Einleitung
Nichts ist mehr unmöglich
Am 28. November 2017 brach der Präsident der Französischen Republik im überfüllten Auditorium der Universität Ouaga-I-Professeur-Joseph-Ki-Zerbo in Ouagadougou im Beisein des burkinischen Präsidenten Roch Kaboré sowie Hunderter burkinischer Studentinnen und Studenten in seiner Rede mit mehreren Jahrzehnten offiziellen französischen Umgangs mit Kulturerbe und Museen: »Ich möchte, dass in fünf Jahren die Voraussetzungen erfüllt sind, um das afrikanische Erbe zeitweise oder endgültig an Afrika zu restituieren.«1 Applaus und freudige Pfiffe. Auf Twitter sekundierte der Élysée-Palast in Echtzeit mit der altbekannten Metapher vom Museum als Gefängnis: »Das afrikanische Erbe darf nicht Gefangener europäischer Museen sein.«
Diese Ankündigung kam umso unerwarteter, als ihr ein Jahr zuvor unter Bezug auf die Unveräußerlichkeit der staatlichen Sammlungen die kategorische Weigerung Frankreichs vorausgegangen war, Benin auch nur das kleinste Stück aus den Beständen seines kulturellen Erbes zurückzugeben. Dennoch fügte sie sich Ende 2017 durchaus in eine allgemeinere Tendenz der vergangenheitspolitischen Öffnung ein: Während des Wahlkampfes hatte Emmanuel Macron in Algier bereits Monate zuvor die Kolonisation als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezeichnet: »Die Kolonisation ist Teil der französischen Geschichte. Sie ist ein Verbrechen, sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sie ist wahre Barbarei. Und sie gehört zu jener Vergangenheit, der wir uns stellen müssen, indem wir diejenigen um Verzeihung bitten, gegen die wir diese Taten begangen haben.« Niemals zuvor war die Sache in Frankreich so direkt beim Namen genannt worden.
Auch woanders in Europa mussten viele Jahre vergehen – es bedurfte des Wartens bis ins Jahr 2004, bis sich die Bundesrepublik Deutschland bereit erklärte, sich ein Stück weit bei den Herero zu entschuldigen, jenem Volk aus Südwestafrika (heute Namibia), an dem durch Vergiftung, Deportation, Zwangsarbeit und Hinrichtungen ein Genozid verübt wurde, weil es 1904 Widerstand gegen die deutsche Kolonialgesetzgebung leistete. 2008 beendete Italien vierzig Jahre Spannungen mit Libyen, indem es sich für die »tiefen Verletzungen« entschuldigte, die dieser ehemaligen italienischen Kolonie zwischen 1911 und 1943 zugefügt worden waren. Das Vereinigte Königreich wartete sechzig Jahre, bis es sich nach langem Rechtsstreit 2013 für die blutige Unterdrückung und Folter der Mau-Mau in Kenia in den 1950er-Jahren entschuldigte. Dennoch sind wir in Europa weit davon entfernt, uns der Kolonialvergangenheit vollends zu stellen: Trotz gewisser Fortschritte tut sich Belgien immer noch schwer damit, die Millionen Toten anzuerkennen, die das Land durch die Ausbeutung des Kongo zwischen 1885 und 1908 verursacht hat; in Frankreich folgen die treffenden Worte Emmanuel Macrons Jahrzehnten der Leugnung oder der gewagten Behauptungen über die Wohltaten der Kolonisation. Die (historiografische, psychologische, politische) Übernahme der Verantwortung für diese Vergangenheit, die nicht vergeht, gehört zu den großen gemeinsamen Herausforderungen Europas des 21. Jahrhunderts.2
Dieser Abschnitt der Geschichte hat etliche Aus- und Nachwirkungen hervorgebracht. Sie manifestieren sich in verschiedensten Formen und in globalem Maßstab: ökonomische Ungleichheit, politische Instabilität, menschliche Tragödien. Über Kunstwerke und über die Rückgabe des afrikanischen Erbes nach Afrika zu sprechen, bedeutet in diesem Kontext, ein Kapitel zu eröffnen, und zwar ein einzelnes in einer umfangreicheren und gewiss noch komplizierten Geschichte. Hinter der Maske des Schönen lädt die Restitutionsfrage allerdings dazu ein, bis ins Herz eines Aneignungs- und Entfremdungssystems, des Kolonialsystems, vorzustoßen, als dessen öffentliche Archive bestimmte europäische Museen heute unwillentlich fungieren. Die Restitution denken impliziert dennoch deutlich mehr als nur eine Erforschung der Vergangenheit: Zuallererst bedeutet es, Brücken zu zukünftigen gerechteren Beziehungen zu bauen. Von Dialog, Vielstimmigkeit und Austausch geleitet, darf die Restitution keineswegs als ein unheilvoller Akt von Identitätszuschreibung oder territorialer Festschreibung von Kulturgütern verstanden werden. Sie lädt im Gegenteil dazu ein, die Bedeutungsgebung der Objekte zu öffnen und »dem Universellen«, mit dem sie in Europa so häufig assoziiert werden, die Möglichkeit zu geben, auch anderswo erfahren zu werden.3
