Der kalte Hamburger Winter hat mich damals schon nicht wirklich fröhlich gestimmt.
Dieses Land hat mir etwas gegeben, ich will was zurückgeben.
Früher dacht ich «Fick Politik!», heute will ich mitreden.
DIS WO ICH HERKOMM (2009)
An einem sternklaren Abend im Dezember 2005 stehe ich auf einer Terrasse hoch über San Francisco. Und denke an Deutschland. Ausnahmsweise stecke ich mal nicht mittendrin – in Deutschland, im Plattenbusiness, im immer härteren Hip-Hop-Ding –, sondern bin mal ganz für mich, ohne Einflüsse von außen, ohne die Meinungen der anderen, ohne Anfeindungen oder Schleimereien. Neuntausend Kilometer entfernt von meinem kleinen Mikrokosmos fühle ich mich wie befreit. Über mir die Sterne, unter mir das Glitzern und Funkeln einer amerikanischen Großstadt, und ich dazwischen, in diesem wahnsinnigen Lichtermeer. Und da, auf einmal, mit einer Pepsi in der linken, Doritos in der rechten, Jay-Z in den Headphones und tiefer als je zuvor in meinem amerikanischen Traum, denke ich an mein Heimatland. Und nicht nur negativ.
Früher nervten mich in Deutschland all die Blicke auf der Straße, und ich habe mich hier gefühlt wie Dicke auf der Waage. Und das war noch an den guten Tagen. An schlechten war mir meine angebliche Heimat eher unheimlich. Auf jeden Fall war mir das Land tendenziell eher peinlich bis feindlich. Alles kam mir vor, als würde ich schlafen und schlecht träumen. Wie in meiner persönlichen Hasstirade, meinem größten Hit «Weck mich auf (aus diesem Albtraum)» von 2001:
Wir leben in einem Land, in dem mehr Schranken stehen, als es Wege gibt,
mehr Mauern als Brücken, die Stimmung ist negativ.
Und die Alten fragen: Warum rauch ich täglich Weed?
Und warum sind ich und meine ganze Generation so depressiv?
Wir sind jeden Tag umgeben von lebenden Toten,
umgeben von Schildern, die uns sagen: Betreten verboten!
Dann reimt sich THC auf BSE und Steuergelder auf Feuermelder, und ich rappe mir all den Frust über dieses Land von der Seele. In drei Strophen. Aber es hieß auch damals schon:
Ich und du und sie und es sind besser dran, wenn wir uns selber helfen.
Ein bisschen pauschal und plakativ war das vielleicht schon, aber genau so habe ich damals gefühlt. Und jetzt das hier, im Titelstück von Dis wo ich herkomm:
Mir ist egal, ob du Wessi bist oder Ossi bist, Pessimist oder Optimist
wie blank oder gestopft du bist
ob du nun hergezogen oder hier geboren bist.
Wenn du in diesem Land hier lebst, hoff ich, dass du offen bist
für eine neue Herangehensweise, nicht mehr «Dieses Land is scheiße»,
sondern «Es gibt viel zu tun». Das hilft gegen die Langeweile.
Wie passt das denn zusammen? Was hat sich in den letzten acht Jahren geändert? Deutschland – oder ich? Warum will ich jetzt lieber etwas verbessern, anstatt mich zu beschweren, lieber aktiv etwas dafür tun, statt nur «denen da oben» vorzuwerfen, dass sie zu wenig tun? Die einfache Antwort wäre natürlich: Weil ich aufgewacht bin aus diesem Albtraum. Die nicht ganz so einfache: Weil das Land kein Albtraum mehr ist. (Vielleicht, weil jetzt sogar Religions- und Deutschlehrer «Weck mich auf» in ihren Unterricht einbauen?) Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Klar ist, es muss weitergehen. Natürlich müssen sich Dinge ändern. Und natürlich nicht nur in diesem Land. Aber ich bin nun mal hier und habe erkannt, dass es mehr zu meiner Person passt, wenn ich emotionale Lieder über die Dinge mache, die mich wirklich beschäftigen. Auch in Zeiten, in denen es anderen Rappern nur um noch mehr Ketten oder noch schlimmere Mutterbeleidigungen und krassere Gewaltverherrlichungen geht.
Ich wurde am 19. Dezember 1977 als Außenseiter geboren: Ein halb schwarzer Junge in Hamburg. Mein afrikanischer Vater war früh weg. Meine deutsche Mutter, mein deutscher Stiefvater und meine kleine deutsche Schwester hatten es bald schwer mit mir – und ich mit ihnen und allen anderen. Was sich bei Hans-Jürgen Massaquoi auf Schornsteinfeger reimt, bekam ich hinterhergerufen, sobald ich vor die Tür ging. Nicht immer, aber oft genug. Und natürlich schon im Kindergarten. Außerdem war da dieses beklemmende Gefühl, nicht dazuzugehören, unerwünscht zu sein. Ein Fremder, ein Ausländer. Ich spürte diese Blicke, wenn wir irgendwo mal gemeinsam mit der Familie aufgelaufen sind. Der Fehlschluss war allen anzumerken, die nicht mit mir verwandt waren. «Die Eltern sind weiß. Die Tochter ist weiß. Natürlich: Der Junge ist adoptiert.» Was hätten sie auch sonst denken sollen? In der Bundesrepublik Deutschland lebten Anfang der Achtziger etwa einundsechzig Millionen Menschen, von denen knapp viereinhalb Millionen Ausländer waren, die meisten davon Türken und Italiener. Noch heute ist das erste afrikanische Land in der deutschen Bevölkerungsstatistik Marokko, und zwar erst auf Platz 21. Auf Platz 40 folgt Tunesien, dicht gefolgt von Ghana auf Rang 44.
