Auftakt
Augen auf! Warum Ungleichheit ein Problem für alle ist
Stellen Sie sich vor, Sie sind alt oder, netter formuliert, einfach länger jung. Was würden Sie tun? Im Garten die schönsten Dahlien züchten, Lachyoga in Indien ausüben, mit den Enkeln rangeln oder einfach nur in der Hängematte liegen? Oder Flaschen sammeln? Womit keine schräge Sammelleidenschaft gemeint ist, sondern das Einsammeln von Pfandflaschen, die das Überleben sichern sollen. Kein schöner Ausblick. Aber dieser Ausblick ist ein tagtäglicher Anblick. In Bochum, wo ich lebe, sehe ich schick angezogene Menschen, die mein Vater oder meine Mutter sein könnten und verstohlen auf der Straße in Abfalleimer und Container schauen. Ich höre von Großmüttern, die Ladendiebstahl begehen, damit sie ihren Enkeln eine Tafel Schokolade zum Geburtstag schenken können. Das sind Menschen, die um die 80 Jahre alt, im Krieg aufgewachsen sind und schon in ihrer Kindheit nichts hatten. Viele von ihnen gingen mit zwölf Jahren von der Schule ab, um zu arbeiten. Wie mein Großvater, der im »Pütt«, im Bergwerk, gearbeitet hat. Die haben nicht nur gearbeitet, die haben malocht. Nach, sagen wir einmal, 55 Jahren Arbeit, Leistung für dieses Land, ist das das Dankeschön? Da krampft sich mein Herz zusammen, das macht mich maßlos wütend. Armes Deutschland, im doppelten Sinne.
Das sind doch Ausnahmen, sagen manche. Und anstelle von Gefühlen nennen sie Zahlen. Im Fernsehen hörte ich sagen: »Nur« 3 Prozent aller Rentner könnten als arm bezeichnet werden. Das sei nicht weiter relevant. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im Wahlkampf 2017, sie sehe vor dem Jahr 2030 keinen Handlungsbedarf, denn die Rente sei bis dahin stabil.
»Da krich ich de Pimpernellen«, und da kann ich meinen Ruhrpott-Slang auch nicht länger unterdrücken. Das hört sich für mich an wie die längst widerlegte Aussage des ehemaligen Arbeitsministers Norbert Blüm: »Die Rente ist sicher.« Man muss doch nur die Augen aufmachen! Dann sieht man den Handlungsbedarf und sieht, dass es mehr als 3 Prozent sind. Und selbst wenn nicht: 3 Prozent sind 3 Prozent zu viel. Diese 3 Prozent sind natürlich relevant, jeder Mensch ist relevant. 3 Prozent sind 500 000 relevante Menschen und eine halbe Million Gründe, um etwas zu tun. Wenn manche nur Statistiken heranziehen wollen, auch in Ordnung, aber sie sollten hinter die Fassade schauen. Es heißt, 3 Prozent aller Rentner bekommen die Grundsicherung, sozusagen Hartz IV für Alte. Das bedeutet, das sind diejenigen, die beschlossen haben, sich helfen zu lassen. Was ist mit den Rentnern, die zu stolz sind? Die sagen, dass sie ihr Leben lang gearbeitet haben und jetzt keine Hilfe vom Staat wollen. Die lieber mit 400 Euro im Monat klarkommen und dafür von 30 Tagen im Monat zehn Tage Nudeln, zehn Tage Kartoffeln und zehn Tage Suppe essen. Sie sind nicht in der Studie vertreten, die ARD geht somit von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Sie fand in einer Umfrage heraus, dass rund 15 Prozent von Altersarmut betroffen sein könnten. Und es sollen mehr werden.
An die Leser, denen beim Thema Rente schon die Augen zugefallen sind: Augen auf! Es betrifft nicht nur die heutigen Rentner. Wir alle werden alt. Und wir haben ein Problem. Die Zahl der Rentner, die Grundsicherung erhalten, hat sich seit 2003 verdoppelt.1 Es gibt zahlreiche Prognosen, dass das nicht besser werden soll. Denn wir haben nicht nur ein Problem. Wir haben viele Probleme: Wir werden immer älter und wahrscheinlich auch immer ärmer. Kann ein Rentensystem, in dem die Arbeitnehmer für die Rentner zahlen, funktionieren, wenn es immer mehr Senioren gibt? Früher kamen auf einen Rentner vier Beitragszahler, heutzutage sind es zwei, bis 2030 soll es nur noch einer sein.2 Dies wird in Kapitel zwei näher beleuchtet, doch das zeigt nur, dass wir nicht bis 2030 warten sollten, um etwas zu ändern. Schon jetzt meldete das Bundesarbeitsministerium: Fast jeder zweite Rentner bekommt unter 800 Euro im Monat.3
Ich werde eine von ihnen sein. In etwa 20 Jahren gehe ich in Rente, und mir wurde ausgerechnet, dass ich etwa 715 Euro im Monat bekommen werde. Genauer gesagt: 715 Euro und 9 Cent. Das wird es nicht rausreißen. Wenn diese 715 Euro jetzt kaum reichen, um die Miete, Nebenkosten und Lebensmittel zu bezahlen, wie soll es dann später sein? Es ist damit zu rechnen, dass sie wegen der Inflation nicht mehr das wert sind, was sie jetzt wert wären. Dann werde ich vielleicht eine von den Sammlerinnen sein. Das ist nicht pessimistisch, das ist realistisch. Viele sehen das wohl ähnlich. Vier von fünf Deutschen bezweifeln laut einer repräsentativen OECD-Umfrage, dass ihre Rente reichen wird. Dies besagt, dass es die größte wirtschaftliche und soziale Angst in Deutschland ist.4 Wem wird die Rente am häufigsten nicht reichen? Menschen, die weniger verdienen als der Durchschnitt, und Menschen, die nicht durchgehend in die Rentenversicherung eingezahlt haben.5 Denn die Höhe der späteren Rente hängt von der eingezahlten Summe ab, und die orientiert sich am Einkommen. Häufig sind das Menschen, die in Teilzeit gearbeitet haben und zwischendurch arbeitslos oder krank waren. Das sind also Menschen, von denen sicherlich auch einige unverschuldet in die Arbeitslosigkeit und in die Berufsunfähigkeit gerutscht sind. Größtenteils sind das aber Arbeitnehmer mit Vollzeitjobs im Niedriglohnsektor, davon gibt es zurzeit in Deutschland 4,2 Millionen. Sie verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens. Dieses beträgt 1733 Euro brutto im Osten und 2226 Euro im Westen Deutschlands.6 Wer nur 60 Prozent davon zur Verfügung hat, also im Schnitt 1096 Euro netto, gilt als arm.7 Das ist in etwa die Summe, die ich jeden Monat auf mein Konto überwiesen bekomme, zwischen 1050 und 1100 Euro, je nachdem, wie viele Arbeitstage der Monat hat. Und das, obwohl ich sieben Stunden am Tag putze und wische und schwitze – ich arbeite als Reinigungsfachkraft in einem Krankenhaus.
