1 Die Pflege eines Angehörigen – eine ganz besondere Erfahrung
Die Pflege eines Angehörigen stellt immer eine besondere Herausforderung im Leben aller Betroffenen dar. Der Zustand kann plötzlich eintreten (z. B. als Folge eines Schlaganfalls) oder ein schleichender Prozess sein.
Manchmal muss der Pflegebedürftige seine Selbstständigkeit schrittweise aufgeben. Er muss lernen, selbst mehr Hilfe anzunehmen und um Hilfe zu bitten. Er muss lernen, nun anderen Menschen zu vertrauen und Geduld beweisen. Er muss nun vielleicht Bedürfnisse offenbaren, die ihm peinlich sind.
Die Entscheidung, die Versorgung und Pflege eines Angehörigen ganz oder teilweise zu übernehmen, verdient Respekt und Anerkennung. Trotzdem sollte diese Entscheidung gut überdacht werden. Die Pflegesituation kann über viele Jahre andauern.
Pflegende Angehörige haben der Autorin oft berichtet, wie traurig sie sind, die letzten Lebensjahre nicht wie geplant mit interessanten Reisen oder schönen Beschäftigungen auszufüllen, sondern mit der Pflege des Partners. Es ist oft nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für sein Umfeld eine große Herausforderung, die Pflegesituation anzunehmen.
Besonders schwer ist es für Mütter, die ihre (schon erwachsenen) Kinder pflegen müssen. Auf der anderen Seite hat die Autorin auch viele Kinder erlebt, die ihre Eltern viele Jahre hingebungsvoll pflegten. Die dabei oft zu Tage tretende tiefe Dankbarkeit und gegenseitige Liebe ist bewunderns- und auch ein wenig beneidenswert.
Eine außergewöhnliche Belastung entsteht, wenn ein minderjähriges Kind (oder mehrere minderjährige Kinder) ein Elternteil pflegen müssen, da der andere Elternteil andere Wege gegangen ist.
Die Beziehungen zwischen den Akteuren in einer Pflegesituation verändern sich. Die Grundlagen für Unterstützung und Vertrauen werden jedoch meist schon vor der Pflegesituation gelegt. Wichtig ist, dass vom Pflegebedürftigen und vom Pflegenden die Pflegesituation angenommen wird und beide damit einverstanden sind. Es gibt vor der Übernahme der Pflege und Versorgung einige Aspekte zu bedenken:
• Warum möchten Sie diese Aufgabe übernehmen? Ist es vielleicht aus Pflichtgefühl, der Wunsch zu helfen, Dankbarkeit, die Vermeidung von Schuldgefühlen oder aus Verbundenheit und Liebe? Oder sind die Meinungen anderer, das gute Gefühl gebraucht zu werden, Mitleid, Nächstenliebe oder finanzielle Aspekte ausschlaggebend für diese Entscheidung? Oder gibt es vielleicht gerade keine andere Möglichkeit, z. B. weil kein Platz in einer Pflegeeinrichtung zur Verfügung steht?
• Sind Sie bereit, den Pflegebedürftigen auch über einen längeren Zeitraum zu unterstützen und zu versorgen? Können Sie sich diese enge Beziehung/Abhängigkeit tatsächlich gut vorstellen?
• Sind Sie (auch gesundheitlich) in der Lage, diesen körperlich (und ggf. auch geistig) geschwächten Menschen über längere Zeit zu versorgen und damit die Verantwortung für Sie beide zu übernehmen? Trauen Sie sich zu, diese tiefgreifende Umstellung in Ihrem Leben, verbunden vielleicht auch mit Lebenskrisen, zu bewältigen?
• Gibt es jemanden, der Ihnen helfen kann, bzw. an welchen Stellen benötigen Sie Unterstützung?
Um diese Fragen zu beantworten, sollten Sie auch in die Vergangenheit schauen:
• War die Beziehung in der Vergangenheit so, dass Sie sich diese Aufgabe gut vorstellen können?
• Wie stand der Pflegebedürftige früher zu Ihnen?
• Hatten Sie zu dem Pflegebedürftigen immer, noch bis heute, ein gutes Verhältnis? Oder spüren Sie (innere) Widerstände, gar Ablehnung?
Wichtig ist auch zu klären, wie der Pflegebedürftige seine Situation selbst sieht:
• Kann er die Situation annehmen oder macht er andere dafür verantwortlich?
• Wie reagiert er auf das Angebot, dass Sie ihn pflegen wollen?
• Ist er dankbar oder eher fordernd?
• Kann er seine Lebenssituation noch richtig einschätzen oder ist er manchmal verwirrt?
• Wie kommen Sie damit zurecht?
