Matthäus’ Hocker
Donald Trump wohnt im Weißen Haus, die Europäische Union löst sich auf, Wladimir Putin ist der Pate schlechthin, und Matteo Salvinis Aufstieg hat gerade erst begonnen. Mauern werden zahlreicher, Brücken stürzen ein, Häfen verschließen sich den Heimatlosen und Zollkontrollen kommen wieder in Mode. Der Rückzug der freiheitlichen Demokratie, die als globales Projekt angetreten war, lässt sich allerorten mit bloßem Auge beobachten. Wir sind grandios gescheitert. Wir, die fortschrittlichen Intellektuellen, Vorkämpfer des Humanismus, Befürworter der offenen Gesellschaft, Verfechter der Menschenrechte und kosmopolitischen Bürger, sind unfähig, die Welle des Nationalismus und Autoritarismus aufzuhalten, die derzeit über unsere Gesellschaften hereinbricht.
Wie alte Pfarrer, denen die Abkehr der Gläubigen erst recht als Bestätigung ihrer kritischen Weltsicht erscheint, predigen wir weiterhin vom Irrweg der Massen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, wir selbst könnten an einem bestimmten Punkt in die Irre gegangen sein. Wir schimpfen, wir twittern, wir posten, wir demonstrieren. Wir zweifeln schnell an anderen, sind aber selbstgewiss. Obwohl sich ein Debakel an das andere reiht, wollen wir nicht hinterfragen, welche Fehler dazu geführt haben, dass wir heute nicht mehr gehört werden.
Derartiger Hochmut wirkt in ruhigen Zeiten bloß lächerlich. Im Auge des Sturms jedoch kommt er einem Suizid gleich. Um die künftigen politischen und kulturellen Schlachten zu gewinnen, müssen wir zuallererst begreifen, warum wir die zurückliegenden verloren haben. Um die Demagogen zu bekämpfen, die derzeit Aufwind haben, müssen wir die Gründe ihres Erfolgs in der Leere suchen, die uns umgibt und oft auch innewohnt. Um aus der Asche wiedergeboren zu werden, müssen wir erst sterben.
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Beginnen wir die Reise ins Herz der gegenwärtigen Krise unserer Demokratien in der Kirche. Nicht etwa, um den Himmel um Hilfe anzuflehen, sondern um ein Gemälde Caravaggios zu bewundern. Es befindet sich in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom und heißt Matthäus und der Engel.
Auf den ersten Blick ist es unter den Gemälden des rebellischen Malers das harmloseste. Es zeigt keine als Madonna verkleidete Hure, keinen lasziven Jüngling, keinen abgehackten Kopf. Nicht einmal die schmutzigen Füße der vor der Madonna di Loreto niederknienden Pilger, die die Bischöfe damals arg schockierten. Matthäus sieht aus, als sei er gerade dem Bad entstiegen. Er trägt eine schöne, orangerote Toga. Ein unauffälliger Strahlenkranz weist ihn als würdigen antiken Philosophen aus. Mit einem Knie auf einen hölzernen Hocker gestützt schreibt er das Evangelium auf. Diktiert wird es ihm von einem Engel, der — für Caravaggio eine Ausnahme — seine Rolle als asexueller Abgesandter Gottes perfekt erfüllt. Stofffalten und Blickachsen bilden ein harmonisches Zusammenspiel, ohne einander zu kreuzen. Alles ist an seinem Platz. Alles hängt mit allem zusammen. Alles strebt nach oben.
Wer die Szene jedoch aufmerksam betrachtet, sieht, dass hinter der scheinbaren Ruhe etwas Beunruhigendes lauert. Fünf oder zehn Minuten lang fragt der Betrachter sich, woher angesichts dieser Anmut das ungute Gefühl kommt. Dann merkt er, dass der Hocker, auf den Matthäus sein Knie stützt, mit einem Bein im Leeren steht und jeden Moment umzukippen droht. Je länger man ihn betrachtet, umso mehr sieht man ihn sich bewegen. Man merkt, dass der alte Heilige jeden Moment auf den Betrachter stürzen und dabei alles mitreißen könnte — den Engel und den Himmel. Und Gott. Dieser wacklige Hocker auf dem scheinbar so friedlichen Bild kehrt den Sinn des gesamten Werks um: Die Harmonie war nur eine Illusion. Alles in der Schöpfung erweist sich als fragil und brüchig — selbst die heiligste Szene.
Der Hocker, der die kosmische Ordnung sprengt, ist Caravaggios Signatur. Er ist auch das perfekte Symbol für die liberale Demokratie als ein politisches System, das, wie Matthäus’ Knie, auf wackliger Grundlage ruht. Bereits der Begriff selbst legt den strukturellen Widerspruch offen: »Demokratie« bezeichnet die Herrschaft des Kollektivs über das Individuum, den Primat des Gemeinwesens. Das Adjektiv »liberal« aber steht in der entgegengesetzten philosophischen Tradition, indem es dem Individuum den Primat gegenüber dem Kollektiv zuspricht. Demokratie impliziert eine zentripetale Bewegung, eine sich stets wiederholende Suche nach Einheit. »Liberal« verweist auf die gegenteilige, zentrifugale Bewegung, die ständige Bekräftigung der Vielheit. Die Dynamik der freiheitlichen Demokratien entsteht aus dieser explosiven Begegnung des demokratischen und des liberalen Denkens.
