II
Gefangen zwischen
den Welten
I.
»Ich wollte einfach nicht abpissen!« Das war der längste Satz, den ich bis zu diesem Zeitpunkt von ihm zu hören bekommen hatte.
Waldemar Schumacher, ein junger Mann aus Sibirien, Anfang zwanzig, sprach nur gebrochen Deutsch und so leise in sich hinein, dass man schon sehr genau hinhören musste. Er roch noch Meter entfernt nach schalem Rauch, wie fast alle Gefangenen, die Tag für Tag, und vor allem Nacht für Nacht, in ihren kaum belüftbaren Hafträumen rauchten. Er trug die typische gräuliche, abgewetzte und vielfach geflickte Häftlingskleidung. Nur zum Sport durften die Gefangenen eigene Kleidung anziehen. Vielleicht wirkte er gerade deshalb so sympathisch, weil er eingeschüchtert und zurückhaltend auftrat. Er sah einem beim Sprechen nicht in die Augen und hielt die meiste Zeit über seinen Kopf gesenkt, als säße er vor einem hohen Gericht oder hätte dauernd Angst davor, geschlagen zu werden. In gewisser Weise traf das auch zu, zumindest was den Vergleich mit einem Gericht betrifft. Er saß vor mir im Rahmen eines Disziplinarverfahrens.
Zwei Tage in der Woche waren für die Disziplinierung von Gefangenen vorgesehen, die gegen Vorschriften verstoßen hatten. Das konnte das Nichtbefolgen einer Anordnung von Bediensteten, eine Schlägerei mit Mitgefangenen oder der Konsum von Alkohol oder Drogen sein. Es gab einen umfangreichen Kanon möglicher Disziplinarmaßnahmen, der vom Entzug der Einkaufsmöglichkeiten für Tabak oder Kaffee über die Aussetzung der Arbeit bis hin zum Arrest reichte.
Der Arrest, der etwa in Bayern immer noch als Disziplinarmaßnahme durchgeführt wird, ist eine Art verschärfte Einzelhaft für die Dauer von bis zu vier Wochen. Die Gefangenen werden in einem Haftraum ohne Fernseher und Radio untergebracht, als Lesestoff bekommen sie nur die Bibel oder ein anderes religiöses Grundlagenwerk ihrer Glaubensrichtung. Den Aufenthalt im Freien, der ihnen eine Stunde täglich zusteht, müssen sie getrennt von den anderen Gefangenen verbringen. Die übrigen 23 Stunden sind sie in dem Arrestraum eingesperrt.
Arrest wurde vor allem für den Konsum von Drogen in der Anstalt ausgesprochen. Die Drogen gelangten über ganz verschiedene Wege an die Gefangenen. In den unkontrollierbaren Körperöffnungen von Besuchern, über Gefangene, die Ausgang hatten, oder auch einfach in Tennisbälle eingearbeitet und über die Anstaltsmauer geworfen. Der Kampf gegen Drogen in der Anstalt glich einem Kampf gegen Windmühlen. Immer wenn ein Schmuggelweg aufgedeckt und versperrt worden war, wurden neue aufgemacht. Die meisten Gefangenen hatten schon vor ihrer Haft Drogen konsumiert, von den übrigen fingen viele in der Haft damit an.
Ein guter Teil unserer Arbeitskraft wurde in der Anstalt darauf verwendet, diesen Konsum und Handel von Drogen zu minimieren. Das glich nicht selten einem großen »Räuber-und-Gendarm-Spiel«. Drogenspürhunde kamen regelmäßig zum Einsatz. Hafträume wurden durchsucht, stundenlang, jedes noch so kleine mögliche Versteck. Gefangene, ihre Arbeitsplätze, Besucher, alle wurden ständig durchsucht. Manchmal nur durch Abtasten, manchmal auch verbunden mit Entkleidung. Wurde etwas gefunden, mussten ein Bericht gefertigt, eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft geschickt und Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen ausgesprochen werden. Ein riesiger Aufwand, der nichts, aber auch gar nichts brachte, um dem eigentlichen Ziel des Strafvollzuges, der Reintegration des Straftäters in die Gesellschaft, näher zu kommen.
Der Wert und der Preis von Drogen im Gefängnis ist immens und um ein Vielfaches höher als »auf der Straße«. Ein lukratives Geschäft für die Hintermänner. Drogenhändler im Knast zu sein lohnt sich mehr, als Drogenhändler in Freiheit zu sein.
Die Gefangenen mussten beim Verdacht eines Konsums Urin zur Kontrolle auf Drogen abgeben. Wer sich weigerte, wurde behandelt, als hätte er Drogen konsumiert. Oft gaben die Gefangenen allerdings an, sie würden selbstverständlich Urin abgeben, hätten aber unter der unmittelbaren Aufsicht nicht gekonnt. Anders Herr Schumacher, der nun vor mir saß.
Die Disziplinarverfahren liefen ab wie kleine Gerichtsverfahren. Es gab, vergleichbar mit der Anklageschrift, die Anzeige eines Bediensteten. Der Gefangene wurde dann von mir im Rahmen einer Art Hauptverhandlung damit konfrontiert und konnte Stellung beziehen. Auch wurden Beweise erhoben, indem zum Beispiel Zeugen vernommen wurden. In geheimer Beratung wurde sodann die Disziplinarmaßnahme festgelegt und dem Gefangenen im Anschluss eröffnet.
