2. Entstehung und Geschichte der Freimaurerei
Ursprungslegenden und Mythen
Seit Beginn gibt es in der freimaurerischen Literatur viele Legenden und Mythen, von denen die überwiegende Mehrzahl ins Reich der Fantasie oder der Spekulation zu verweisen ist. Die hier und da festzustellende Berufung auf den Ritterorden dient hingegen innerhalb des freimaurerischen Selbstverständnisses zur Ausformung eines Rituals, wie es ohnehin nur in bestimmten Lehrarten anzutreffen ist. Vereinzelt neigt man in freimaurerischen Darstellungen dazu, sich auf ehrwürdige Traditionen zu berufen, um dem eigenen Anliegen und den jeweiligen Ritualsystemen besondere Dignität zu verleihen. Teilweise wird auch versucht, die Freimaurerei als eine der Menschheitsgeschichte innewohnende geistige Idee zu charakterisieren. So heißt es in älteren Selbstdarstellungen, die Freimaurerei sei so alt wie die Menschheit überhaupt. Solche idealisierten Darstellungen sind, wie die sog. masonische (freimaurerische) und nichtmasonische Forschung herausgearbeitet hat, nicht haltbar. Offensichtlich handelt es sich dabei um nachträgliche Rekonstruktionen oder Idealisierungen, die aus religionsgeschichtlicher Perspektive nicht zu belegen sind. Einzelne Lehren, Praktiken und Symbole in der Freimaurerei mögen durchaus religionsgeschichtliche Vorläufer haben. In ihrer institutionellen Form ist die Freimaurerei ein Produkt der Neuzeit. Sie hat damit Anteil an einer stark aufklärerisch-rationalistischen Richtung. Gleichzeitig findet sich innerhalb der Freimaurerei – infolge von Einflüssen der Renaissance und des Humanismus – auch ein esoterischer Entwicklungsstrang, für den die Suche nach höherer, verborgener Erkenntnis von Bedeutung war.
Die Welt der mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften
In manchen freimaurerischen Darstellungen wird der Eindruck erweckt, die Königliche Kunst gehe zurück auf das Wissen der alten Ägypter oder sei sogar so alt wie die Menschheit selbst. Bereits in den 1723 von dem schottischen Geistlichen und Londoner Logenmitglied James Anderson (ca. 1678–1739) vorgelegten »Alten Pflichten« (auch Konstitutionenbuch genannt) – der wichtigsten Urkunde heutiger Freimaurerei – wird eine historisch unzutreffende genealogische Entstehungsgeschichte entfaltet, die mit Adam einsetzt und über die Bibel fortgeführt wird. Anderson benutzte vielfältige alte mündliche und schriftliche Überlieferungen und lehnte sich an schottische Muster an.
Als authentischer Mutterboden für das Entstehen moderner Freimaurerei erweisen sich nach heutiger Forschung die mittelalterlichen Bauhütten, die es überall in Europa gab. Ihre Blütezeit erlebten sie in der Zeit vom 13. bis Mitte des 15. Jahrhunderts. Ihre historischen Wurzeln haben diese Steinmetzsozietäten in den handwerklichen Bruderschaften, den Bauhütten und Meistern. Auf deren Brauchtum geht das freimaurerische Ideengut zurück. Diese Bruderschaften bestanden aus den Mitgliedern der Steinmetzgilden. Diese überstädtischen Gilden zogen von Land zu Land. Dadurch hatten sie im Unterschied zu den städtischen Zünften überall freies Geleit. Die Steinmetze gaben sich eigene Ordnungen, da sie weder den kirchlichen Vorgaben noch dem städtischen Zunftzwang unterworfen waren. Darin regelten sie die Organisation des Handwerks, seine Gerichtsbarkeit und den Baubetrieb im Allgemeinen. Hinzu kam die Unterstützung bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus regelten die Steinmetzordnungen auch das moralische Verhalten der Brüder untereinander und nach außen. Besonders wurde auf die Bewahrung des Handwerksgeheimnisses geachtet. Vor dem Hintergrund dieser Privilegien erklärt sich auch das sich allmählich herausbildende Selbstbewusstsein der Bauhüttenbruderschaften. Sie begannen untereinander ein soziales Netz zu entwickeln, das das Zusammengehörigkeitsgefühl stark bestimmte und auch die eigenen Zunftgebräuche vor Missbrauch und Scharlatanerie schützte. Auf die Welt der Steinmetzbruderschaften und Dombauhütten des Mittelalters weisen besonders die heutigen freimaurerischen Symbole und Rituale hin. Die Freimaurer begreifen sich damit in der Tradition der mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften, die eigene Gebräuche und Traditionen entwickelt haben. Zum Schutz ihres Berufsgeheimnisses pflegten sie geheime Griffzeichen und Passwörter. Doch im Lauf der Zeit verwandelte sich diese Werkmaurerei (sog. operative Freimaurerei) in die geistig-spekulative Maurerei. Über die Gründe ist nur wenig bekannt. Es ist anzunehmen, dass die Zeit der großen Kathedralbauten sich ihrem Ende näherte, womit auch die Bedeutung der Steinmetzzünfte abnahm. Nunmehr ließen sich auch Personen aufnehmen, die nicht den Beruf des Steinmetzen ausübten, aber mit den alten Symbolen und Gebräuchen die Arbeit am geistigen Tempel fortsetzen wollten. Offensichtlich waren die Steinmetzbruderschaften