Die Schilddrüse - Der kleine Generator
Das Herz pumpt Blut, die Lunge atmet und das Hirn denkt. So weit sind die grundlegenden Körperfunktionen eines Säugetieres schon Grundschülern bekannt. Die meisten Erwachsenen können so gut wie jedem Organ eine Aufgabe zuordnen. Auf die Schilddrüse angesprochen, sind viele jedoch erst einmal ratlos. Und das ist überraschend, da etwa 30 Prozent der Deutschen Probleme mit diesem Organ haben. Weiter nachgefragt, geht das Wissen vieler allerdings nicht über den Umstand hinaus, dass sie Schilddrüsenmedikamente nehmen müssen. Das »Warum« bleibt meist unbeantwortet.
Den meisten Menschen ist wohl klar, dass, wenn das Herz versagt, der Transport des Blutes zum Erliegen kommt, was unweigerlich einen Herz-Kreislauf-Stillstand und in letzter Konsequenz den Tod zur Folge hat. Das Krankheitsverständnis – und daraus folgend die Einsicht, einer bestimmten Therapieempfehlung nachzukommen – leitet sich in diesem Fall unweigerlich vom grundlegenden Verständnis der Funktion des Herzens ab. Da es aber schwierig ist, die Schilddrüse als Organ zu verstehen, weil sie in komplexen Interaktionen mit so gut wie allen anderen Organsystemen steht, ist es umso verzwickter, Funktionsstörungen und damit Therapieschemata zu begreifen. Diese Unsicherheit kann in der Folge zu einer schweren Disharmonie zwischen unserem so wichtigen Schmetterlingsorgan und dessen Besitzer führen. Als Konsequenz entsteht oft ein problematischer Hang zu Eigen- und Alternativtherapien – mit fatalen Folgen für den Betroffenen.
Um das zu vermeiden, ist das Verständnis der kleinen und doch so wichtigen Drüse von grundlegender Bedeutung …
DAS STOFFWECHSELGEHIRN
Unsere Gesellschaft ist schnelllebig geworden. Jeder Handgriff wird akribisch geplant, unsere Terminpläne sind oft Wochen und Monate im Voraus ausgebucht. Da ist es keine große Überraschung, dass sich immer mehr Menschen müde und ausgebrannt fühlen. Eine logische Konsequenz sind häufig auftretende mentale und schließlich auch körperliche Symptome. Die Haare werden immer dünner, die Haut ist trocken und spröde, das Körpergewicht macht, was es will, der Magen-Darm-Trakt stellt völlig auf stur und alles scheint jeder versuchten Einflussnahme zu trotzen. Spätestens jetzt suchen die meisten Menschen einen Arzt auf. Nicht selten fördert schon eine einfache Blutentnahme Erstaunliches zutage.
Kleine Abweichung – große Auswirkung
»Ihre Schilddrüsenwerte stimmen nicht. Das müssen wir uns mal genauer anschauen.« Diesen Satz hören 30 bis 40 Prozent aller Hilfesuchenden. Was sich allerdings hinter dem winzigen, aber hochkomplexen Organ in unserem Hals verbirgt und wie sich selbst kleinste Änderungen im Haushalt der Schilddrüsenhormone radikal auf unser Leben auswirken, davon haben wohl die wenigsten eine Vorstellung. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Konzentration der Hormone in Schilddrüsenpräparaten in Mikrogramm gemessen wird, also mindestens um den Faktor zehn geringer ist als bei den meisten anderen Präparaten, dann wird einem schnell klar, wie feinfühlig das gesamte System Schilddrüse ist. Es ist also ein Leichtes, hier Unordnung hineinzubringen. Trotz der geringen Konzentration, in der die Schilddrüsenhormone im Blut vorkommen, ist ihre Wirkung an so gut wie allen Organen beeindruckend. Es genügt eine winzige Änderung in der Konzentration, und der Betroffene erkennt sich kaum wieder.
Schilddrüsenhormone beeinflussen aber nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche des Menschen. Je nachdem, ob zu viele oder zu wenige von ihnen vorliegen, kann das zu unkontrollierbaren Abweichungen von normalen Körperfunktionen oder vom normalen Körperempfinden führen. Den Unterschied zwischen Gewichtszunahme auf der einen und einem überaktiven Stoffwechsel, der es dem Betroffenen schwer macht, überhaupt ein bisschen zuzunehmen, auf der anderen Seite oder zwischen chronischer Müdigkeit, Abgeschlagenheit und fehlender Libido einerseits und einer kaum zu bändigenden Aktivität andererseits können schon ein paar wenige Hormone ausmachen, deren absolute Menge so gering ist, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen könnte. So sind wir alle abhängig von einer kleinen Drüse im Hals, die in verschwindend geringem Maße Hormone produziert, die ihrerseits wiederum all das beeinflussen, was uns ausmacht, und von der die meisten Menschen doch kaum etwas wissen. Funktionsstörungen des kleinen Organs haben dramatische Auswirkungen, nicht nur auf die Drüse selbst, sondern auf so gut wie alle anderen Organe des menschlichen Körpers, was sie zu einer Art medizinischem Chamäleon macht. Im Gegensatz zu Erkrankungen anderer Körpersysteme, wie etwa der Lunge oder des Herzens, verursacht die der Schilddrüse keine klassischen Symptome, sondern zwingt die Patienten oft zu einem monate- oder sogar jahrelangen Ärztemarathon. Dabei werden nicht selten Fachärzte verschiedenster Fachrichtungen konsultiert, die den Betroffenen die allerbeste Gesundheit bescheinigen – obwohl diese sich nicht gesund fühlen. Oft endet die Odyssee mit der verzweifelten Frage, ob die eigenen Symptome nicht vielleicht doch auf die Psyche zu schieben sind – dabei wäre ein einziger Laborwert völlig ausreichend, um dem Übeltäter auf die Schliche zu kommen. Denn Schilddrüsenfunktionsstörungen sind bei Weitem keine Seltenheit: Um die 30 Prozent der Deutschen leiden darunter – mit schwerwiegenden Folgen ...