»Warum haben Sie denn keinen Urin abgegeben, Herr Schumacher?«
Er antwortete so leise, dass man ihn kaum hören konnte, während er vor sich auf seine gefalteten Hände sah: »Ich mag das nicht, wenn jemand zuschaut.«
»Haben Sie denn irgendwelche Drogen konsumiert?«
Hier sah Schumacher kurz auf: »Nein!«
Schumacher wirkte nicht nur so, als würde er nicht die Wahrheit sagen, sondern als hoffte er geradezu, ich würde sie dennoch aus seinen Worten herauslesen. »Haben Sie schon jemals Urin zur Kontrolle abgegeben?«
»Nein, ich musste das noch nie.«
»Und warum wurden Sie jetzt dazu aufgefordert?«
»Ein Mitgefangener hat den Beamten einen Tipp gegeben, dass ich mir angeblich was gespritzt hätte.«
Er wurde gesprächiger und schien etwas aufzutauen.
»Was denn angeblich?«
»Heroin.«
»Und wer war der Tippgeber?«
Schumacher nannte den Namen eines Mitgefangenen, der aus Kasachstan stammte, jedoch deutscher Staatsbürger war. Das war nun sehr auffällig. Die Gruppe der »russlanddeutschen« Gefangenen (so wurden alle deutschstämmigen Inhaftierten aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion genannt) war innerhalb der Anstalt eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie lebten in ihrer ganz eigenen Welt, mit eigenen Regeln und Strukturen. Nur selten gelang es uns, Einblick in diese Welt zu bekommen, ganz durchschaut haben wir sie nie. Und noch nie zuvor hatte ich es erlebt, dass ein Russlanddeutscher gegen einen anderen Russlanddeutschen aussagte. Ich hatte das Gefühl, dass Schumacher etwas sehr Schweres auf der Seele lag, von dem er sich nicht traute, es anzusprechen.
II.
Schumachers Lebenslauf war typisch für den vieler russlanddeutscher Inhaftierter. Seine Großeltern waren Nachfahren deutscher Siedler in Sibirien, wo seine Eltern und auch er geboren wurden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion siedelten seine Eltern wie viele andere aufgrund ihrer deutschen Staatsbürgerschaft in die Bundesrepublik über. Waldemar war damals noch im Vorschulalter. Wirklich integrieren konnte sich seine Familie nicht, die »Exil-Russlanddeutschen« blieben weitgehend unter sich. Man wohnte in eigenen Siedlungen am Rande der Stadt, sprach miteinander nur Russisch. Wenige fanden Arbeit, man lebte in den meisten Fällen von Kindergeld und Sozialhilfe. Lediglich die Kinder lernten zumindest in der Schule Deutsch, Waldemars Eltern und Großeltern sprechen es bis heute nicht oder kaum. Waldemar kam durch sein Elternhaus und auch gleichaltrige Russlanddeutsche bereits früh mit Alkohol und Drogen in Berührung und beging in der Gruppe kleinere Straftaten. Aktuell war er wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags in Haft.
Insbesondere Waldemars Vater, ein gelernter Schreiner, hatte Schwierigkeiten, in Deutschland zu einer positiven Identität zu finden. Er fand keine geregelte Arbeit und begann, immer stärker zu trinken. Er fing an, Waldemar, vor allem aber dessen Mutter zu schlagen. Seinen ganzen Frust, seine Wut auf sich selbst und sein Leben ließ er an ihnen aus. Vielleicht war er auch neidisch auf die beiden. Seine Frau besorgte den gesamten Haushalt und den Einkauf, kochte täglich und half Waldemar, als er noch zur Schule ging, bei den Hausarbeiten, so gut sie es mit ihrem Deutsch eben konnte. Dazu ging sie fast jeden Tag einige Stunden putzen, um das karge Familienbudget etwas aufzubessern. Ihr Mann tat überhaupt nichts – außer zu trinken. Jeden Tag. Mal zu Hause, mal auswärts. Waldemar hatte ihn, wie er sagte, nie nüchtern erlebt. Wenn sein Vater überhaupt einmal freundlich war, dann nie ihm, sondern nur seinen Saufkumpanen gegenüber. War nicht genug zu trinken in der Wohnung, musste Waldemar Nachschub holen. Er tat dies nicht nur aus Angst vor den Schlägen des Vaters, sondern immer auch in der Hoffnung, der Vater würde ihn dann mögen. Oder wenigstens anerkennen. Oder ihn zumindest nicht mehr hassen. Waldemar wurde jedes Mal enttäuscht, bis er irgendwann selbst Trost im Rausch suchte. Die Hoffnung aber blieb, über jeden Rausch hinweg. Und Waldemar konnte sich trotz seines Vaters nicht von seinem Elternhaus trennen. Oder vielleicht gerade wegen seines Vaters. Mit knapp zwanzig Jahren wohnte er – auch seiner Mutter zuliebe – immer noch zu Hause. Was würde mit ihr passieren, wenn er ginge? Warum die Mutter ihren...