2. Kapitel
Nach dem Zweiten Weltkrieg, ab 1945
Die Nachwehen der Tragödie
„Wollt ihr den totalen Krieg?“ Eine vom Propagandaminister Goebbels rhetorische Frage an ausgesuchte NSDAP-Parteigänger bei einer Kundgebung im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 wurde mit „Ja, wir wollen den totalen Krieg!“ grölend beantwortet. Dieses Verhalten stellte den Wertekanon des Menschen gegenüber dem Krieg auf den Kopf, denn Krieg bedeutet Vernichtung und Tod. Ein humaner Wertemaßstab des Menschen wurde geradezu zur Perversion erklärt. Nun ja, dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage, Deutschland lag danieder und war orientierungslos, für die Menschen ging es ums nackte Überleben.
In dem von den Nationalsozialisten ausgelösten und angerichteten Inferno fanden mindestens 50 Millionen Menschen von 1933 bis 1945 den Tod. 6 Millionen Juden wurden ermordet, 23 Millionen Soldaten, 20 Millionen Zivilisten, davon 500.000 Sinti, Roma, Homosexuelle. Die Sowjetunion alleine verlor mehr als 20 Millionen Menschen. Etwa 10 Millionen Menschen waren als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden. Durch die Sowjetregierung kam es ab 1945 verstärkt zur Verschleppung von Deutschen, sie mussten als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion unter unmenschlichen Bedingungen Arbeiten verrichten. Diese „menschliche Reparation“ forderte 700.000 Menschenleben in Sowjetlagern, darunter Frauen und Kinder. Der Zynismus und die Menschenverachtung trafen auch viele Sowjetmenschen aus der Ukraine, Weißrussland, Russland, dem Kaukasus und Zentralasien, die in deutsche Gefangenschaft gerieten und nach Kriegsende durch die Sowjetregierung in Arbeitslager verbannt wurden, sie galten als Verräter. Bilddokumente und Aufklärungsfilme zeigten die unglaublichen Verbrechen der Nazis in den Konzentrationslagern. Durch die Alliierten wurde nach Kriegsende den „ahnungslosen“ Deutschen der Völkermord an den Juden vor Augen geführt, Anwohner von Konzentrationslagern mussten Leichen von Opfern transportieren. Auf Transparenten stand die Aufschrift „Diese Schandtaten – Eure Schuld.“ Die Deutschen waren in der Mehrheit unfähig für ein Schuldeingeständnis. In ihrem Glauben an Führer und Endsieg, in einer Art von Paranoia und Allmachtsfantasien waren sie nicht auf das bewiesene deutsche Verbrechen und Endelend vorbereitet und bezeugten ihre Unwissenheit und Unschuld. Das über einige Jahre inhalierte Gift der Naziideologie wirkte nachhaltig. Die Deutschen waren nach 1945 ein Volk von Traumatisierten, geprägt von Kriegsteilnahme, Bombardements, Vertreibung, Flucht und Krankheiten. Posttraumatische Störungen und Dystrophie (diversifizierte Krankheiten aus Hungertorturen) prägten unzählige Menschen und ließen sie in abnormale und asoziale Verhaltensweisen abdriften. Etwa 14 Millionen Menschen flüchteten aus den deutschen Ostgebieten, davon 4 bis 5 Millionen Kinder. Ungefähr 2 Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Viele Kinder und Heranwachsende verloren nicht nur die gewohnte Heimat, sondern auf einen Schlag den gesamten Familienverbund. Unzählige Kinder, die ein ganzes Leben lang gezeichnet und posttraumatischen Störungen ausgesetzt waren. Etwa 3,8 Millionen Ziviltote, mehr als 150 zerstörte Städte, 4,3 Millionen tote Soldaten (davon 80 % an der Ostfront gefallen), mehr als 11 Millionen Kriegsgefangene, Hunderttausende von Vermissten, unzählige Frauen und Mädchen vergewaltigt, Männer als Kriegsgeschädigte und Krüppel, Familien auseinandergerissen, jedes vierte Kind wuchs ohne Vater auf. Opfer, wofür erbracht? (1) Die Bevölkerungsstruktur kann in der Nachkriegszeit als abnormal bezeichnet werden. „60 Prozent der deutschen Bevölkerung, die auf den Einmarsch der alliierten Truppen warten, sind Frauen und Kinder, sowie Männer unter 16 oder über 40 Jahren.“ (2) Das nationalsozialistische Deutschland hatte eine Unmenge von Elend und Leid über andere Völker gebracht. Ist es da nicht abwegig, das eigene Leid der Deutschen zu benennen? Nein, Leid und Elend der Menschen sind nicht teilbar. Aber natürlich muss immer danach gefragt werden, warum so viele Menschen dem Nationalsozialismus unter Hitler gefolgt sind? Hitler, der zum Ende des Krieges im Prinzip die sozialdarwinistische Ansicht vertrat, das deutsche Volk habe nach dem verlorenen Krieg seine Lebensgrundlage verloren, weil es zu schwach war und sich damit als nicht lebenswert erwiesen hatte. Was für eine Absurdität. Hitler und seine Mannen, diese Psychopathen, durchtränkt mit perversem Ehrgeiz und Menschenfeindlichkeit, die ein ganzes Volk in Verbrechen geführt und verwickelt und sich der Verantwortung nicht gestellt hatten. Doch wem gegenüber sollte Hitler verantwortlich sein? In seinem Verhalten und seiner Weltanschauung gab es weder eine Gefolgschaft um ihn herum noch Gesetze oder einen Gott, die Verantwortung und Rechenschaft forderten.