DIE SCHILDDRÜSE – WAS GENAU IST DAS EIGENTLICH?
Stellen Sie sich eine klitzekleine Knospe vor, die an einem winzigen Stängel sitzt, welcher aus ein paar Zellschichten besteht. Dieser winzige Gewebsknubbel ist aus lediglich zwei Zellen hervorgegangen, die an sich nicht einmal richtige Zellen waren, weil sie nämlich nur jeweils einen halben Chromosomensatz besaßen. Nach deren Verschmelzung jedoch entsteht eine gänzlich neue Zelle mit völlig neuen Eigenschaften. Und weil die sich tierisch des Lebens freut, macht sie erst einmal genau das, woraus sie selbst entstanden ist: Sie vermehrt sich. Aber das passiert nicht einfach ziellos und ohne Plan, sondern folgt einem genau vorgeschriebenen Algorithmus, den wir bis heute noch nicht komplett verstanden haben. Er sorgt dafür, dass aus jenen zwei halben Zellen (von Mutter und Vater) ein riesiges Zellkonglomerat entsteht, dem die Eltern später die Namen Eva, Karla oder Heinz geben.
Die Schilddrüse wandert vom Zungengrund in den Hals. Wenn sie auf ihrem Weg ein paar Zellen »verliert«, kann ein dritter Schilddrüsenlappen entstehen.
Eine vergnügliche Rutschpartie
Irgendwann im Laufe der Entwicklung, der sogenannten Embryogenese, genauer gesagt am 22. Tag nach der Befruchtung sprießt eben jener kleine Knubbel aus ein paar Stammzellen – das sind Zellen, aus denen jede mögliche Art Gewebe entstehen kann – heraus und beschließt, zur Schilddrüse zu werden. Dumm nur, dass der Bursche sich in einem Bereich des Embryos entwickelt hat, der eher dem Mund des sich formenden Menschlein zuzuordnen ist, wobei dieser »Mund« momentan noch eher aussieht wie ein paar Fischkiemen, weniger wie ein richtiger Mund. Nichtsdestotrotz muss sich der Gewebeknoten doch irgendwie einen anderen Ort suchen, um zu wachsen, denn im Mund, genauer gesagt auf dem Mundboden, also dort, wo sich später der hintere Teil der Zunge befindet, kann er nicht bleiben. Aber kein Problem! Die wenigen Zellen rutschen einfach ein Stockwerk tiefer. Und tatsächlich kann man sich die Migration der Schilddrüsenknospe wie eine fröhliche Rutschpartie im Schwimmbad vorstellen. Rutsche Black Neck, nur für Fortgeschrittene und nur hintereinander rutschen! Dem Verlauf des embryonalen Schlauches, der später mal zum Magen-Darm-Trakt wird, folgend, macht sich die Urschilddrüse auf den Weg nach unten, so lange, bis sie am Eingang zum Brustkorb stecken bleibt. Von hier aus kommt man nur mit VIP-Ticket weiter. Manchmal »verliert« der Zellhaufen auf seinem Weg nach unten ein paar Zellkollegen, die sich dann auf der Rutschbahn festsetzen und den sogenannten Lobus pyramidalis bilden. Dabei handelt es sich um einen dritten Schilddrüsenlappen (die normale Schilddrüse besteht aus zwei Lappen, wir kommen gleich darauf zurück), der bis zum Zungengrund reichen kann und bei etwa 30 Prozent der Bevölkerung vorhanden ist.
Endokrine und exokrine Drüsen
Nachdem wir jetzt wissen, wie die Schilddrüse dorthin kommt, wo sie dann das ganze Leben lang sitzt, sollten wir uns der Frage widmen, um was es sich bei einer Drüse denn eigentlich handelt.
Die Mediziner unterscheiden sogenannte endokrine von exokrinen Drüsen. Beide vereint ihre Eigenschaft, Hormone oder Enzyme zu produzieren. Hormone sind Stoffe, die durch ihre Wirkung an bestimmten Rezeptoren in Körpergeweben Signale weitergeben können und so spezielle Körperfunktionen beeinflussen. Dabei gehen sie meist nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip vor. Das bedeutet, dass die Hormone zwar im gesamten Körper über den Blutstrom zirkulieren, aber nur in denjenigen Geweben wirken, die den entsprechenden Rezeptor, also das Schloss, zu dem ihr Schlüssel passt, besitzen (siehe Abbildung, >). Enzyme wiederum werden gebraucht, um spezielle Reaktionen im menschlichen Stoffwechsel zu beschleunigen. Ohne Verdauungsenzyme beispielsweise würde es Monate dauern, bis sich eine Mahlzeit in ihre Bestandteile aufgelöst hätte. Die freigesetzte Energie, von der unser Körper lebt,...