Freital: Ein Spalt entsteht
Der Typ steht da mit seiner Fahne, als wolle er sie gleich vor den Augen eines Millionenpublikums in die Mondoberfläche rammen. Dazu dürfte es allerdings an einigem mangeln: Statt eines Astronautenanzugs trägt dieser grimmig dreinschauende Hüne ein graues Jäckchen zum grauen Haar. Und er steht auch nicht auf dem staubigen Untergrund des Mondes – sondern im sächsischen Freital, in einer Straße namens Am Langen Rain.
Das Sonderbarste an dieser Erscheinung aber ist die Fahne. Die spaltet eine schnurgerade Diagonale in zwei gleich große Dreiecke: auf der einen Seite die russischen Nationalfarben, auf der anderen drei Balken in Schwarz-Rot-Gold. Könnte ein Symbol der deutsch-russischen Völkerverständigung sein. Verständigung steht an diesem Sommerabend allerdings nicht auf der Tagesordnung, und um Russland geht es schon gar nicht.
Stattdessen brüllen die Leute rund um den Fahnenmann: »Kriminelle Ausländer – raus, raus, raus!« Das gilt der anderen Gruppe, die keine fünfundzwanzig Meter entfernt steht. Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten. Ein Mann mit Bierbauch und Spiegelreflexkamera schiebt sich in die erste Reihe, fotografiert die Flaggentruppe, von denen einige mit ausgestrecktem Mittelfinger und grimmiger Mimik fürs Foto posieren. Eine Frau in der ersten Reihe, Typ Rugby-Bezirksmeisterin, ruft dem Fotografen zu: »Deine Fresse merk ich mir!«
Freital ist an diesem 24. Juni 2015 ein ziemlich ungemütlicher Ort. Schon seit einigen Wochen debattiert das sächsische Städtchen über ein Flüchtlingsheim, in diesen Tagen eskaliert der Streit. Das hysterische Treiben rund um den blassgelben DDR-Bau mit dem irreführenden Namen Hotel Leonardo veranschaulicht, wie sich in diesem Sommer das Land verändert. Wie Hass entsteht, wie alte Konflikte aufbrechen, wie eine Gesellschaft sich in Grüppchen aufteilt.
Freital, im sächsischen Behördenjargon »Große Kreisstadt«, hat 39 547 Einwohner, fünfzehn Ortsteile, vier S-Bahnhöfe, knapp neun Prozent Arbeitslose. Wer mit dem Zug aus Richtung Dresden anreist, fährt durch einen seltsam gleichförmigen Ort, der sich in ein enges Tal drängt.
Das Hotel Leonardo liegt in Freital dort, wo andernorts Schlösser, Siegesdenkmäler oder Burgruinen stehen. Auf einem flachen Hügel, den man wahlweise über eine serpentinenartige Straße oder nicht enden wollende Treppen erreicht, thront dieser trostlose Bau über der Stadt. Einige Stunden vor dem wütenden Aufmarsch unterhalten sich vor dem Haupteingang ein paar Asylsuchende, vom Bolzplatz hinterm Haus hallt Kindergeschrei. Diese Menschen also sind das Problem.
Jedenfalls aus Sicht von Leuten wie Lutz Bachmann.
Bachmann gehört zu denjenigen, die den Protest gegen die Bewohner des Leonardo organisieren. Ein paar Hundert Zuwanderer sollen in diesen Tagen aus provisorischen Zelten in Chemnitz nach Freital umziehen. Viele im Ort wollen das nicht hinnehmen, sie fühlen sich von den Behörden übergangen. Bachmann weiß diese Wut zu kanalisieren und auf die Straße zu bringen, er ist einer der Mitbegründer der Dresdner Pegida-Demonstrationen. In Freital organisiert sich der Protest zunächst in sozialen Netzwerken, unter Namen wie »Freital wehrt sich« und »Widerstand Freital«. Eine Gruppe nennt sich »Frigida«. Dass das eher an das Wort »frigide« erinnert als an eine Mischung aus Freital und Pegida, fällt offenbar niemandem auf.
Aus dem Internet schwappte die Wut schließlich auf die Straße, seit zwei Tagen ziehen nun Menschen abends zum Leonardo – und seit zwei Tagen kommen auch Gegendemonstranten. An diesem Mittwoch geht es um viel für beide Seiten, von Freital soll ein Zeichen ausgehen. Die vorerst letzten fünfzig Asylsuchenden werden erwartet, ihnen wollen beide Parteien einen Empfang bereiten. Hässlich soll er aus Sicht der einen sein, herzlich aus Sicht der anderen.
Die Befürworter der Flüchtlingsunterkunft hat eine Frau zusammengetrommelt, die sich schon am späten Nachmittag mit ihrem Sohn vor einer Hecke am Leonardo postiert. Nico und Steffi Brachtel heißen die beiden, sie gehören zur »Organisation für Weltoffenheit und Toleranz Freital und Umgebung«. Nico ist Schüler, seine Mutter Kellnerin. »Ich stelle mir das schrecklich vor«, sagt sie, »von einem Flüchtlingslager ins nächste geschoben zu werden und dann so eine Begrüßung zu bekommen.« Das sehen etwa sechzig Mitstreiter ähnlich, die nach und nach den Leonardo-Hügel erklimmen.
