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E-Book

Verloren in der Schule

Wie wir herausfordernden Kindern helfen können

AutorRoss W. Greene
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783456759807
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Strafarbeiten, Nachsitzen, Verweise - die üblichen Strategien zur Disziplinierung von schwierigen Kindern und Jugendlichen in unseren Schulen haben ein zentrales Manko: Sie funktionieren nur begrenzt oder gar nicht. Basierend auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften entwickelt Ross W. Greene einen neuen Ansatz, wie Eltern und Lehrer besser mit herausfordernden Kindern umgehen können. Greene legt anschaulich dar, dass manipulierendes, störendes oder destruktives Verhalten von Kindern in der Schule hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass ihnen die entscheidenden Fähigkeiten für angepasstes Verhalten fehlen. Ross W. Greene zeigt Eltern und Lehrern einen praktischen und einleuchtenden Weg, wie sie konstruktiv mit herausforderndem Verhalten umgehen können - bevor Kinder durchs Raster fallen. Die zweite Auflage wurde überarbeitet und aktualisiert: Es wurde unter anderem das Beurteilungsinstrument des in diesem Buch beschriebenen Modells überarbeitet und mit umfangreicheren Hilfestellungen für seine Anwendung versehen, zudem finden sich neue Vorgaben zum schriftlichen Formulieren ungelöster Probleme sowie Strategien zum 'Nachbohren', die Betreuungspersonen durch den Prozess der Informationsbeschaffung führen.

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Leseprobe

Kapitel 1
Die harte Schule des Lebens


Es war Anfang Oktober, und die Schüler in Frau Schmitts 6. Klasse arbeiteten fleißig an einem Gemeinschaftskundeprojekt – alle außer Adrian. Frau Schmitt hatte schon verschiedentlich Probleme mit ihm gehabt, vor allem, was seine Mitarbeit bei Klassenprojekten betraf. Dass Adrian eindeutig nicht an seiner Gemeinschaftskundeaufgabe arbeitete, war unangenehm genug; als er nun aber auch noch zwei Mitschüler ablenkte, sah Frau Schmitt sich zum Eingreifen gezwungen und ging zu seinem Tisch hinüber.

„Adrian, gibt es ein Problem?“, flüsterte Frau Schmitt ihm zu. „Du störst nämlich deine Nachbarn.“

Adrian sah seine Lehrerin an. „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“

„Adrian, die Arbeitsanweisungen stehen an der Tafel. Warum weißt du dann nicht, was du machen sollst?“

Die beiden Schüler, die neben Adrian saßen, kicherten.

„Ich weiß es eben nicht!“

Inzwischen sahen schon die meisten Schüler zu ihnen hinüber.

„Zurück an die Arbeit, alle!“, ließ sich Frau Schmitt vernehmen und wandte sich wieder Adrian zu: „Adrian, lass uns an meinem Pult darüber reden, damit wir deine Mitschüler nicht stören.“ Sie begann nach vorn zu gehen, doch Adrian rührte sich nicht vom Fleck. Frau Schmitt drehte sich wieder um.

„Adrian, komm bitte nach vorn an mein Pult.“

„Ganz bestimmt nicht“, murmelte Adrian vor sich hin, doch laut genug, um erneut die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler auf sich zu lenken.

„Wie bitte?“

Adrian wurde rot. „Ich komme nicht nach vorn.“

Jetzt wartete die ganze Klasse gespannt auf die Reaktion der Lehrerin.

„Adrian, wenn du nicht augenblicklich nach vorn kommst, muss ich dich zu Herrn Mittelstedt schicken.“

„Da gehe ich auch nicht hin.“

„Adrian, komm sofort hierher!“

„Ich denke gar nicht daran.“

Frau Schmitt ging zu einer der Schülerinnen hinüber, die in der Nähe der Tür saßen: „Hannah, geh bitte ins Sekretariat und richte Frau Westermann aus, dass wir hier in der Klasse ein Problem haben und dass Herr Mittel­stedt unbedingt herkommen soll.“ Frau Schmitt hoffte, die Drohung mit dem stellvertretenden Schulleiter würde Adrian dazu bewegen, seine Haltung noch einmal zu überdenken.

