Ob du sechs bist oder hundert,
Sei nicht nur erschreckt, verwundert,
Tobe, zürne, misch dich ein,
Sage Nein!
Konstantin Wecker
Sage Nein!
Einen Tag nach den Wahlen zum Europäischen Parlament stürzte die österreichische Regierung am 27. Mai 2019 über ein Misstrauensvotum im Nationalrat. Damit verlor der junge Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der mit seiner Jugendlichkeit und kommunikativen Begabung viele Herzen erobert hat, zunächst einmal sein Amt. Bei den Neuwahlen zum Nationalrat im Herbst 2019 wird er es sich möglicherweise zurückerobern. Bis dahin ist eine Interimsregierung unter der ehemaligen Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein eingesetzt, der ersten Bundeskanzlerin in der Geschichte Österreichs.
Kurz, der sich zuvor als Außenminister auf dem internationalen Parkett gewandt zu bewegen und Respekt zu verschaffen wusste, hat sich verblüffend schnell zu einem autoritären Bundeskanzler aufgeschwungen, der das Parlament in Verachtung hinter sich ließ. In Österreich waren wir Operettenprinzen schon immer zugetan, ein schöner Mensch kann in unseren Augen nicht böse sein. Ältere Frauen kommen ins Schwärmen, sind nicht zu halten vor Begeisterung, wenn Kurz vor ihnen in Erscheinung tritt.
Dabei wird, was Sebastian Kurz seit seiner Amtseinführung politisch angerichtet hat, weitgehende Konsequenzen haben. In kürzester Zeit wurde die Republik umgebaut. Siebzehn Monate lang hat der junge Mann mit den Rehaugen während vieler grundlegender Maßnahmen die Opposition und deren Fachleute keines Blickes gewürdigt, geschweige denn das Gespräch mit ihnen gesucht. Er betrieb das Ignorieren nach Art psychologischer Kriegführung, wie es sie in Österreich noch nie zuvor gegeben hatte.
Die Gründer der Zweiten Republik – sagt man – hätten gemeinsam in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gesessen und bereits dort am künftigen Aufbau der Demokratie gearbeitet. Das verband die beiden staatstragenden Parteien ÖVP und SPÖ jahrzehntelang über allen Streit hinweg. Man musste und konnte gemeinsam politische Entscheidungen treffen.
Erst Sebastian Kurz hielt es für nützlich zu behaupten, die beiden Parteien seien unfähig zur Zusammenarbeit. Stattdessen holte er die regierungsunfähige Rabauken-Partei FPÖ in die Regierung, und er hat der FPÖ mit dem Verteidigungs- und dem Innenministerium auch die Geheimdienste anvertraut. Er rühmte sich falschen Herzens, ein Reformprojekt gestartet zu haben. In Wirklichkeit wurde unter seiner Führung ein radikaler Umbau eingeleitet, durch den Österreich immer mehr Züge eines illiberalen Staates angenommen hat. Als die FPÖ einige Ministerien mit rechtsradikalen Burschenschaftern besetzte und Heer und Polizei mit Identitären unterwandern ließ, schaute Kurz nur dabei zu. Wir haben in Österreich Alarmstufe Rot: Sebastian Kurz ist ein Rechtsextremist mit schönem Antlitz.
Wie die Leute, mit denen sich Kurz umgibt, wirklich denken, enthüllte das Video, das im Mai 2019 zur »Ibiza-Affäre« und zum plötzlichen Ende der ÖVP/FPÖ-Regierung Kurz/ Strache führte. In dem 2017 verdeckt gedrehten Video sieht man Heinz-Christian Strache, der wenige Monate später Vizekanzler werden sollte, im stundenlangen Gespräch mit einer vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen. Gegen Spenden am »Rechnungshof vorbei« bietet er ihr unter anderem Schmankerl wie die »Kronenzeitung« und die Wasser-Privatisierung an und zeigte darin offen Bereitschaft zu Korruption, Umgehung von Gesetzen und Medienmanipulation.
Die Öffentlichkeit rang um Fassung, als sie das Video zu sehen bekam, dabei war alles gar nicht besonders erstaunlich, anderes hatte man von dieser Partei ohnehin nicht erwartet. André Heller kommentierte: »Es gibt viele, die das gar nicht abstößt, die sagen: Ah, es ist in Ordnung, dass man sozusagen bis zu einem gewissen Grad ein Mensch gewordener Rülpser wird.« Straches Partei kam denn auch glimpflich davon, bei der Europawahl nur zwei Wochen nach Bekanntwerden des Skandals brach die FPÖ in der Wählergunst kaum ein.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen beeilte sich zu sagen: »So ist Österreich nicht.« Doch schon in den 1980er-Jahren beschrieb die Schriftstellerin Inge Merkel sehr genau einen tief verwurzelten Charakterzug: »Wenn einer in Österreich ein Bösewicht ist, dann ist er kein Richard II., kein Jago, dann ist er ein Nestroy-Schuft. Diese sind zwar zutiefst gemein und niederträchtig, aber ein gefälliger Regisseur kann sie unschwer zur komischen Figur machen, über die man lachen muss; dabei vergisst man, dass Komik Niedertracht nicht ausschließt, nur gefährlicher macht.« Und Armin Thurnher bilanzierte Ende Juni 2019 in der Wochenzeitung »Falter«: »Segen für Kurz, Schwindel um Strache: ein Land gibt sich auf. Österreich verliert vor aller Augen gerade seine politische Zurechnungsfähigkeit.«
Die Werte, mit denen wir aufgewachsen sind, gelten immer weniger. Das Fundament der Demokratie ist europa- und weltweit bedroht. Die Feinde der »offenen Gesellschaft« sind bereit, die Macht zu übernehmen, oder haben sie schon an sich gerissen. Diktaturen sind im Kommen, und dazu braucht man nicht einmal brachiale Gewalt, denn die Wählerinnen und Wähler legitimieren die Politik mit ihren Stimmen. Die Spirale staatlich gelenkter Ausgrenzung und Desinformation dreht sich in vielen Ländern immer schneller, und so wird es schwerer, diesen Prozess wieder umzukehren.
