Kapitel 1
Das Versprechen der stoischen Philosophie
Kein Baum wird kräftig und entwickelt tiefe Wurzeln, wenn er nicht von starken Winden getroffen wird. Erst dieses Rütteln und Schütteln bringt den Baum dazu, seine Wurzeln zu festigen und sicherer zu verankern; fragile Bäume sind dagegen in einem sonnigen Tal gewachsen. »Warum also«, fragt Seneca, »wunderst du dich, dass gute Menschen erschüttert werden, damit sie stark werden?« Genau wie bei den Bäumen sind heftiger Regen und starker Wind von Vorteil für gute Menschen, so können sie Ruhe, Disziplin, Bescheidenheit und Stärke entwickeln.
So wie der Baum seine Wurzeln festigen muss, um nicht bei jeder Brise umzufallen, müssen wir unsere Position stärken, wenn wir nicht von jeder Kleinigkeit aus der Bahn geworfen werden wollen. Genau dabei hilft die stoische Philosophie – sie wird Sie stärker machen, sie wird den gleichen Regen und Wind leichter erscheinen lassen und sie wird dafür sorgen, dass Sie sich jederzeit auf den Beinen halten können. Mit anderen Worten, sie wird Sie darauf vorbereiten, mit jedwedem stürmischen Wetter, das das Leben Ihnen bringen mag, effektiver umzugehen.
Von ringenden Philosophen bis hin zu emotionalen Wölfen, dieses erste Kapitel beinhaltet alles, was Sie über das Versprechen der stoischen Philosophie wissen müssen, und zeigt Ihnen, warum Sie in den Stoizismus einsteigen sollten.
Warnung: In diesem Buch werden Ihnen einige fremdartig erscheinende Wörter wie Eudämonie oder Arete begegnen. Lassen Sie sich durch ihr unbekanntes Aussehen nicht dazu verleiten, einfach weiterzublättern, sondern bleiben Sie standhaft und stark. Es lohnt sich, durchzuhalten, und Sie können diese Wörter sogar in Ihr Alltagsvokabular aufnehmen. Und hey, es gibt keine antike Philosophie ohne zumindest ein paar komplizierte Wörter.
Praktizieren Sie die Kunst des Lebens: Werden Sie ein Kriegerphilosoph
»Mach dir zunächst klar, was du sein möchtest; und dann tue, was du tun musst.«
– EPIKTET
Wie kann man ein gutes Leben führen? Diese klassische philosophische Frage steht am Anfang des primären Anliegens der stoischen Philosophie: Wie man sein Leben leben sollte oder »die Kunst des Lebens«. Der Stoiker Epiktet (im Deutschen auch oft Epiktet genannt) verglich Philosophie mit Handwerkern: Wie das Holz für den Zimmermann und die Bronze für den Bildhauer, so ist unser eigenes Leben das richtige Material in der Kunst des Lebens. Philosophie ist nicht den weisen alten Männern vorbehalten, sie ist ein unverzichtbares Handwerk für jeden, der lernen will, wie man gut lebt (und stirbt). Jede Lebenssituation stellt eine leere Leinwand oder einen Marmorblock dar, den wir formen und an dem wir üben können, sodass wir im Laufe des Lebens unser Handwerk immer besser beherrschen. Das ist der Kern des Stoizismus, er lehrt uns, wie man sich im Leben auszeichnet, er bereitet uns darauf vor, Widrigkeiten ruhig zu begegnen, und er hilft uns schlicht und ergreifend dabei, ein gutes Leben zu gestalten und zu genießen.
Wie erreicht man es, gut zu leben? Laut Epiktet gehören dazu weder Reichtum noch ein Spitzenamt und auch keine Führungsposition. Es muss noch etwas anderes geben. So wie jemand, der eine gute Handschrift haben will, üben und viel über Handschrift wissen muss, oder jemand, der gut Musik machen will, ein Instrument erlernen und sich mit Musiklehre befassen muss, muss auch jemand, der gut im Leben sein will, über gute Kenntnisse verfügen, wie man lebt. Das ergibt Sinn, oder? Seneca, ein weiterer wichtiger stoischer Philosoph, den wir in Kapitel 2 kennenlernen werden, sagte einmal: »Der Philosoph ist jemand, der das Wesentliche weiß: wie man lebt.«
»Philosoph« bedeutet wörtlich aus dem Griechischen übersetzt »Freund der Weisheit«. Ein Philosoph ist jemand, der es liebt, zu lernen, wie man lebt, jemand, der praktische Weisheit darüber erlangen möchte, wie man sein Leben tatsächlich leben sollte. Wie wir bereits von Epiktet erfahren haben: Wenn wir gut im Leben werden wollen, müssen wir Wissen darüber erlangen, wie man am besten lebt. Es mag Sie überraschen, aber Philosophie ist tatsächlich eine Frage der Praxis. Sie lehrt uns, wie wir unser Leben gestalten können. Durch Nachdenken und Philosophieren über den leeren Marmorblock werden wir nicht lernen, wie wir Hammer und Meißel geschickt einsetzen können. Den Stoikern ging es vor allem darum, die Philosophie im Alltag anzuwenden. Sie sahen sich selbst als wahre Krieger des Geistes und glaubten, das Hauptziel eines Studiums der Philosophie sei, sie in die Praxis umzusetzen.