Vor allem aber kommen Polizisten. Die Behörden haben vom ersten größeren Aufeinandertreffen rechter Demonstranten und linker Aktivisten offenbar gelernt: Die zwölf angerückten Polizeibeamten hatten vorgestern alle Mühe, die Kontrahenten voneinander fernzuhalten. Einen Tag später rückten bereits dreiundvierzig Polizisten an. Schließlich stockte die Behörde nun auf mehr als hundert Sicherheitskräfte auf, nachdem beim Aufeinandertreffen der beiden Gruppen zuletzt Eier geflogen waren.
Woher kommt der Volkszorn? Wer ein wenig recherchiert, stößt schnell auf den Umstand, dass Freital erst 1921 entstanden ist – als Fusion dreier Industriegemeinden, in denen zwei Drittel der Einwohner SPD wählten. Diese linke Zweidrittelmehrheit bastelte sich in diesem Tal bei Dresden eine Arbeiter-Utopie, die frei sein sollte von Ausbeutung und Unterdrückung. Daher der Name: Freital. Damals war es die einzige Stadt Sachsens mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, heute erhält die SPD bei Kommunalwahlen kaum noch elf Prozent der Stimmen.
Der Glaube an die Utopie ist dem Frust gewichen. Vor dem Hotel Leonardo stehen auf der Seite der Flüchtlingsgegner ein paar Dutzend Leute in einer Traube, es sind vor allem Männer. Einer von ihnen ist Mirko Meyer, er heißt eigentlich anders. »Jeden Abend ist hier so eine Scheiße«, sagt Meyer, »ich halte das nicht mehr aus.« Dann zeigt er auf einen Mann mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, der auf der Gegenseite steht: »Da, die leben hier doch alle auf unsere Kosten – ich verstehe einfach nicht, warum die alle hier bei uns haben wollen.« Er klingt verzweifelt, beinahe fassungslos.
Meyer zahlt seit Jahren Miete, um in einer der schmucklosen Mietskasernen nebenan zu wohnen. Von dort aus beobachtet er nun, wie Ausländer mietfrei in einem ehemaligen Hotel untergebracht werden. Was er sieht: Die Flüchtlinge tragen Jeans und besitzen Handys. Was er nicht sieht: Auch Jeansträger mit Handys fliehen vor Krieg und Terror.
Die Meyers und Brachtels tauschen ihre Ängste und Argumente nicht aus. Stattdessen bekriegen sie sich in Internetforen und auf Facebook, bewerfen sich mit Schimpfwörtern und Hühnereiern. Und weil das so ist, stellt die Polizei an diesem Abend zwei Einsatzwagen quer auf die Straße, nur ein kleines Schlupfloch bleibt zwischen den Motorhauben. Jeder, der nun den Langen Rain betritt, gehört automatisch zu einer Seite. Die Freitaler sind in zwei Gruppen gespalten.
Um kurz vor acht erschallen die ersten Sprechchöre. »Nazis raus«, brüllen Dutzende Demonstranten, »wir wollen keine Nazi-Schweine!« Es sind ausgerechnet die Gegner der Unterkunft, die das fordern, und die Reaktion auf der Gegenseite fällt entsprechend hämisch aus: schallendes Gelächter, tosender Applaus. Dann brüllt jemand zurück: »Wir wollen euch auch nicht!«
Wenige Minuten später quält sich ein Reisebus im Schritttempo den Hügel hinauf. Er kommt, beschützt von Polizisten, in der Mitte des Schotterplatzes vor dem Leonardo zum Stehen. Der Bus spuckt müde Gestalten aus, einige haben Reisetaschen und kleine Koffer dabei, die meisten halten nur eine Plastiktüte oder gar nichts in den Händen. Es ist der Moment, in dem die Demonstranten im Chor rufen: »Kriminelle Ausländer – raus, raus, raus!« Gut möglich, dass auch die Unterstützer der »Organisation für Weltoffenheit und Toleranz« irgendetwas rufen, zu hören ist es nicht. Der Hass ist lauter.
Aber nicht unüberwindbar. Gegen 19 Uhr passieren ein paar Anwohner die von der Polizei gezogene Grenze zwischen Flüchtlingshelfern und Flüchtlingsgegnern: Zwei Dutzend Migranten spazieren völlig ungerührt am Rande des Platzes entlang, als hätten sie mit dem Treiben nichts zu tun. Stefan Vogl, ein Geschichtslehrer aus dem Ort, begleitet die Gruppe zur nahe gelegenen Turnhalle des Weißeritzgymnasiums, dort wollen sie gemeinsam Volleyball spielen.
Einer der Männer nennt sich Umer, ein Pakistaner mit Pagenschnitt. Hat er keine Angst vor den Leuten, die da gerade gegen Menschen wie ihn demonstrieren? »Nein, ich fühle mich hier wunderbar«, sagt er, »ich habe mich noch nie so sicher gefühlt wie hier.«
Bleibt zu hoffen, dass Umer diese Einschätzung nicht eines Tages ändern muss.
Die Proteste in Freital werfen Fragen auf, grundsätzliche Fragen. Gut möglich, dass es bei den Protesten vor dem Leonardo eigentlich nicht um Flüchtlinge geht – sondern um etwas, für das der Groll auf die neuen Nachbarn eine Art Ventil ist. Womöglich ist es ein diffuses Gefühl des Vergessen- und Abgehängtseins,...