Der Durchschnittsdeutsche kannte damals den Sarotti-Mohr und Roberto Blanco, sang in der Vorschule das Lied von den «Zehn kleinen Negerlein» und bewarf sich später beim Kindergeburtstag mit «Negerküssen». Schluss. Aus. Kleine, dunkelhäutige Jungs hatten normalerweise dicke, nackte Bäuche, einen hungrigen Blick und bettelten um «Brot für die Welt». Im Fernsehen und auf Plakaten. Aber bitte nicht in der Nachbarschaft.
Wenn ich heute daran denke, war für mich in den Achtzigern alles in diesem Land komplett trist. Es war zwar nicht mehr schwarz-weiß, wie in den Filmen aus der Jugend meiner Mutter, aber irgendwie grau. Meine fünf Jahre jüngere Schwester hat damals am liebsten die Hörspiel-Kassetten von «Regina Regenbogen» gehört. Der größte Feind von Regina und ihren Freunden war Grummel Griesgram, der immer die ganze Welt grau machen wollte. Wenn ich Sarah ärgern wollte, habe ich den Grummel Griesgram gespielt und bin ständig hinter ihr hergelaufen, um mit verstellter Stimme zu rufen: «Alles wird grau! Die Welt wird grau! Es gibt kein Entkommen, du wirst grau, grau, grau!» Vielleicht hatte sie wirklich Angst vor mir, weil auch ihr draußen in der Welt alles so grau vorkam. Oder wenigstens ausgebleicht. Eben nicht mit Perwoll gewaschen. Das Wetter war gewittergrau, die Häuser waren aschgrau, die Gesichter mausgrau. Dazu trug man Klamotten in gedeckten Tönen. Die Geschäftsleute hatten knirschende Schnürschuhe in Schwarz oder Braun an den Füßen, dezent blau-weiß gestreifte Oberhemden mit steifem Kragen am Körper und banden sich dunkle Krawatten um die bleichen Hälse. Die Frauen, zum Beispiel meine Klassenlehrerin, trugen hühnerfleischfarbene Strumpfhosen und dezent gemusterte Schottenröcke, alles andere war in Beige, Jägergrün oder Uniformblau. Nur die Bauarbeiter von der Bahn, die Männer von der Müllabfuhr und die Schulanfänger durften auffällige Farben zeigen. Bei heftigem Regen trug man sogar in Hamburg ausnahmsweise mal eine gelbe Öljacke, sprich: «Friesennerz». Ein rotes Auto war eine Besonderheit, für ältere Damen sogar eine Frechheit, fast so schlimm wie die bunten Haare der Punks, die bei Burger King am Brunnen in der Hamburger Mönckebergstraße abhingen. Ansonsten: In der Stadt, auf der Straße, in der U-Bahn, überall die gleichen fahlen Gesichter, die mich fragend ansahen oder abschätzig wegguckten.
Aber das war längst noch nicht alles: Die «Unterhaltungsbranche» war mindestens genauso farblos. Die drei Fernsehprogramme waren voll von nicht besonders gut aussehenden bleichen Menschen, die auf nicht gerade spannende Art und Weise langweilige Dinge taten und sagten. Dalli Dalli, Auf Los geht’s los oder Der große Preis waren so matt wie die Nation. Was ich im Fernsehen interessant fand, waren Serien wie Ein Colt für alle Fälle oder Drei Engel für Charlie. Bei meinem zehn Jahre älteren Cousin Helmut konnte ich zum Glück Filmklassiker sehen, von Star Wars und Indiana Jones über Der weiße Hai bis hin zu jeder Menge Horrorfilme. Ganz klar, für mich und meine Freunde kam alles, was cool war, aus Amerika. Und alles, aber auch wirklich alles, was irgendwie mit Deutschland zu tun hatte, war ätzend.
Irgendwann Ende der Achtziger wurde es etwas anders. Etwas. Für mich begann meine persönliche Wende pünktlich zu Beginn meiner Pubertät. In einer Phase, in der Jugendliche es ihren Eltern sowieso schwermachen, verliebte ich mich in Hip Hop. Zuerst kamen Filme wie Colors – Farben der Gewalt mit Ice-T, in dem es um die Rivalitäten von Crips und Bloods, also Gangs in L.A., ging. Diese Gang- und Straßenkultur schien für uns in einem engen Zusammenhang mit der Hip-Hop-Kultur zu stehen. Die Gangmitglieder hörten die ganze Zeit Rap und malten ihre Namen an die Wand – genau wie wir. (Allerdings blieben bei uns in Eppendorf die Drive-by-Shootings aus.) Als zwei Jahre später, also 1991, Boyz n the Hood in Deutschland ins Kino kam, war ich dreizehn und lebte in Gedanken voll in dieser amerikanischen Superwelt. In kürzester Zeit war ich – dank Hollywood und Hip Hop – vom ungeliebten Außenseiter zum coolen Außenseiter geworden. Vorher hatte ich böse Blicke geerntet. Jetzt habe ich sie selbst ausgeteilt – reichlich, heftig, und zwar auf dem Schulhof, in der U-Bahn, auf dem «Hamburger Dom», unserem hiesigen Jahrmarkt. Jedes...