Der Autor Donald Robertson hat in seinem Buch The Philosophy of Cognitive Behavioral Therapy einen großartigen Vergleich gezogen. Er schreibt, in der Antike sei der ideale Philosoph ein wahrer Krieger des Geistes gewesen, aber in der Neuzeit sei der Philosoph »eher auf Bücher versessen, er ist kein Krieger, sondern nur ein Bibliothekar des Geistes«. Stellen Sie sich den alten grauhaarigen Philosophielehrer vor. Wir wollen stattdessen ein Krieger sein. Das Wichtigste ist nicht unsere Fähigkeit, stoische Prinzipien rezitieren zu können, sondern sie in der realen Welt auch tatsächlich zu leben. Epiktet drückte genau das aus, als er seine Schüler fragte: »Wenn ihr diese Dinge nicht gelernt habt, um sie in der Praxis anzuwenden, wofür habt ihr sie dann gelernt?« Er fuhr fort, sie – seine Schüler – seien nicht hungrig und mutig genug, um in die Welt hinauszugehen und die Theorie in der Praxis zu demonstrieren. »Deshalb möchte ich nach Rom entfliehen, um meinen Lieblingsringkämpfer in Aktion zu sehen; wenigstens er setzt die Richtlinien in die Praxis um.«
Wahre Philosophie besteht aus ein wenig Theorie und viel Praxis, wie das Ringen in der Antike und das Surfen in der Moderne. Denken Sie daran, dass wir beim Surfen vor dem Üben im Wasser einen kurzen Theorieteil am Strand haben. Hohe Wellen sind allerdings bessere Lehrer als schwere Lehrbücher. Und der Stoizismus verlangt genau das, nämlich in die wirkliche Welt hinauszugehen und das, was wir in der Theorie gelernt haben, entschlossen anzuwenden. Unser Leben bietet mit seinen unzähligen Wellen und seinen unbehauenen Marmorblöcken den perfekten Trainingsplatz für die tägliche Praxis.
Diese praktische Dimension des Stoizismus zur »Kunst des Lebens« beinhaltet zwei Hauptversprechen: Erstens lehrt er, wie man ein glückliches und reibungslos verlaufendes Leben führt, und zweitens lehrt er, wie man emotional belastbar bleibt, sodass man dieses glückliche und reibungslose Leben auch im Angesicht von Widrigkeiten beibehalten kann. Widmen wir uns nun dem ersten Versprechen und nehmen dabei gleich auch das erste der komplizierten Wörter in Angriff: Eudämonie.
Versprechen #1: Seelisches Wohlbefinden
»Sieh in dein Inneres. Dort ist die Quelle des Guten; und sie ist jederzeit dazu bereit, zu sprudeln, solange du nur gräbst.«
– MARK AUREL
Stellen Sie sich die beste Version Ihrer selbst vor. Sehen Sie in sich hinein. Erkennen und wissen Sie, wer diese beste Version von Ihnen ist, diejenige, die in allen Situationen richtig handelt, die keine Fehler macht und unschlagbar erscheint? Wenn Sie mir auch nur ein klein wenig ähneln und bereits versucht haben, sich als Mensch zu verbessern, dann kennen Sie wahrscheinlich diese ideale Version von sich. Nun, auf Griechisch hieße diese beste Version der innere Dämon, ein innerer Geist oder göttlicher Funke. Im Altertum war für die Stoiker und auch für alle anderen Schulen der Philosophie das oberste Ziel des Lebens die Eudämonie, das heißt, sich mit seinem inneren Dämon gut (eu) zu stellen (nicht zu verwechseln mit dem Dämon im Sinne eines bösartigen Wesens).
Die Stoiker glaubten, dass die Natur will, dass wir diese ideale Version von uns selbst werden. Deshalb ist der innere Dämon (oder göttliche Funke) uns allen als Samen eingepflanzt worden, sodass es in unserem natürlichen Potenzial liegt, diese beste Version von uns selbst zu werden. Mit anderen Worten, es liegt in unserer Natur, das zu vollenden, was mit diesem göttlichen Samen begonnen wurde, und unser menschliches Potenzial zum Leben zu erwecken. Uns mit unserem inneren Dämon gut zu stellen, in Harmonie mit unserem idealen Selbst zu leben, bedeutet daher, dieser Version unseres Selbst so nahe wie möglich zu kommen.
Wir sollten also die Lücke schließen zwischen dem, der wir sein können (unser ideales Selbst), und dem, der wir in diesem Moment tatsächlich sind. Wie können wir das tun? Auch dafür hatten die Stoiker ein Wort: Arete. Kurz gesagt, heißt Arete so viel wie »Tugend« oder »Vortrefflichkeit«, aber es hat eine tiefere Bedeutung – so etwas wie »jederzeit die beste Version...