Des Rätsels Lösung, I.
Lange schon könnte er tot sein, lange schon müsste er tot sein, weshalb er heute zwar viele Dinge ahnt (weil er sich auskennt) und noch mehr Dinge weiß (weil er sie bewiesen hat), aber diese brüllend ungerechte Sache mit dem Glück hat er gefühlt und erlebt. Er ahnte es, wusste es, dann erfuhr er es: Ohne Glück geht es nicht, knapp genug war es zweifellos.
52 Jahre jung war Dr. Makoto Suzuki, als er seinen Herzinfarkt hatte. Er fiel einfach um, bei der Arbeit. Die Knie knickten ein, er sackte zu Boden, sieben Tage lang lag er im Koma. Und wie so oft im Leben muss man deshalb heute sagen: Das alles hätte ganz leicht auch ganz anders kommen können.
Aber er hatte Glück.
Und darum sind wir am Ende der langen Reise in die Welt der sehr, sehr alten Menschen tatsächlich bei Makoto Suzuki auf Okinawa angekommen, im Süden Japans.
Dr. Suzuki, im Dezember 2018 ein 85-jähriger Wissenschaftler, noch immer täglich im Büro, in der Klinik, im Labor, noch immer auf der Suche nach Erkenntnis – dieser Dr. Suzuki ist jener Wissenschaftler, der einst entdeckte, dass Okinawa, dieser stets wohlig warme Archipel aus 161 Inseln im Süden Japans, ein geradezu gesegnet glücklicher Ort ist: Die Menschen hier werden älter als andere Menschen. Sehr viel älter. Und es sind sehr viele Menschen, die hier sehr viel älter werden.
Wieso nur?
»Ikigai«, sagt Makoto Suzuki.
Und dann: »Mein ikigai ist die Suche nach eben diesem Geheimnis.«
Es ist ein großes japanisches Wort, dieses »ikigai«. Es meint den Grund zu leben, es meint wahre Erfüllung. Warum stehen wir morgens auf?
Was wollen wir wirklich?
Was trägt uns, was hält uns, was ist uns wahrhaft wichtig?
Ikigai meint unsere Leidenschaft, unsere Berufung, unsere Mission, unseren Beruf (hoffentlich), und es meint unsere Liebe. Ikigai ist die Kunst, zugleich bedingungslos und entspannt genau das zu tun, was uns etwas bedeutet, was uns glücklich macht; und damit ist ikigai auch die Kunst, nicht gestresst und nicht abgelenkt zu sein. Ikigai hört nicht auf: In Japan gibt es kein Wort für »Rente« oder »Ruhestand«, denn es liegt im Wesen des »ikigai«, dass eine Berufung niemals endet – nicht vor dem Tod jedenfalls. Ikigai, das ist unsere raison d’être, so würden es die Franzosen sagen.
Der Mann also, der das Geheimnis von Okinawa zunächst entdeckt hat und seither erforscht, sitzt in einem unscheinbaren Flachbau zehn Kilometer nördlich von Naha, dem Verwaltungssitz der Präfektur Okinawa; man muss den Parkplatz hinter dem Haus finden, den Hintereingang, die Treppe, den ersten Stock, und dann muss man die Schuhe ausziehen wie in den meisten Räumen auf Okinawa.
Suzuki ist ein kleiner, schmaler, gebeugter Mann, der eine runde Brille und ein blaues, weites Hemd mit offenem Kragen trägt. Im Regal sammelt er seine Akten, Hunderte, Tausende Akten, von all den Hundertjährigen Okinawas. Ganz ruhig sitzt er da, seine Hände allerdings kneten sein Mobiltelefon.
Heute, sagt er, sei er zu alt, um noch in den Norden zu fahren, aber heute wohnen ja auch viele dieser Alten und sehr, sehr Alten in den Pflegeheimen von Naha. 40 Jahre lang tat er allerdings genau dies: Er fuhr in den Norden.
Wenn man über Okinawa, also die Hauptinsel dieses Reiches aus mitunter winzigen, immer wieder auch überspülten Inseln redet, sollte man korrekterweise »Okinawa Hontō«, Okinawa-Hauptinsel, sagen, was wir der Lesbarkeit halber in diesem Text unterlassen: Okinawa also. Dieses Okinawa, einst ein eigenes Königreich namens Ryūkyū, gehört erst seit 1871 zum 515 Kilometer entfernten restlichen Japan; es hat 1,2 Millionen Einwohner und ist exakt 107 Kilometer lang und zwischen drei und 31 Kilometern breit. Noch immer gibt es hier einen riesigen Militärstützpunkt der USA, der noch immer umstritten ist: Bei nahezu jeder Wahl geht es darum, wie den Amerikanern zu begegnen sei, wie schroff oder milde, und auch darum, warum Okinawa im fernen Tokio so wenig ernst genommen wird.
Das Klima: subtropisch. Bei rund 23 Grad liegt die Durchschnittstemperatur, denn im Sommer sind’s meist 27 oder 28 Grad und im Winter 17 oder 16. »Etwa die Hälfte des Jahres fällt Regen, insgesamt über 2000 mm. Im Herbst wird Okinawa regelmäßig von Taifunen heimgesucht.« Das weiß Wikipedia.
Für Makoto Suzuki kam das Projekt seines Lebens Anfang der 70er Jahre eher zufällig daher. Er war damals Herzmediziner in Tokio, und die Unikarriere begann gerade, als er nach Melbourne, Australien, eingeladen wurde. Und wie das Leben so spielt: Eine Einladung nach Okinawa folgte, als er gerade in Melbourne war. Es war kompliziert, herzukommen, denn noch war Okinawa von den US-Streitkräften besetzt. Für zwei Tage nur durfte er bleiben, doch er mochte diese tropengleiche Insel, und wenig später fiel Okinawa zurück an Japan. Dr. Suzuki durfte nun wiederkommen und blieb und gründete eine medizinische Schule.