Wir alten Frauen nehmen uns, einem Wort Dietrich Bonhoeffers folgend, heraus, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu fallen, unseren Widerstand laut zu machen, uns einzumischen, denn wir haben Angst. Keine solche Angst wie die Wählerinnen und Wähler der Rechten, die Sündenböcke brauchen, um sich abgrenzen und besser fühlen zu können. Wir haben Angst, weil wir seit unseren Jugendjahren die Demokratie genossen und zum Teil mitgestaltet haben. Wir haben Angst um unsere Jugend, die ein gutes Leben in Freiheit braucht und der wir weiterhin die Sicherheiten des Sozialstaates wünschen. Wir haben Angst, weil Europa wirtschaftlich an Boden verliert, den sozialen Ausgleich zwischen Ost und West, Nord und Süd nicht schafft und Flüchtlinge im Meer ertrinken lässt. Im Umgang mit leidenden Menschen und Regionen weltweit verspielt Europa seine moralische Integrität.
Politische Teilhabe erschöpft sich nicht mit dem Kreuzchen in der Wahlzelle und rasch hergesagten Meinungen. Niemand hört an der Wohnungstür auf, ein politischer Mensch zu sein, das lernten wir in den 1970er-Jahren. Politik durchzieht dein Leben, und Widerstand kann schon beim Einkaufen beginnen. Damals waren es die Früchte aus dem Apartheidstaat Südafrika, die wir boykottierten, heute haben wir im Alltag viele Möglichkeiten, der allgegenwärtigen Ausbeutung von Mensch und Natur bewusst entgegenzutreten.
Wir OMAS GEGEN RECHTS möchten allen Mut machen, die noch zu Hause sitzen und glauben, es ginge sie alles nichts an oder sie wären hilflos. Wir möchten Mut machen, sich zu fragen: Was müssen wir tun, um die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu bewahren? Wohin soll sich Europa als Teil der Weltgemeinschaft weiterentwickeln? Was kann ich dazu beitragen, unserer Jugend eine gute Zukunft zu sichern? Wie positioniere ich mich im Widerstand gegen aggressiven Nationalismus und Rechtsextremismus?
Denn von den Bedrohungen einer rückwärtsgewandten Politik sind wir alle betroffen. Europaweit haben sich Bewegungen mit antidemokratischer Agenda gebildet, in Italien, in Frankreich, in Ungarn und Finnland. In Deutschland sitzt die AfD im Bundestag und sämtlichen Landesparlamenten, in der Schweiz ist die nationalkonservative SVP aus der letzten Wahl gestärkt hervorgegangen.
Dass sich Sebastian Kurz als Bundeskanzler damit brüstete, die Mittelmeerroute geschlossen zu haben, lässt sich nur im Licht dramatischer Selbstüberhöhung verstehen. Sein Mangel an Empathie, die verzerrte Sicht auf die eigenen Fähigkeiten und das narzisstische Verlangen nach Anerkennung stachen ins Auge. Widerstand gegen diese Abschottungspolitik begann sich schließlich auch in den eigenen Reihen zu regen. Nachdem Kurz seinen Vizekanzler Reinhold Mitterlehner 2017 kalt abserviert hatte, schrieb dieser ein Buch mit dem Titel »Haltung« und kritisierte im Frühjahr 2019 erstmals innerparteilich die Wende der ÖVP hin zum Rechtspopulismus. Weil er die Flüchtlingspolitik als menschenverachtend bezeichnete, trug ihm das allerdings sofort den Zorn der ÖVP-Landeshauptleute ein.
Bis zur »Ibiza-Affäre« wurden wir Österreicher anderthalb Jahre lang von Menschen regiert, die immer aufs Neue frech ausloteten, was man ungestraft sagen kann. Wir lebten unter dem Trommelfeuer rechter Strategen, die ihre Worte als Waffen einsetzten und mit ihnen auf Wehrlose schossen.
Auf der anderen Seite ist dadurch die Zivilgesellschaft erwacht und hat die Straße als Ort der friedlichen Auseinandersetzung wiederentdeckt. Seit 2018 trifft man sich jede Woche in ganz Österreich bei der Donnerstagsdemonstration gegen den Rechtsruck. Inzwischen sind deutlich sichtbar die OMAS GEGEN RECHTS mit dabei, die, wären sie tot, von den Gräbern auferstehen müssten. Aber sie sind nicht tot, sie sind lebendiger als so mancher jüngere Mensch, weil sie wissen, dass Österreich nicht dorthin geführt werden darf, wo Ungarn und Polen schon sind: in einen...