings längst selbst im Griff, und damit auch wir es glauben, behält er seine Hausschuhe gleich an, für den Sprung in den schonungslos metafiktionalen Kommentar seines eigenen »Textleben(s)«8 in Michael Lentz’ Roman »Pazifik Exil« (2007). Dieser Brecht fällt nicht nur aus seiner Zeit, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch aus dem Rahmen seines so prominenten überlebensgroßen Bildes des modernen Klassikers. Das Verfahren zur Demontage der Brecht-Legende liefert er an jenem Schauplatz selbst – jedoch zugleich ebenso den Versuch, sich in einer die eigene Existenz überdauernden Legende ins Werk zu setzen. Die Ahnung, »dass auf nichts so sehr Verlass ist wie auf die Unwägbarkeit. Heute König, morgen tot«,9 mobilisiert seinen unbedingten Wunsch, wenigstens symbolisches Kapital für das literarische Nachleben anzuhäufen. So wähnt er, der im Gegensatz etwa zu Thomas Mann in der kalifornischen Exilkolonie nur wenig Anerkennung findet und finanzielle Sorgen hat, die zukünftige Bedeutung seines Werkes in einem Stadium exklusiver zeitgenössischer Latenz: »(…) die Deutschen hier und ihre Literatur, das ist doch alles nur ein Provisorium, auf ein Später gerichtet, und später wird man das ganze Zeug nicht mehr gebrauchen können, ich aber, ich schreibe fürs Nachkriegsdeutschland, da wird man meine Stücke brauchen, man wird sie erkennen.«10 Brecht selbst hatte einst im finnischen Exil, angesichts zunehmender Isolierung und ungewisser Dauer seines Aufenthalts in der Fremde, die aus dem Zweifel geborene Maßnahme erwogen, »Werken eine lange Dauer verleihen zu wollen«, um kritisch auf die »Vergänglichkeit der Begriffe und Wahrnehmungen seiner eigenen Zeit«11 zu reagieren, mithin über die Historisierung der eigenen Gegenwart schon die zukünftige Durchsetzungsfähigkeit seines Werkes zu kontrollieren. Der seichte Smalltalk einer kalifornischen Grillparty droht im »Pazifik Exil« Brechts Gewissheit über die Zukunft seines ideologischen Kampfes mit der Erdanziehungskraft affirmativen kulinarischen Konsums zu erschüttern: »Randy, der Millionär, der so phantastische Steaks braten kann, der ein tolles Auto fährt«, sich in kulturkritischen Belangen aber ahnungslos zeigt, meint zu wissen: »Das Einzige, das dir in deinem Nachkriegsdeutschland wirklich helfen würde, werden nicht deine Stücke sein, sondern meine Steaks. Aber die gibt es nur hier, lieber Bert.«12 Die »beglückende(n) Steaks«13 lassen diesen Brecht das Undenkbare denken: Das so widerständige »Großkapitalismusamerika, in dem alles verschwindet und als Erstes der eigene Anspruch«,14 möge doch so sein wie dieser fleischliche Genuss. Im Partygespräch bleibt seine Belehrung über den zeitgenössischen Hollywoodfilm als »Opium für das Volk« nämlich ebenso unerhört wie die Kampfansage: »Ich werde den Hollywoodfilm revolutionieren.«15 Brecht hat Hollywood nicht revolutioniert, das wissen wir heute – und so nimmt er im »Pazifik Exil« für einen Augenblick auch die Gestalt jenes Bischofs von Ulm an, der in Brechts Gedicht über den »Schneider von Ulm« bezweifelt, dass je ein Mensch wird fliegen können.16 Der historisierende Brecht’sche Verfremdungseffekt, der das Wissen und den Glauben einer jeweiligen Gegenwart bereits unter dem Vorzeichen ihrer Vergänglichkeit zu lesen gibt, scheint ihm förmlich selbst auf den Leib geschrieben zu sein. In seiner fiktional noch einmal vergegenwärtigten Existenz – und nicht nur in seiner – scheint bereits ein Futur antérieur auf: Es wird gewesen sein.