Ein Assistent sagte ihm: Im Norden sollen angeblich Menschen leben, die hundert Jahre alt sind. Dr. Suzuki nahm sein Stethoskop und stieg in den Bus nach Norden und fuhr nach Tokuno Shima. Dort verstand er die Sprache kaum, diesen nach Auskunft aller Experten ungeheuer eigentümlichen Dialekt. Einsam stand er auf einem Marktplatz herum. Niemand da. Dann doch ein paar Leute. »Und eine Frau mit Bambuskorb kam, sie lud mich in ihr Haus ein. Gab mir Tee. Sie sah aus wie eine Siebzigjährige, und ich sagte ihr, ich suche Hundertjährige. Sie sei hundert Jahre alt, sagte sie.«
Das ist selten, sagte Suzuki zu ihr.
Nein, das ist nicht so selten, wir haben hier viele Hundertjährige, zwei, drei weitere sogar in diesem Dorf, das sagte die Alte.
Das war der Anfang. 1975 entschloss sich das Ministerium für Gesundheit und soziale Leistungen in Tokio, die »Okinawa Centenarian Study« zu finanzieren; und es ernannte Suzuki zum Projektleiter.
32 Hundertjährige gab es damals, vor knapp 45 Jahren, auf Okinawa, 660 in ganz Japan. Da Japan 47 Präfekturen hat, hätten es auf Okinawa, der Bevölkerungszahl entsprechend, nur sechs Hundertjährige sein dürfen. Und, das eigentliche Wunder: 28 jener 32 waren vollkommen gesund. Hellwach. Und zufrieden.
Wieso? War es das Zauberwort: ikigai?
Der Grund des Lebens?
»Ja, ikigai«, sagt Suzuki, »sie alle hatten einen Grund. Einen Sinn. Glück, wenn es das gibt. Damals aber wusste ich noch nichts davon. Ich wusste nur: was für ein Rätsel, was für ein Geheimnis! Wie besonders! Darum beschloss ich, mit dieser Arbeit anzufangen. Und ich hätte nicht gedacht, dass sie so viel Zeit verschlingen, dass sie mein eigenes Leben so komplett ausfüllen würde.«
Heute, im Dezember 2018, leben genau 1197 Menschen in Okinawa, die mindestens 100 Jahre alt sind. Vieles ist anders als vor 45 Jahren. Mehr als die Hälfte lebe inzwischen einsam im Heim, liege im Bett oder sei sogar dement, sagt Suzuki. Nicht einmal die Hälfte sei noch wirklich aktiv, »Familiensinn und Ernährung haben sich auch hier verändert, wie überall auf der Welt«.
Es ist widersinnig, es ist absurd. Die Welt wird klüger, und die Welt wird dümmer, zur selben Zeit. Viele Menschen wissen, wie man zufrieden 100 Jahre alt werden könnte, und verhalten sich doch so, dass sie es auf keinen Fall schaffen werden. Dr. Suzuki ist mittendrin in dieser glückseligen Zone, wo alles blüht und alles wächst, was gut tut und schmeckt, aber er sieht junge Menschen, die heute zu »McDonald’s« rennen und morgen zu »Kentucky Fried Chicken«; »sie essen viel zu viel Fleisch, trinken zu viel, bewegen sich zu wenig, auch hier«. In all den harten Jahren, im Krieg und danach, aßen die Leute hier die Süßkartoffeln vom eigenen Feld – der Wohlstand hat die amerikanische Fast-Food-Ernährung nach Okinawa gebracht.
Und sind Männer vielleicht doch dümmer als Frauen?
Eine Erkenntnis der vergangenen zehn Jahre ist, dass die Lebenserwartung der Frauen von Okinawa weiter steigt, die der Männer aber nicht. »Junge Männer mögen den Sake. Sie sind nicht so sehr interessiert an der Länge des Lebens, leben im Heute, ausschließlich«, sagt Suzuki, »und natürlich wollen sie auf gar keinen Fall auf dem Land leben.«
Wenn man es nun zusammenfasst, dann hat Makoto Suzuki in den viereinhalb Jahrzehnten seiner Arbeit diese zehn Lektionen gelernt:
Die richtige Ernährung ist wichtig; eine Art Diätkultur. Gemüse, Tofu, Obst: Auf Okinawa wächst alles, was gesund ist. Tabak, Alkohol und Koffein sind tabu.
Kleine Portionen sind schlau, auf Okinawa sind daher kleine Teller üblich. »Hara hachi bu« heißt das hier: Iss nur so lange, bis dein Magen zu 80 Prozent gefüllt ist. Der durchschnittliche Erwachsene nimmt auf Okinawa knappe 1900 Kalorien pro Tag zu sich; in den USA isst er das Doppelte.
Bewegung ist wichtig. Es muss nicht Sport sein, aber der Mensch hat Beine, damit er geht. Und der Mensch kann schwimmen, und wenn nicht, kann er’s lernen.
Mentale und soziale Gesundheit sind wichtig. Bleiben wir, ehe wir in die Details einsteigen, vorerst bei dem japanischen Wort: ikigai. Man muss in der Lage sein, Niederlagen und Trauer irgendwann hinter sich zu lassen. Das führt dann zu spiritueller Gesundheit. Suzuki traf eine Hundertjährige, die ihren Mann und ihre vier Kinder im Krieg verloren hatte. Die Frau sagte ihm: Ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr über den Krieg...