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Wie wir wohnen werden. Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen

Reclam Taschenbuch

AutorKlaus Englert
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783159614724
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Neue Wohnkonzepte müssen soziale Fragen beantworten: Welche Preise können wir uns noch leisten? Wie gehen wir mit der Alterung der Gesellschaft, der Zuwanderung und der Veränderung unseres Klimas um? Was passiert, wenn irgendwann alle nur noch in der Stadt leben wollen und es immer mehr Singlehaushalte gibt? Wie finden wir genügend lebenswerten Wohnraum für alle? Der Architekturkritiker und Journalist Klaus Englert erzählt, wie unsere moderne Wohnung entstand und wie sich das Wohnen im 21. Jahrhundert verändern wird. Mit zahlreichen Abbildungen sowie exklusiven Interviews mit den bekannten Architekten Tobias Wallisser, Winy Maas und Werner Sobek. 'Ein willkommenes, entschiedenes Plädoyer.' (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Klaus Englert, geb. 1955, ist als Architekturkritiker u. a. für die FAZ, den Deutschlandfunk sowie den WDR tätig.

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Leseprobe

Von der Höhle zum Nest: Wie die moderne Wohnung entstand


Der Traum von der Wohnhöhle


In seinen Pariser Exiljahren wählte Walter Benjamin die ehrwürdige Bibliothèque Nationale als zweite Heimstatt. Dort ließ sich der Philosoph nieder, um sein legendäres Passagen-Werk zu schreiben. Die Lesesäle verwandelten sich für Benjamin gleichsam in einen privaten Schutzraum, in dem er sich, wie er im März 1934 Theodor W. Adorno nach Amerika schrieb, »wohnlich einrichtete«. Die Fotografin Gisèle Freund hielt damals in Porträtserien fest, wie der Freund Walter Benjamin selbstvergessen seine Studien an einem riesigen Tisch betrieb, in Büchern blätterte und Notizen anfertigte. Der deutsche Exilant dehnte wegen seiner prekären und wechselnden Privatunterkünfte den Aufenthalt in der Bibliotheks-Wohnung so weit wie möglich aus. Dort legte er die Wurzeln der modernen europäischen Kultur frei, dort erforschte er die öffentlichen Plätze und die luxuriös ausgestatteten Geschäftspassagen, die ihm ein Bild von den Anfängen des Kapitalismus vermittelten.

Die Lektürestunden in der Bibliothèque Nationale gewährten dem Exilgelehrten schließlich auch tiefere Einblicke in die intimen Wohngemächer des fin de siècle, die er selbst noch in seiner Berliner Kindheit erlebt hatte. Benjamin war fest davon überzeugt, die »Urgeschichte des 19. Jahrhunderts«, zu der er auch die gründerzeitlichen Wohnungen zählte, könne er einzig im selbstgewählten Pariser Exil schreiben. Dabei interessierte ihn auch jener bürgerliche Wohnkosmos, in den er Ende des 19. Jahrhunderts selbst hineingeboren worden war und den er nun, zurückgezogen in die Bibliotheksgemächer, mit schonungslosem Blick auf jedes noch so kleine Detail in den Aufzeichnungen zum Passagen-Werk festhielt. Gebannt war Benjamin von jenen träumerischen Phantasien, in denen das zu Ende gegangene Jahrhundert so sehr geschwelgt hatte:

Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, dass man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.

Bis ins fin de siècle hinein lebten die Menschen im »Gehäuse«, und diese Wohnform verstand Benjamin als »Daseinszustand des neunzehnten Jahrhunderts«. Der Wohnraum wurde zur Prägemasse, die überall die Abdrücke ihrer Bewohner konservierte. In diesen Gehäusen waren die Menschen – wie Georg Simmel in der Philosophie des Geldes anmerkte – mit den Gegenständen ihrer privaten Umgebung »verwachsen«. Bevor sich um die Jahrhundertwende allmählich die ersten Umbrüche ankündigten, muss das bürgerliche Wohnen im 19. Jahrhundert ein freiwilliger Rückzug in ein Höhlendasein gewesen sein.

Im Passagen-Werk beschreibt Walter Benjamin ein Wohnen wie in unzugänglichen Höhlen. Es waren regelrechte Schutzhöhlen, in denen sich die Menschen eingenistet hatten. Diesen Eindruck bestätigt die Politikerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Louise Weiss, die in Souvenirs d’une enfance republicaine (Erinnerungen an eine republikanische Kindheit, 1937) eine Pariser Wohnung um 1860 so beschreibt, als seien deren Bewohner zu Lebzeiten bereits zu Mumien erstarrt:

Die Wohnung auf der Rue d’Anjou war reich ausgestattet durch Teppiche, Türvorhänge, schwere drapierte Querbehänge sowie doppelte Vorhänge, die den Gedanken aufkommen lassen, das Höhlenzeitalter sei unmittelbar vom Leben hinter Wandvorhängen abgelöst worden.

Das Symptom des Verwurzeltseins der Dinge und Personen in der Wohnstatt diagnostizierte der Journalist (und spätere Politikwissenschaftler) Dolf Sternberger noch für die Wohnrituale der nachfolgenden Generation:

[…] den Wänden, dem Fußboden und der Decke scheint eine eigentümlich ansaugende Fähigkeit einzuwohnen. Immer mehr Möbelstücke werden untransportabel, immobil, schmiegen sich den Wänden und Ecken an, haften am Boden und ziehen gleichsam Wurzeln. […] Aller bleibende Inhalt des Heims wird auf diese Art dem Tauschverkehr, der Bewohner selber aber seiner Freizügigkeit entnommen und an Boden und Eigentum geheftet.

