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E-Book

Ghosting

Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter

AutorTina Soliman
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl358 Seiten
ISBN9783608191981
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Im Gespräch mit Betroffenen und Fachleuten beleuchtet Tina Soliman erstmals, welche ungeahnten Ausmaße das Ghosting heute schon angenommen hat. Warum breitet es sich weltweit und auch in Deutschland so rasant aus? Die Expertin zum Thema »Kontaktabbruch« lässt Ghosting-Betroffene und »Ghosts« zu Wort kommen und zeigt, wie zwischenmenschliche Beziehungen durch Ghosting gefährdet oder zerstört werden. Bewegend berichten »Ghosting«-Betroffene, wie das Schweigen auf sie wirkt, so als hätten sie bei den Verschwundenen mit einem Geist oder Gespenst zu tun gehabt. War der Andere überhaupt da? War alles nur Einbildung? Clara wird von ihrem Freund Julius von einer Minute auf die andere verlassen. Sein Telefon ist abgemeldet, seine E-Mails kommen zurück und sie muss nach einigen Wochen feststellen, dass er sein Verschwinden monatelang minutiös geplant hat. Plötzlich steht sie vor dem Nichts. Und doch muss, wer »geghostet« wird, weiterleben, als hätte es den Einbruch des plötzlichen Schweigens, diese vollständige, abrupte Trennung, nie gegeben. Unser durchdigitalisierter Alltag begünstigt diese erschreckende Entwicklung. Mit viel Einfühlungsvermögen spürt Tina Soliman die Hintergründe auf, vor denen sich das Phänomen Ghosting abspielt.

Tina Soliman ist Journalistin, Autorin und Regisseurin. Sie volontierte bei der »FAZ«. Seit den 90er-Jahren hat sie preisgekrönte TV-Dokumentationen für die ARD und das ZDF realisiert. Tina Soliman erhielt u.a. den »6. Marler Fernsehpreis für Menschenrechte« von Amnesty International, den »Katholischen Medienpreis der Deutschen Bischofskonferenz«,  die Silbermedaille bei den New York Festivals sowie zahlreiche Nominierungen, u.a. beim 54.  FESTIVAL DE TELEVISION DE MONTE-CARLO. Ihre Dokumentationen werden weltweit ausgestrahlt.   Sie arbeitet als regelmäßige Autorin für die ZDF-Sendereihe »37 Grad«, »Die Story im Ersten« (ARD) und für das Politikmagazin »Panorama« (ARD). Wenn Sie Fragen an Tina Soliman haben: tinasoliman@yahoo.de

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Leseprobe

1. Kapitel

Geister und Ent-Geisterte


Ghosts. Über das Wesen desjenigen, der wortlos verschwindet


Beginnen möchte ich mit denen, die verschwinden, weil sie das größere Rätsel aufgeben, Fragen aufwerfen, aber keine Antworten geben. Ihre einzige Antwort ist das Schweigen. Wer zurückbleibt, hat die Aufgabe, dieses Schweigen zu dechiffrieren. Die Stille, die die Ghosts hinterlassen, wird mal als notwendig hingestellt, mal sogar mit Notwehr gerechtfertigt. Und natürlich gibt es auch gute Gründe für ein plötzliches Abtauchen. Diese Gründe werden wir uns genauer anschauen.

Immer mehr Menschen entziehen sich jeglicher Erklärung, wenn sie eine Beziehung beenden wollen – diese Tendenz bildet sich nach meinen jahrelangen Gesprächen immer mehr heraus. Dabei werden weder die Probleme registriert, die sich für die Verlassenen ergeben, noch die eigenen. Machen Abbrecher jedoch selbst die Erfahrung des Ghostings, dreht sich ihre Meinung um 180 Grad. Das sei ja das Schlimmste, was einem passieren könne, heißt es dann.