Brecht und mit ihm das Who is Who der deutschen Künstler und Intellektuellen im kalifornischen Exil der 1940er Jahre führen in Lentz’ Roman ein literarisches Nachleben, in dem sich nicht nur die Wiedererkennungseffekte der vermeintlich bekannten Historie bisweilen bis zur Unkenntlichkeit am Spiel der Fiktion brechen. Lesend werden wir zu Zeugen des literarisch noch einmal vorgefundenen wie gnadenlos erfundenen Exils am Pazifik, einer Melange aus überlieferten Fakten und Fiktionen. Der Roman gibt sich als eine kontrafaktisch aktualisierende Umschrift bio- und historiografischen Wissens und stellt seine kreativ konstruktive Erinnerung an das Exil am Pazifik ganz offensiv aus: Auf besondere Weise führt er die Nachträglichkeit im Nachleben des Gewesenen beziehungsweise Gegenwärtigkeit als dessen Gegenwart aus zweiter Hand vor Augen.

Lentz’ Methode geht hier gewissermaßen auf Stimmenfang: Geschichte löst sich in Geschichten auf, zu einer episodischen, keiner Diachronie eines Plots folgenden Sprachflut der Mehrstimmigkeit, zu Dialogen und inneren Monologen der Protagonisten, immer wieder unterbrochen von einer anonymen Erzählerstimme, die nirgends als archimedische Instanz wirkt. Die Montage ist angereichert mit Zitaten aus den eigenen Aufzeichnungen der exilierten Künstler, aus deren Briefen und literarischen Texten sowie aus dem Resonanzraum der abendländischen Literaturgeschichte.

Mit dieser Offenheit korrespondiert ein Erzählen im Präsens, das jeden Moment von Gegenwart als einen im fortwährenden Transit der Zeit auch schon wieder vergangenen einfängt und seinen fiktionalen Status insofern betont, als die Ereignisse dem Erzählen nicht vorausgehen.17 Indem die Zeit des Erzählten und die des Erzählakts zusammenschießen, Gleichgegenwärtigkeit behaupten, fehlt die Übersicht; die einzelnen episodischen Kapitel erscheinen als fragmentarisch unverbundene, ungleichzeitige Gegenwarten. Damit vollzieht der Text in seinem Verfahren, wovon er spricht: Entortung und Auflösung von Identitäten. Vor allem geschieht das mit einer Mimesis an die Wahrnehmungs- und Imaginationsprozesse der Figuren. Diese treten im narrativen Diskurs in Konkurrenz zueinander, sind einander förmlich ausgesetzt und werden zugleich in ihrer geheimen Verwandtschaft sichtbar: als monadische Welt, deren Gegenwart sich selbst nie gegenwärtig wird. Der Effekt von Unmittelbarkeit des inneren Monologs erscheint hier als Unvermittelbarkeit zwischen Innen- und Außenwelt. Wohl kaum eindrücklicher ließe sich das Echo der Form in einer allseits artikulierten Weltlosigkeit einfangen: »Ich bin hier nur transit, sagt sich Brecht, und dieser Geschmack ist auch nur flüchtig.«18 Oder in den Worten, die Arnold Schönberg im Roman abgelauscht werden: »Ist denn nicht immer von allem, das wir erblicken, immer nur, genau im Moment des Erblickens, der Tod da, der Rückblick?«19 Sterben und Tod, der Sturz aus der Zeit und die Unwiderruflichkeit des Verlusts, stehen im Fokus dieses Exilantenlebens. »Escape to Life«20 – um den Titel einer berühmten Dokumentation von Erika und Klaus Mann über die nach Amerika geflohenen deutschen Künstler und Wissenschaftler zu zitieren – hadert hier mit dem Eintritt in ein neues Leben, erschöpft sich in vergangener Größe und vermag in der Gegenwart nicht Fuß zu fassen: »Die Gegenwart schaut einem beim Sterben zu.«21 Das Erzählen im Präsens fordert gleichsam auch die das Geschehen konstruierende Lektüre der Leser zum Schritthalten mit der Sterbensangst, mit der Angst vor dem Vergessenwerden heraus; das Erzählen schaut beim Weltverlust zu und verweigert die retrospektive Wiederbelebung einer schon vielfach erzählten Geschichte des kalifornischen Exils, indem es Entmythisierung von...

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