Dieses Leben in Wohnhöhlen erlaubte es, sich vom Weltgeschehen abzuschirmen und in den Weltinnenraum abzutauchen. Nichts anderes deuteten die schweren, drapierten Vorhänge an, die sich seit den erstarrten und politisch restaurativen Zeiten nach dem Wiener Kongress 1815 durchgesetzt hatten, zum depressiven Markenzeichen des Biedermeier wurden und allmählich das Höhlendasein populär machten. Die von Louise Weiss beschriebene Wohnung drückt die Innerlichkeit von Bewohnern aus, die den Blick in die Welt scheuen und sich lieber hinter den schweren Stoffen einer drückenden Wohnatmosphäre einigeln.

Ein Wohnkosmos voller Nippes um 1900. Foto von Sasha Stone aus dem Nachlass von Walter Benjamin.

In der Immobilie vor der Jahrhundertwende war gleichsam jedes Möbelstück immobil. Walter Benjamin drückt ein Wohngefühl aus, das zum Signum des gesamten saeculum geworden ist:

Das Interieur des 19. Jahrhunderts […] verkleidet sich, nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der Stimmungen an. […] Am Ende […] sind selbst die großen welthistorischen Momente nur Kostüme, unter denen sie die Blicke des Einverständnisses mit dem Nichts, dem Niedrigen und Banalen tauschen. Solch Nihilismus ist der innere Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit. […] Er verrät damit, wie das Interieur dieser Zeit selbst ein Stimulans des Rausches und des Traums ist. […] Mit der ausschweifenden Tapezierkunst der damaligen Innenräume […] zu leben […] war wie sich eingewebt, sich eingesponnen haben in ein Spinnennetz, in dem das Weltgeschehen verstreut, wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt. Von dieser Höhle will man sich nicht trennen.

Das Gehäuse hüllte die Menschen ein, die selbst für die Utensilien des Wohnens (»Sammethöhlen«) wiederum verschiedenste Höhlen bereithielten. Als die ersten, noch zaghaften Erscheinungsformen modernen Wohnens im Jugendstil auftauchten, erschütterten sie, wie Benjamin feststellte, »das Gehäusewesen aufs tiefste«. Doch der Jugendstil ließ allenfalls die ersten tektonischen Erschütterungen erahnen, die dem bürgerlichen Wohnkosmos drohten. Walter Benjamin hat sich während seiner Studien zur Genealogie der modernen Wohnung, die er in der Bibliothèque Nationale betrieb, ausführlich mit den Publikationen Dolf Sternbergers beschäftigt, der von einem Heim sprach, das die Jugendstilarchitekten zum quasi natürlichen Lebensraum ihrer Bewohner gestalteten. Diese Heimstatt drückte ihr Verwurzeltsein in einem ornamental arrangierten Pflanzenreich aus.

Welche Blüten der Jugendstil in den Wohngemächern trieb, zeigt sich beispielhaft in der Casa Lleo i Morera von Lluís Domènech i Montaner in Barcelona. Der rundum verglaste Erker verbreitet einen Farbenrausch, der auf Fauna und Flora anspielt. Die Familie Lleo i Morera brauchte nicht mehr eigens hinaus in die Natur zu gehen, sie hatte sich die friedliche und gezähmte Natur in die eigene Wohnung hinein geholt. Die Eigentümer der Jugendstilpaläste auf Barcelonas Paseo de Gràcia waren zumeist wohlhabende Textilfabrikanten, die in ihren Häusern »das Dröhnen der Städte, das ungeheure Toben […] der Industrien, die alles überziehende Macht der modernen Verkehrswirtschaft« auf Abstand halten wollten.

Als Walter Benjamin Mitte der dreißiger Jahre die Arbeit an seinem Passagen-Werk begann, lebte er freilich schon längst nicht mehr in der Epoche, die er darin beschrieb. Seit Antoni Gaudi 1926 von einer Straßenbahn tödlich verletzt worden war, war der fulminante katalanische Jugendstil am Ende. Im gleichen Jahr vollendete Walter Gropius das Dessauer Bauhaus. 1927 gestalteten Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, 1928 wurde im schweizerischen La Sarraz der legendäre Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) gegründet, und 1929 errichtete Mies van der Rohe anlässlich der Weltausstellung in Barcelona den Deutschen Pavillon, der zum Sinnbild Neuen Bauens im 20. Jahrhundert werden sollte. Benjamin wusste über diese Ereignisse bestens durch die Bücher von Le Corbusier und des CIAM-Generalsekretärs Sigfried Giedion Bescheid. Aus der Lektüre ihrer Schriften schloss er, dass das Gehäusewesen »heute abgestorben ist und das Wohnen sich vermindert hat. Für die Lebenden durch Hotelzimmer, für die Toten durch Krematorien.«

Das war auch ein Verweis auf seine eigene nomadische Existenz. Tatsächlich lebte Benjamin wiederholt in Hotels und in ständig wechselnden Pariser Logis. Der Hinweis auf die Krematorien wiederum klingt so, als hätte er seinen Selbstmord vom September 1940 und seine letzte Ruhestätte im Urnenfriedhof des katalanischen Grenzstädtchens Port Bou vorausgeahnt. Jedenfalls stellte Benjamin fest, dass nach der...

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