Bevor Sie sich für eine Pflege in der Häuslichkeit entscheiden, sollten diese Fragen ehrlich beantwortet werden. Denn mit einem unzufriedenen Pflegebedürftigen oder einer überforderten Pflegeperson ist keinem geholfen. Dabei sollte es für Sie niemals darum gehen, was andere (z. B. andere Familienangehörige, Nachbarn, Freunde) erwarten oder denken.
Beispiel
Ein 53-jähriger Mann erkrankt an einem Tumor. Die Krankheit ist unheilbar. Der Kranke ist seit 30 Jahren verheiratet. Der gemeinsame Sohn ist verheiratet und lebte im Nachbarort. Die gemeinsame Tochter lebte ca. 300 km entfernt und hat selbst eine kleine Familie.
Die Ehefrau ist nicht bereit, die Pflege des Mannes zu Hause zu übernehmen. Dies teilt sie den eigenen Kindern aber nur sehr zögerlich mit. Selbst die Besuche im Krankenhaus sind sehr begrenzt und distanziert. Gegenüber dem Ehemann und dem Pflegepersonal wird angegeben, dass die räumlichen Bedingungen und Transportschwierigkeiten eine Pflege zu Hause unmöglich machen. Die Ehe war immer sehr schwierig gewesen und der Sterbende war früher gegenüber seiner Frau oft gewalttätig geworden. Die Familie hatte darüber jedoch immer geschwiegen und Probleme wurden nie offen angesprochen. Der Tumorkranke verstirbt schließlich auf der Palliativstation des Krankenhauses, ohne noch einmal nach Hause gekommen zu sein.
Aus persönlicher Erfahrung ist der Autorin vertraut, dass selbst für Pflegefachkräfte die Versorgung eines Angehörigen eine besondere Herausforderung darstellt. Zum Angehörigen haben die meisten Menschen eine andere emotionale Beziehung als z. B. zu einem Patienten.
Es kann also durchaus sein, dass eine Ehefrau trotz 40 Jahren Ehe ihren Ehemann nicht pflegen kann oder möchte, weil eben auf der emotionalen Ebene so viel geschehen ist, was dagegenspricht.
Das sollten möglichst beide Seiten akzeptieren und auch z. B. die Kinder, die vielleicht eine ganz andere Erwartung an die Mutter haben, nämlich die Versorgung des pflegebedürftigen Vaters. Erfahrungsgemäß wird über die Erwartungen und auch über mögliche Ängste gegenüber Dritten oft nicht gesprochen. So werden manchmal Chancen verpasst, um für alle eine zufriedenstellende Lösung zu finden.
In der Versorgung von pflegenden Angehörigen liegt auch die Chance, alte schwierige Situationen gemeinsam zu verzeihen. Dazu gehört allerdings eine große Bereitschaft zur Offenheit und des Verzeihen-Könnens auf beiden Seiten.
Beispiel
Eine 83-jährige Dame wird immer hilfebedürftiger. Nach einem Sturz kommt ihre Tochter, selbst 62 Jahre alt, und hift bei allen Aktivitäten, bis die Dame wieder selbstständig ist. In dieser Situation kommt die Tochter der Mutter seit Jahren wieder näher. Sie hat endlich den Mut, ein schweres Problem aus der Kindheit anzusprechen. Leider hat die Pflegebedürftige keine Erinnerung an diesen für die Tochter wohl sehr wichtigen Vorfall. Trotz des Versuches kommt es nicht zur Aussprache. Die Tochter bleibt mit der Erinnerung an die lange zurückliegende schwierige Situation allein.
oder
Beispiel
Ein 85-jähriger Pflegebedürftiger hat zwei Kinder, die jedoch beide die Versorgung nicht übernehmen wollen oder können. Es gibt jedoch eine Enkeltochter, zu der ein gutes Verhältnis besteht. Der Pflegebedürftige bittet die Enkeltochter (26 Jahre, verheiratet, zwei Kinder) um Unterstützung und da die Beziehung stimmt, kommt die Enkeltochter dem Wunsch nach.
Der Pflegebedürftige wird ein Teil der Familie und fügt sich sehr wohlwollend in die neue Situation ein. Als »Gegenleistung« für die Versorgung finden viele gute Gespräche zwischen Enkeltochter und Großvater statt. Die junge Frau erfährt dabei viel über die Vergangenheit. Selbst die Wünsche für die Beerdigung des Großvaters werden gemeinsam besprochen.
Noch Jahre später berichtet die junge Frau dankbar von der Lebenserfahrung des Großvaters, von der sie viel profitieren konnte.
Sie sehen, alles hat immer mindestens zwei Seiten. Wird die Chance genutzt, sind der Abschied und die Phase der Trauer nicht mehr so schwer, wie viele pflegende Angehörige im Nachhinein berichten. Diese besondere Nähe im Rahmen der...