Und gerade in ihrer hybriden Natur liegt die Kraft der liberalen Demokratie. Das permanente Oszillieren zwischen den beiden Polen ermöglicht unseren Gesellschaften, frei zu sein und sich weiterzuentwickeln. Sie leben im Rhythmus des Hin und Her zwischen zwei Extrempunkten: der kollektivistischen Utopie auf der einen und der maximalen gesellschaftlichen Individualisierung auf der anderen Seite. Fällt dieses Hin und Her weg, stürzt Matthäus’ Hocker um und mit ihm die liberale Demokratie. Wenn der Widerspruch, der unsere Systeme antreibt, nicht mehr dynamisch ist, wenn also einer der Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch — es kommt zur Krise. Genau das geschieht heute: Der Individualismus hat die Überhand gewonnen. Das Ungleichgewicht ist so groß, der Kollektivismus so schwach, dass der Ausgleich nicht mehr funktioniert. Matthäus’ Hocker kippt. Und es gelingt uns nicht, ihn wieder aufzurichten.
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Die folgenden Seiten mögen von einer gewissen Radikalität gekennzeichnet sein. Dennoch sind sie vor allem von der Weigerung geleitet, der Versuchung der Dogmatik in irgendeiner Weise nachzugeben. (Diese Versuchung lässt sich so definieren: Meine Ideen gelten überall, für alle und ein für alle Mal.) Stattdessen also erheben meine Gedanken nicht den Anspruch, ewige Wahrheit zu sein, sondern versuchen, auf die spezifischen Probleme unserer Zeit zu antworten. Politische Theorien sind nicht in jeder Epoche und an jedem Ort gleichbedeutend: Liberal sein war 1970 in Moskau oder Peking heldenhaft, bedeutet aber 2018 in Paris oder San Francisco etwas völlig anderes.
Ein Dogmatiker ignoriert die Fakten. Im Sinne seiner eigenen Logik strebt er stets nach vorn und jedes Hindernis erscheint ihm als paradoxe Bestätigung der eigenen Prinzipien. Im Gegensatz dazu setzt die Stabilisierung von Matthäus’ Hocker die Suche nach dem von Aristoteles so geschätzten goldenen Mittelweg voraus. Wenn die Umstände es erfordern, kann dieses — von schwammigem Zentrismus weit entfernte — Mittelmaß durchaus radikal werden. Es fordert von uns Ideen, Haltungen und Projekte angesichts der Probleme unserer Zeit und unserer Umgebung. Es verlangt, dass wir stets die beiden folgenden Fragen im Kopf haben: In welche Richtung und wie weit neigt sich der Hocker (die Diagnose)? In welche Richtung und wie weit muss man gegenhalten, damit der Hocker nicht umkippt (das Heilmittel)?
Mit den Antworten auf diese beiden Fragen habe ich lange gezögert. Das Folgende ist für mich in keiner Weise spontan oder von vornherein klar. Ich musste verlernen, was ich zu wissen glaubte, und musste aushalten, dass die Fakten meine Gewissheiten durcheinanderbrachten. Meine intellektuelle Ausbildung kann als »liberal« bezeichnet werden. Kant war mir leichter zugänglich als Hegel. Ich betrachte nicht Marx, sondern Montaigne als meinen absoluten Bezugspunkt. Voltaire habe ich mit größerer Begeisterung gelesen als Rousseau. Der philosophische Liberalismus, den ich studiert und so geliebt habe, war ein Nachdenken über Grenzen, ein Versuch, die politischen, religiösen, ökonomischen, öffentlichen und privaten Sphären, Macht und Wissen voneinander zu trennen. Er war der Kontrapunkt zur Hybris — zur Entgrenzung — der Könige und Propheten.
Doch was geschieht heute im Namen dieses Liberalismus?
Das Gegenteil. Das exakte Gegenteil.
Wir können zusehen, wie die Grenzen verwischen und die Hybris triumphiert. Wir sehen, wie multinationale Konzerne die Gesetze der Nationen zurückweisen und ihnen eigene Gesetze aufzwingen. Wir sehen, wie die mit öffentlichen Geldern geretteten Banken ihre Konten und Fonds in Steuerparadiesen verstecken. Wir sehen, dass der Wettbewerb nicht mehr funktioniert, weil niemand dessen Regeln durchsetzt. Wir sehen, wie Wirtschaftsgrößen Wahlen gewinnen mit Slogans wie: »Ich habe Erfolg im Leben — lassen Sie mich nun Ihr Leben regeln.« Man hat...