In der »Funkstille« war der Abbrecher meist in großer Not, fühlte sich in seinen Bedürfnissen nicht wahrgenommen und häufig nicht auf Augenhöhe mit dem später Verlassenen. Er schützte sich vor Grenzüberschreitungen, vor alten und neuen Ängsten, vor Überforderung. Darüber habe ich mit Hilfe von Betroffenen ausführlich in »Funkstille« und »Der Sturm vor der Stille« berichtet. In diesem Kapitel soll daher nicht noch einmal ausführlich auf die Gründe des Abtauchens eingegangen werden. Für jene Leser, die die beiden Titel nicht kennen, fasse ich hier nur kurz zusammen. Bei der »Funkstille« besagt das Schweigen: Bitte höre, was ich nicht sage! Ich bin auf der Suche, muss nachdenken, und dazu brauche ich Zeit, Ruhe, Stille. Der Andere wird dabei ausgeblendet, muss ausgeblendet werden, sonst kann der, der sich neu sortieren möchte, nicht ganz bei sich sein.

»Ghosting« hingegen scheint auf den ersten Blick die ungeduldigere, kompromisslosere und konsequentere Variante des Schweigens zu sein. Dieses Schweigen schützt vor Verletzungen und unschönen Erkenntnissen, es hilft zu verdrängen und verhindert anstrengende Auseinandersetzungen – nicht zuletzt mit sich selbst. Diese Konsequenz ist nicht zwangsläufig bewundernswert!

»Wenn das, was ich mir wünsche, mit der Realität konfrontiert wird, wenn es zu Unstimmigkeiten in der Beziehung kommt oder auch nur ein Ungleichgewicht entsteht, dann klinke ich mich aus«, schreibt mir der Dreißigjährige Nils. Negative Gefühle taktvoll zu artikulieren ist nicht jedermanns Sache. Doch es bleibt die Frage: Was, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, ein Ungleichgewicht, unterschiedliche Meinungen und Kontroversen auszuhalten beziehungsweise auszutragen?

Es lohnt sich, den Wortschatz der »Ghosts« etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. In ihren Wortmeldungen wird von ›Projekten‹ gesprochen, vom ›Checken‹, von Veränderung und Entwicklung. Oft wirken die Abbrecher in ihren Erklärungen unruhig, gehetzt und unsicher. Dabei werden Bekanntschaften sogar mit Produkten beziehungsweise deren Werbung verglichen. So etwa heißt es: »Ich bin froh, dass es so viele Möglichkeiten gibt, einen Kontakt zu unterbinden. Die Funktion der Anrufsperre zum Beispiel ist wirklich eine wunderbare Sache. Ich nutze sie für nervtötende Vermarkter, aber auch für aufdringliche Dater. Da mache ich gar keinen Unterschied.« Es scheint die Ansicht zu herrschen, dass Menschen wie Ware behandelt werden können, wenn sie sich auf den Datingplattformen als solche anbieten. Jeder wird zur Möglichkeit, zur Option. Und jeder kann aussortiert werden – zum Objekt einer »Nicht-Wahl« werden.

Doch ganz so einfach ist es dann offensichtlich doch nicht, werden doch in den internationalen Medien, insbesondere in den USA, fast täglich Beiträge veröffentlicht, in denen versucht wird, das Ghosting als ein legitimes Verhalten zu rechtfertigen. So etwa sei das Ghosten ›in Ordnung‹, wenn man den Anderen im realen Leben noch nicht getroffen hat, also zuvor nur virtuell kommuniziert wurde. Man habe ja noch nicht viel in diesen Kontakt ›investiert‹, was spreche also dagegen, ein unschönes Drama zu vermeiden? »Wenn dein erstes Date oder Treffen ein totales Fiasko ist, kannst du abbrechen, ohne die andere Person dies wissen zu lassen. Wenn jemand aufdringlich und übergriffig ist, solltest du lieber das Weite suchen. Das brauchst du nicht mal zu erklären. Offenbar braucht diese Person einen Realitätscheck, und das ist nicht dein Job!« – so etwa lauten einschlägige Tipps in den US-Medien. Auch sei es vollkommen akzeptabel zu »ghosten«, wenn die andere Person gelogen hat, wenn man ihre Gefühle nicht erwidert oder die Person nicht bereit ist, offen über die Beziehung zu diskutieren.