Dem Rechtsradikalismus heutiger Prägung, der sich auf die Ideologie und Umsetzung der Politik der Nationalsozialisten beruft und darin eine vorteilhafte Gesellschaftsordnung sieht, muss in erster Linie eine Zivilgesellschaft, in der das Leiden der unzähligen Opfer der NS-Diktatur nicht in Vergessenheit geraten darf, entgegentreten.
Während des Krieges mussten die Deutschen trotz Lebensmittelmarken und Rationalisierung keinen Hunger leiden. Aus den überfallenen und ausgeplünderten Staaten kamen Käse aus Frankreich, Butter aus Dänemark und Bier aus Tschechien u. a. Die von den Nazis ausgegebene Parole, dass niemand hungern und frieren müsse, wurde zur reinen Phrase, ab 1945 brach der Versorgungsstaat der Nationalsozialisten völlig zusammen. Der Totententanz in Deutschland begann. Mangelernährung, Epidemien und Krankheiten forderten unzählige Menschenleben. Während des Krieges kam es durch Bombardements der Alliierten zur Zerstörung des Wohnraumes und der Infrastruktur in den Städten, etwa drei Millionen Wohnungen wurden zerstört. Noch vorhandene Männer wurden für Aufräumungs- und Aufbauarbeiten herangezogen. „Aber für die Trümmerfrauen blieb reichlich übrig … Die Frauen (von den Männern waren nur wenige zugegen, sie waren gefallen, in Gefangenschaft oder versehrt) schufteten, so ein Berliner Behördenvermerk aus dem November 1945, „mit mittelalterlichen Methoden, mit Marmeladeneimern und dergleichen.“ Weil Arbeitspferde fehlten – viele Rösser waren geschlachtet und verzehrt worden –, mussten sich die mageren Malocherinnen oft vor die mit Schutt gefüllten Loren und Wagen spannen. Zu Hause versuchten viele, den Speiseplan aufzubessern – mit Bucheckern, aus denen sich Öl pressen ließ, mit Muckefuck aus Pflanzenwurzeln oder mit Notbrot aus Kartoffelschalen . Begehrt waren zeitgemäße Rezepte: „Zehn Pfund Eicheln ergeben sieben Pfund Eichelmehl“, aus dem mit Wasser, Molke und Zucker eine „süße Eichelsuppe“ gekocht werden konnte. In überbelegten, mit Wolldecken abgeteilten Wohnräumen, in denen Einheimische mit Flüchtlingen und Evakuierten zusammengepfercht waren, trocknete Obst an Bindfäden, strickten Frauen Aufgeribbeltes, ratterten Nähmaschinen, entstanden Windeln aus Rohrisolierung, Kleider aus Uniformstoff, Milchkannen aus Gasmaskenbehältern.
Es fehlte an allem. Leichen wurden in Altpapier bestattet, nachts ratterten Züge mit stockdunklen Waggons durchs Land – die Treibriemen der Lichtmaschinen waren zu Schuhsohlen verarbeitet worden. In einigen Regionen unterschritten die amtlichen Tagesrationen für den „Normalverbraucher“ bald deutlich die 1000-Kalorien-Grenze.“ (3)
Wer machte sich in dieser Zeit schon Gedanken über den deutschen Staat, über seine Geltung und Funktion? Es ging in erster Linie ums nackte Überleben und hierbei verschwand auch die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem. Deutschland lag danieder. Das gesellschaftliche Gefüge, das gewohnte einzelne und gesellschaftliche Milieu war zerbrochen. Der Siedlungsraum der Deutschen schrumpfte auf ein Flächenniveau des späten Mittelalters. Die reichhaltige Kultur des deutschen Ostens wurde gebrochen und ausgelöscht. Der tief eingeprägte Hass in der Roten Armee auf den deutschen Faschismus zeigte Wirkung. Der Hass und die Willkür waren nicht mehr zu bändigen, die Gräueltaten gegenüber den Deutschen in den Ostgebieten waren im vollen Gang. Hitler und seine Mitläufer, ja das deutsche Volk in seiner Mehrheit waren die Verursacher, sie waren nun dabei, sich selbst in den Bauch zu fressen.
Die Politik der Alliierten, die Besatzungszeit
Die Regierungsgewalt wurde ab dem 5. Juni 1945 durch den Alliierten Kontrollrat ausgeübt. Die vier Sieger- und Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich stellten die Oberkommandierenden in dem Kontrollrat und waren zuständig für Angelegenheiten, die ganz Deutschland betrafen. Der Sitz war die Reichshauptstadt Berlin. Deutschland wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt und von den jeweiligen Militärgouverneuren regiert und verwaltet. Berlin als Hauptstadt mit Sonderstatus wurde in vier Sektoren aufgeteilt und von der Alliierten Kommandantur kontrolliert und verwaltet. Die...