Pflichtbewusst sprang Hannah von ihrem Stuhl auf und lief ins Sekretariat. Frau Schmitt stellte sich im Gang auf und wandte sich an die übrigen Schülerinnen und Schüler. „Ich möchte das nicht noch einmal sagen müssen: Macht euch wieder an eure Aufgaben.“

„Was gibt es?“, fragte Herr Mittelstedt, als er – ein wenig außer Atem – ankam. Herr Mittelstedt war seit zwölf Jahren stellvertretender Schul­leiter (und hatte davor 16 Jahre lang Naturwissenschaften unterrichtet); im Kollegium war er als sympathischer, ausgeglichener Mensch be­­kannt.

„Adrian hat die Klasse gestört, also habe ich ihn gebeten, nach vorn zu kommen. Er hat sich geweigert. Daraufhin habe ich ihn aufgefordert, sich in Ihr Büro zu begeben, was er ebenfalls abgelehnt hat. Und da sitzt er nun.“ Frau Schmitt zeigte in Adrians Richtung.

Herr Mittelstedt blickte über den Rand seiner Brille hinweg in die Klasse.

„Mal sehen, was ich ausrichten kann.“

Er ging zu Adrian hinüber, beugte sich zu ihm und sagte freundlich: „Adrian, ich höre, wir haben hier ein Problem. Warum sprechen wir nicht in meinem Büro darüber?“

Da explodierte Adrian. Er sprang von seinem Stuhl auf, wobei er mit seinem Kopf Herrn Mittelstedts Unterkiefer traf. „Ich komme ganz bestimmt nicht mit in Ihr verdammtes Büro!“, schrie er und rannte zur Tür. Die anderen Schüler hielten den Atem an. Von dem Schlag gegen seinen Kiefer noch ganz benommen, versuchte Herr Mittelstedt, Adrian festzuhalten. Vergeblich. Adrian schubste Frau Schmitt beiseite und schrie: „Ich hasse euch wie die Pest!“ Als er an Hannahs Pult vorbeikam, platzte er heraus: „Und dich mach ich kalt!“ Hannah sprang zurück, während Adrian aus dem Klassenzimmer stürzte.

Er lief den Gang hinunter, der zum vorderen Schuleingang führte, und aus dem Gebäude hinaus, wobei er von Herrn Mittelstedt verfolgt wurde. Als Herr Mittelstedt am Rektorat vorbeikam, rief er der Sekretärin, Frau Westermann, zu: „Holen Sie Frau König!“ Frau Westermann eilte in das Büro von Frau König, der Schulleiterin, um ihr zu sagen, dass Adrian das Schulgebäude gerade verlassen hatte und Herr Mittelstedt ihm auf den Fersen war. Frau König stürzte aus ihrem Büro und nahm nun ihrerseits die Verfolgung der beiden auf. Herr Seiffert, einer der Sportlehrer, hörte vom Kopierraum aus die Aufregung und sprintete ebenfalls hinter Adrian her.

Herr Mittelstedt und Herr Seiffert fanden Adrian auf dem Schulparkplatz, hinter einem Auto versteckt, und brachten ihn gewaltsam wieder in das Schulgebäude zurück.

Die beiden Männer verfrachteten Adrian in Frau Königs Büro in einen Sessel. „Rufen Sie seine Mutter an“, wies Frau König, als sie schwer atmend in ihr Büro zurückkehrte, die Schulsekretärin an.

Dann sah sie Adrian, der noch immer von Herrn Seiffert und Herrn Mittelstedt festgehalten wurde, streng an. „Wirst du in diesem Sessel sitzen bleiben, auch ohne dass die beiden dich festhalten?“

Adrian kämpfte gegen den festen Griff der beiden Männer an. „Sagen Sie diesen Fieslingen, sie sollen mich loslassen.“

„Sie werden dich loslassen, wenn du dich beruhigst und mir versprichst, dort sitzen zu bleiben, bis deine Mutter kommt.“

Adrian, der ganz rot im Gesicht angelaufen war, versuchte, sich dem Griff der beiden Männer zu entziehen; die Tränen strömten nur so über sein Gesicht. „Sagen Sie Ihnen, sie sollen mich loslassen!“

Frau König war noch immer ganz außer Atem. „Sie werden dich loslassen, wenn du dich beruhigst. Ein solches Benehmen wird hier an unserer Schule nicht geduldet.“

Adrian kämpfte noch immer gegen die beiden Männer. „Jetzt beruhig’ dich doch, Adrian“, versuchte Herr Mittelstedt ihn trotz der Schmerzen in seinem Kiefer zu besänftigen.