wegen ihres tradierten, geheimen Wissens und nicht zuletzt wegen der internen Versorgungsstruktur bei Krankheit, Invalidität und Alter noch attraktiv. In der Forschung gilt England als das Mutterland der modernen Freimaurerei. Vorläufertraditionen werden jedoch auch für Schottland bzw. die schottische Kultur vermutet. Von England aus wirkte das besondere Brauchtum ausgesprochen nachhaltig. Steinmetzgilden haben in England eine lange Tradition. Sie bestanden schon im 14. Jahrhundert. Neben den eigentlichen Bauhütten entwickelten sich auch Zunftgenossenschaften, die bruderschaftlichen Charakter hatten. So bildete sich die Company of Freemasons heraus, die sich in verschiedenen Teilen Englands nachweisen lässt. Die Ziele dieser Company waren insbesondere religiöser und karitativer Natur (Unterstützung von Pilgern, Armen und Krankenfürsorge). Zu beobachten ist, dass Zunft und Bruderschaft allmählich in dieser Vereinigung miteinander zu verschmelzen begannen. Es traten dem Bund Männer bei, die zur Werkmaurerei keinerlei Beziehung hatten. Es waren Gebildete, Adelige und auch Geistliche – Personen, die jetzt als »angenommene Maurer« bezeichnet wurden. Immer mehr Nichthandwerker schlossen sich den Genossenschaften an und konnten dadurch an deren Privilegien teilhaben. Vermutlich waren die Hauptgründe für Nichthandwerker, diesem Bund beizutreten, vielschichtig. Besonders anziehend wirkte in dieser Zeit die Pflege der Brüderlichkeit und der Toleranz. Es war in England die Zeit der Glaubenskämpfe. Die Loge wurde zum einzigen Ort, wo Katholiken und Protestanten miteinander Kontakt pflegen und wo Freundschaft zwischen Andersgläubigen und politisch unterschiedlich Denkenden möglich wurde. Zeitlich lässt sich der Übergang von den Steinmetzbruderschaften zur spekulativen Maurerei auf Grund fehlender Quellen nicht exakt datieren. Die Bauhütten verloren bereits während der Reformationszeit allmählich an Bedeutung. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden geheime Treffen abhalten und sich gegen staatliche und kirchliche Gesetze stellen. Hinzu kamen ökonomische Probleme, die nicht nur wegen der zurückgehenden Auftragslage, sondern vor allem aufgrund der Nachwirkungen des Hundertjährigen Krieges die Bauhütten zunehmend unter Druck brachten – bis sie im 17. Jahrhundert schließlich ganz aufgelöst wurden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die moderne Freimaurerei ist aus den Bauhütten und Steinmetzbruderschaften Englands hervorgegangen. Sie stellt eine Art geistige Bauhütte dar. In ihren Ritualen und Symbolen, von der Diskretion bis hin zum Gradsystem (Lehrling – Geselle – Meister), orientiert sie sich an den Gebräuchen und Gepflogenheiten der mittelalterlichen Steinmetzgilden.
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Das Aufkommen der Freimaurerei war ein gesamteuropäisches Phänomen, das sich innerhalb kurzer Zeit von England aus auf dem europäischen Festland ausbreiten konnte. Ihre organisatorische Konstituierung fiel in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, in die Epoche der Aufklärung. Dabei rückten die Selbstreflexion und das moralische Engagement in der Öffentlichkeit ins Zentrum. Zur Verbreitung ihrer Ideen gründeten die Aufklärer Gesellschaften, in denen ihre Ideen und Anliegen diskutiert werden konnten. Hinzu kamen zahlreiche gelehrte Zirkel und eine Vielzahl einzelner Persönlichkeiten, die das Anliegen in Form von ausgedehnten Briefwechseln weitertrugen. Eine weitere wichtige Rolle spielten die Lesestoffe eines sich herausbildenden literarischen Marktes und zirkulierende Journale und Blätter, in denen lebhafte geistige Debatten ausgetragen wurden. In diese Zeit fiel auch die Gründung einer Reihe gemeinnütziger Vereinigungen, die sich weniger mit gelehrten als mit praktischen Fragen befassten. Die aus diesem Kontext hervorgegangene Philanthropie mit ihren gänzlich neuen und für die Zeit bahnbrechenden pädagogischen Konzepten, die hier ihre Wurzeln hat, ist sicher eine der auch heute noch geläufigen Bewegungen dieser Epoche.
Neben den Lesegesellschaften waren es vor allem die Freimaurerlogen, in denen sich die aufklärerische Elite sammeln konnte. Hier – außerhalb der literarischen Milieus – begegneten sich Männer der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten. Im Schutz des Geheimnisses konnte das emanzipatorische Projekt vorangetrieben werden. Hier war man frei von gesellschaftlichen oder konfessionellen Fesseln und bildete eine Gemeinschaft von Gesinnungsfreunden. Anders als die geselligen Zirkel und Salons, die häufig unter der Ägide bedeutender Frauen standen, blieb diese Geselligkeitsform nur Männern vorbehalten.
In den Logen stand die Wissensvermittlung im Vordergrund. Doch nicht nur Lektüre und Vorträge, sondern auch Rituale und Umgangsformen gewannen an Bedeutung, wodurch das neue Verhalten im Sinne von Aufklärung und...