Der folgende Bericht bezieht sich ausschließlich auf den afrikanischen Kontinent südlich der Sahara. Er hebt das Besondere an der Situation Afrikas hervor und schlägt Lösungen für diesen spezifischen Fall vor.4 Er berücksichtigt die besondere Geschichte und besonderen Verantwortlichkeiten Frankreichs in diesem Teil der Welt (koloniale Bevormundung und Ausbeutung, missratene Dekolonisierung, zentralistische Kulturerbepolitik), die sich deutlich von denen Großbritanniens, Belgiens, Deutschlands oder Italiens unterscheiden. Und er stützt sich auf die von Experten vielfach geäußerte Feststellung, dass fast die Gesamtheit des materiellen Erbes der afrikanischen Länder südlich der Sahara außerhalb des afrikanischen Kontinents aufbewahrt wird.5 Es ist dieser Befund, diese zahlenmäßige Kluft zwischen den Objekten in Europa und denen in Afrika selbst, an dem sich das Besondere des afrikanischen Falls bestimmen und bemessen lässt. Während andere Weltregionen, die in den Sammlungen der westlichen Museen vertreten sind, einen beträchtlichen Teil ihres künstlerischen und kulturellen Erbes bei sich wissen, entbehrt das Afrika südlich der Sahara ihres fast vollständig. In diesem Sinne fügt sich das von Frankreich in Angriff genommene Restitutionsvorhaben ein in eine dreifache Logik von Reparation, Wiederherstellung einer ausgeglichenen globalen Kulturgeografie, vor allem aber auch Neuanfang.
Auf einem Kontinent, auf dem 60 Prozent der Bevölkerung unter zwanzig Jahren alt sind, geht es vor allen Dingen um den Zugang der afrikanischen Jugend zu ihrer eigenen Kultur, zu der Kreativität und Spiritualität freilich längst vergangener Epochen, die zu kennen und wiederzuerkennen nicht den westlichen Gesellschaften oder der in Europa lebenden Diaspora vorbehalten sein darf. Die Jugend Afrikas hat wie die Jugend Frankreichs oder Europas »Rechte in Bezug auf das Kulturerbe«, um die Formulierung des Europarats aus der Faro-Konvention von 2005 aufzugreifen. Ein Recht auf das gesamte Kulturerbe, muss man hinzufügen, aber mindestens und zuerst auf die aus der afrikanischen Vergangenheit vermachten Ressourcen, die so fern von der afrikanischen Jugend verwahrt werden, dass diese oft nichts von deren Reichtum und Potenzial und teils nicht einmal von ihrer Existenz etwas weiß. Dem Reiz eines Objekts erliegen, berührt, beeindruckt, bewegt, überrascht werden von einem Gegenstand, den man im Museum erblickt, seine Formen oder seine Raffinesse bewundern, seine Farben lieben, auf einem Foto festhalten, sich von ihm verändern lassen: Diese Erfahrungen, die zugleich Zugangsformen zu Wissen darstellen, dürfen nicht einzig den Erben einer asymmetrischen Geschichte vorbehalten bleiben, die darüber hinaus das Privileg der Mobilität genießen.
Der vorliegende Bericht wurde im Laufe des Sommers 2018 in Dakar, Berlin und Paris verfasst. Er ist das Resultat einer umfangreichen Befragung von Experten und politischen Akteuren in Frankreich und vier französischsprachigen Ländern Afrikas (Benin, Senegal, Mali und Kamerun).6 Wir haben uns mit mehr als 150 Personen ausgetauscht; diese Begegnungen fanden zwischen März und Juli 2018 statt. Sie haben uns erlaubt, auf beiden Kontinenten Vertreter aus diversen Milieus zu hören: Restitutionsbefürworter und -skeptiker; Akademikerinnen und Akademiker, Forscherinnen und Forscher; Museumsleute, politische Verantwortliche, Parlamentsmitglieder, Akteure auf dem Kunstmarkt, Sammler, Juristinnen und Juristen, Pädagoginnen und Pädagogen, Aktivisten. In Paris konnten wir von der ständigen Unterstützung der Mitarbeiter des Musée du quai Branly-Jacques Chirac und dessen Direktors Stéphane Martin profitieren, insbesondere bei der Anfertigung eines zur Durchführung unserer Aufgabe erstellten Inventars, an dem sich genau die Art, Anzahl und Herkunft der afrikanischen Sammlungen ablesen lassen sollte. Zwei Sonderworkshops haben uns erlaubt, unser Nachdenken über den Begriff der »Restitution« zu schärfen: der »Dakar-Workshop«, bei dem am 12. Juni 2018 über zwanzig Persönlichkeiten aus Afrika und Europa im Musée Théodore-Monod für afrikanische Kunst zusammenkamen; und der »Rechtsworkshop«, der am 26. Juni 2018 am Collège de France in Paris stattfand und der genauer der Frage des rechtlichen Rahmens gewidmet war.
Der Bericht umfasst vier Teile. Der erste bietet einen Überblick über den internationalen Stand der Debatte (»Die lange Dauer der Verluste«). Der zweite Teil (»Restituieren«) klärt die Mehrdeutigkeiten im...