An diesen Beispielen wird deutlich, wie einseitig Ghosting diskutiert werden kann. Es gibt allerdings auch Abbrecher, die sich ihrer eigenen Widersprüchlichkeit bewusst sind: »Ich schließe oft die Kommunikationskanäle, von denen ich erwarte, dass sie aufrechterhalten werden.« Ein anderer »Ghost« schreibt offen und klar: »Ich trenne mein Bedürfnis nach einer festen Bindung strikt von der Lust auf ein unverbindliches Treffen. Ich erwarte nichts, und ich gebe nichts.« Die Trennung zwischen reinem Vergnügen und einer festen Bindung hilft offensichtlich, sich in der Fülle der vermeintlichen Möglichkeiten zu orientieren.

Das Ghosting wird der Begegnung zwischen zwei Individuen kaum gerecht – und erst recht nicht ihrer Komplexität. Ist also »Ghosting« eine unreife Form der Konfliktvermeidung? »Ganz klar«, so der Psychologe Hantel-Quitmann: Man schütze sich kurzfristig, aber lerne langfristig nichts dazu. Konfliktlösung gelte in der Psychologie als eine »Fähigkeit der reifen Persönlichkeit. Sofern Konflikte lösbar sind, sollte man dies versuchen.« Manche Konflikte seien allerdings »nur schlecht oder gar nicht lösbar, insbesondere, wenn beim Anderen keine Möglichkeiten der Selbstreflexion bestehen und die Verantwortung oder Schuld abgestritten oder an andere verwiesen wird. Insofern ist Ghosting eine Ultima ratio.«

Natürlich ist man nicht zwangsläufig verpflichtet, eine ausführliche Begründung zu liefern, wenn man einen Kontakt abbricht. Der Paartherapeut und Parship-Berater Eric Hegmann beschreibt in einem Beispiel aus seiner Praxis, wie sehr die eigene Wahrnehmung den Blick auf die Realität verstellen kann. Eine Dame hatte hier über ein Jahr lang Briefe und Mails an einen Kontakt geschickt, ohne jemals eine Antwort zu erhalten. Schließlich beklagte sie sich in einem weiteren Brief wütend über das angeblich unmögliche Verhalten ihres Schwarms. War das nun Ghosting, oder kam die Botschaft, dass der Andere kein Interesse hatte, einfach nicht bei ihr an? Hegman fragt daher zu Recht: »Ist man verpflichtet, auf jeden Versuch der Kontaktaufnahme einzugehen? Am besten mit einer detaillierten Erklärung, weshalb man den Kontakt nicht vertiefen möchte?«

Die Wahrnehmungen gehen hier offensichtlich deutlich auseinander. Gleichwohl zeuge es von Respekt dem Anderen gegenüber, ihm gegebenenfalls zu erklären, warum man den Kontakt abbricht. Dies jedenfalls galt früher als ungeschriebenes Gesetz.

Mit dem Online-Dating hat sich der Markt der Begegnungen dann allerdings stark gewandelt. Das bestreitet auch Parship-Berater Hegmann nicht: »Ein drittes Date ist aber kein Ehe-Versprechen.« Da müsse man sich also auch nicht rechtfertigen. Ein regelmäßiger Online-Dater erklärt: »Wenn ich sofort erkenne, dass wir nicht zusammen passen, dann investiere ich doch nicht in ein weiteres Date, und wenn ich ehrlich bin, investiere ich auch nicht in eine Begründung. Ich muss der anderen Person diesen Gefallen nicht tun.«

»Doch!«, meint die 45-jährige Schweizerin Ursula, die sich nach einer langen Beziehung nun zum ersten Mal auf dem Dating-Markt umschaut. »Wenn man nach dem Date kein Interesse hat, muss man das höflich sagen. Alles andere ist feige!« Das gehöre zu den elementaren sozialen Fähigkeiten. Der Respekt verlange es einfach, sich zu erklären, auch bei unverbindlichen Begegnungen und erst recht bei langjährigen Beziehungen. Nicht jede Verbindung wird von beiden gleich intensiv erlebt:

»Viele Langzeitpaare sind sich sicher, einander bestens zu kennen. Das ist aber oft ein Trugschluss, der sich in dem alten Scherz zeigt: ›Warum hast du mir zwanzig Jahre lang nicht gesagt, dass dir dein Lieblingsessen nicht schmeckt?‹« Doch auch junge Paare seien betroffen, so Hegmann. Oft höre er Sätze wie »Ich kenne dich besser als du selbst«, was so viel heiße wie »Ich weiß besser als du, was für dich...

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