„Leck mich!“, erwiderte Adrian, setzte sich nun aber schon nicht mehr ganz so heftig zur Wehr.

„Adrian, auch diese Ausdrucksweise und diesen Tonfall dulden wir an unserer Schule nicht“, ermahnte ihn Frau König.

„Sie können mich auch mal!“, erwiderte Adrian und starrte seine Schulleiterin an. Seine Gegenwehr hatte weiter nachgelassen.

„Komm schon, Adrian, entspann dich“, sagte Herr Mittelstedt. „Ich habe keine Lust, dich festzuhalten.“

„Dann lassen Sie mich doch los!“ Adrian schäumte vor Wut. „Mein Arm tut schon ganz weh.“

„Wir wollen dir nicht weh tun“, meinte Herr Mittelstedt, „aber wir können es nicht zulassen, dass du wieder aus der Schule rennst. Das ist gefährlich. Bitte beruhig’ dich doch, damit wir dich loslassen können.“

Zehn Minuten später erschien Frau Liebertz, Adrians Mutter: „Was ist hier los?“, wollte sie ganz außer Atem wissen.

„Die haben mir weh getan“, rief Adrian und funkelte Frau König an.

Frau Liebertz warf einen Blick auf Adrians Arme, sah dann Frau König an und verlangte eine Erklärung. Frau König war eine Beamtin, die gern Tacheles redete und sich etwas darauf zugutehielt, dass sie ihren Laden fest im Griff hatte und dafür sorgte, dass die ihr anvertrauten Kinder eine gute Schulausbildung erhielten.

„Er hat eine seiner Mitschülerinnen bedroht“, erwiderte die Schulleiterin. „Das ist einfach nicht tragbar. Anschließend hat er das Schulgebäude unerlaubt verlassen und musste unter Einsatz körperlicher Gewalt in die Schule zurückgebracht werden. Deshalb sind seine Arme leicht gerötet.“

Frau Liebertz war bemüht, ihre Stimme nicht zu erheben. „Adrian, du hast eine Mitschülerin bedroht?“

„Ich habe das nicht so gemeint.“

„Warum bist du aus der Schule gerannt?“, fragte Frau Liebertz.

„Ich habe nicht gewusst, was ich bei der Gemeinschaftskundeaufgabe machen sollte“, brummelte Adrian.

Frau Liebertz begriff nicht, was er meinte. „Was hast du nicht gewusst?“

„Er hat sich wohl geweigert, an seiner Aufgabe zu arbeiten“, meinte Herr Mittelstedt. „Frau Schmitt hat ihn daraufhin gebeten, zu ihr ans Lehrerpult zu kommen, was er ebenfalls verweigert hat. Daraufhin hat sie ihn aufgefordert, sich ins Sekretariat zu begeben, und auch dieser Aufforderung ist er nicht nachgekommen. Anschließend habe ich versucht, mit ihm zu reden, woraufhin er aus dem Klassenzimmer gestürmt ist.“

„Ich wusste nicht, was ich machen sollte!“, beharrte Adrian.

„Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass Adrian erst Herrn Mittelstedt einen Kinnhaken verpasst und Frau Schmitt danach aus dem Weg geschubst hat“, fügte Frau König hinzu. „Das nennt man einen tätlichen Angriff, und so etwas wird an dieser Schule erst recht nicht geduldet.“ Adrian sackte auf seinem Stuhl zusammen und murmelte wieder: „Das war ein Unfall.“

„Adrian, das glaube ich einfach nicht …“, meinte seine Mutter. Tränen traten in Adrians Augen.

„Absicht hin oder her: Adrian wird die nächsten fünf Tage zu Hause verbringen“, schaltete sich Frau König ein.

Frau Liebertz sah die Schulleiterin mit großen Augen an: „Wie meinen Sie das?“

„Ich meine damit, dass er für die nächsten fünf Tage von der Schule suspendiert wird. Diese Art von Verhalten dulden wir an unserer Schule nicht....

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