Die Zahlen sagen uns also, dass die 80-Jährigen von morgen nicht die sind, die im Krieg aufgewachsen sind und im Bergwerk gearbeitet haben, aber dass auch sie malocht haben. Das sind weitere Reinigungskräfte, Busfahrerinnen, Friseure, Verkäufer, Logistiker, Pflegekräfte, Erzieherinnen, Servicekräfte, Landwirte, Bauarbeiter, Mitarbeiter der Müllabfuhr, Bäckerinnen. Die Mütter und Väter, die ja auch Arbeit leisten, nicht zu vergessen. Die Liste könnte endlos fortgeführt werden, und was fällt auf? Das sind Menschen, die unser Land zusammenhalten, die es am Leben erhalten. Wenn sie die Wischmopps in die Ecke stellen, die Kinder nicht mehr erziehen, die Patienten nicht mehr pflegen, den Müll nicht mehr abholen, die Straßen nicht mehr teeren, den Weizen nicht mehr ernten, das Band nicht mehr bedienen – dann sähe es für alle – und nicht mehr nur für einen Teil der Gesellschaft – traurig aus. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Denn auch die, die wenig verdienen, verdienen es, in Würde zu leben. In der Zeit, in der sie arbeiten, und in der danach. Alle sollten gut leben können, aber dass es nicht einmal die können, die arbeiten, ist ein Armutszeugnis für dieses Land. Ein Land, das noch nie weniger Arbeitslose hatte und wirtschaftlich großen Erfolg hat. Das Exportland Nr. 1. Doch von dieser Entwicklung haben nicht alle etwas. In Deutschland ist die Schere zwischen Arm und Reich so groß wie vor 100 Jahren, in der Nachkriegszeit war sie nie höher.8 Es gibt ein deutsches Sprichwort, das frei zitiert besagt, dass die Menschlichkeit einer Gesellschaft daran zu erkennen ist, wie sie ihre schwächsten Mitglieder behandelt. Wie geht sie mit den Kindern, den Kranken, den Menschen mit Behinderungen um? Den Alten und Armen? Wie geht sie mit denen um, die sie zu den Schwächsten macht, den Migranten, den Frauen?
Sicher, jeder bekommt hier ein Dach über dem Kopf, Essen und eine Krankenversicherung, die meisten bekommen Arbeit. Das ist wahr, aber schaut man genauer hin, haben manche vielleicht ein Dach über dem Kopf, aber nicht Geld genug zum Heizen, sie haben vielleicht zu essen, aber sie können sich kein hochwertiges Gemüse und Obst leisten, sie haben eine Arbeit, aber nur eine prekäre. Ich meine: Das muss nicht sein. Und das darf nicht sein. Deutschland muss endlich etwas tun, und zwar das Richtige.
Denn während an Symptomen der Altersarmut, der Rentenkrise herumgedoktert wird, vergisst man, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Man diskutiert darüber, die Rentenbeiträge für die Arbeitnehmer anzuheben, doch das Einzige, was angehoben werden sollte, sind die Löhne. Und das ist längst überfällig. Aber nein, es wird einfach weiterdiskutiert, während Menschen leiden. Es muss endlich etwas passieren.
In Kapitel 4 »Tut etwas! Die Rente retten« werden einige Forderungen geltend gemacht und Vorschläge unterbreitet, die nötig sind, um diese Krise abzuwenden. Was mich dazu befähigt, dieses Buch zu schreiben, möchten sich manche vielleicht fragen. Ich bin keine Expertin, das heißt aber nicht, dass ich nicht die Meinung von Experten sammeln kann. Ich bin keine Politikerin, aber ein Teil der Demokratie. Ich habe es satt, dass die Diskussion oft ohne die Menschen geführt wird, die es am meisten betrifft.
Die Diskussion geht meiner Meinung nach zu oft am Punkt vorbei. Wie auch momentan: Das Thema Rente ist hochaktuell, da die SPD eben doch einen »Handlungsbedarf« sieht und eine Grundrente...