Einige warme Worte zur Entschleunigung
Dieses Mal fängt alles in Würzburg an. Ein Zufall. Ich habe das Szenario nicht bewusst herbeigeführt. Ich sitze nun mal gerade im Zug nach München und fahre nach kurzem Zugstopp weiter bis zu meinem Ziel. Am Tag zuvor habe ich einen Auftritt in Hannover hinter mich gebracht. Jetzt lehne ich mich entspannt zurück und lasse meine Gedanken schweifen.
Schon seit Wochen versuchte ich, etwas für mein Buchmanuskript zu Papier zu bringen, aber ich konnte nicht anfangen zu schreiben, obwohl ich merkte, dass ich zeitlich langsam in Zugzwang geriet. (Das Wortspiel an dieser Stelle ist auch nicht beabsichtigt, passt aber gerade wunderbar. Erst wollte ich es rausnehmen, aber nach dem zweiten Lesen kam es wieder rein. Automatisch. Weil’s einfach doch so schön ist.) Der Anfang ist immer das Schwerste. Ich fand einfach nicht den richtigen Einstieg – und gerade der ist doch besonders wichtig. Jeder Autor hat geradezu panische Angst, seine Leser schon gleich am Anfang zu enttäuschen. Jetzt, auf der Fahrt von Hannover nach München – kurz vor Würzburg –, kam der Geistesblitz, um das zu verhindern. Endlich. Der entscheidende Dreh. Völlig aus dem Nichts. Wobei, so ganz stimmt das auch nicht. Mein Blitz wurde durch ein Lied ausgelöst. Das machte nur klar, was mich gerade am meisten bewegte. Es war nicht irgendein Lied, das das bewirkte, sondern eines meiner absoluten Lieblingslieder: Es ist ein Song von Jason Mraz.
Wie dem auch sei, ich hörte die Musik, schaute in die mir mittlerweile sehr vertraute Landschaft. Ich glaube, ich kenne inzwischen jeden Baum, der an deutschen Bahnlinien steht. Wie so oft hänge ich meinen Gedanken nach. Dieses Mal denke ich an meinen letzten Geburtstag, den siebenunddreißigsten. Es war kein allzu schöner Geburtstag: Ich musste morgens wegen Herzrasen zum Arzt. Siebenunddreißig ist, wie ich finde, zu früh, um mit so was zum Doktor zu kommen. Mein Hausarzt untersuchte mich und stellte fest, dass ich körperlich ansonsten in bester Verfassung war. Mein Problem habe seinen Ursprung in meinem Kopf, meinte er nur. Das alles sei nur deshalb passiert. Und das bei mir! Und wo gerade ich doch der Experte dafür bin und wissen sollte, was sich in den Köpfen so abspielt, auch in meinem.
Ich glaube, es war der Schriftsteller Michael Ende, der einmal gesagt hat, der Wegweiser weise nur den Weg, er müsse ihn allerdings nicht selbst gehen. Ich dachte immer, ich hätte meine Gedanken sehr gut im Griff, sei Herr der Lage und wisse alles über mich. Und jetzt das.
Mein Hausarzt fragte mich, ob ich derzeit viel unterwegs sei. Ich erklärte ihm daraufhin, dass ich gerade eine Tournee absolviere, viele Vorträge halte und über lange Zeit immer nur ein oder zwei Tage am Stück zu Hause verbracht hätte. Danach fragte er mich, ob ich nachts durchschlafe. «Ich habe drei Kinder», antwortete ich nur, «und wenn ich auf Tour bin, bin ich oft bis spät in die Nacht beschäftigt.»
Daraufhin grinste er mich an und erzählte mir folgende Geschichte: «Bei einer Himalaja-Expedition weigerten sich nach drei Tagen die Sherpas wie aus heiterem Himmel weiterzulaufen. Die britischen Auftraggeber waren sehr aufgebracht darüber. Denn die Gruppe war schneller vorangekommen als ursprünglich geplant, und die Briten wollten diesen Vorsprung weiter ausbauen. Dennoch beharrten die Sherpas darauf und bewegten sich keinen Zentimeter mehr. Sie saßen da und lehnten es ab. Ohne Angabe von Gründen.
Die Auftraggeber versuchten es mit gutem Zureden und zahllosen Argumenten. «Seid ihr zu müde zum Weiterlaufen?» – «Nein.» – «Habt ihr körperliche Probleme? Ist das Gepäck zu schwer?» – «Nein.» – «Wollt ihr mehr Geld? Wir zahlen euch eine Belohnung, wenn ihr nur weiterlauft!» – «Nein danke.» Die Sherpas blieben sitzen und tranken ihren Tee. Dann endlich ihre Erklärung: «Wir sind eine Strecke, die wir normalerweise in fünf Tagen zurücklegen, in nur drei Tagen gelaufen – unsere Körper sind jetzt zwar hier, wir müssen aber eine Pause machen, damit unsere Seelen nachkommen können!»
Ein schlauer Mann, mein Arzt. Er gab mir keine Medikamente, sondern nur diese Geschichte mit auf den Weg. Sie war eines meiner schönsten Geburtstagsgeschenke. Und sie hat mich verändert. Mir wurde Folgendes klar: Auch die besten Gedanken und alles Wissen, das man sich darüber aneignen kann, all das bringt uns nicht wirklich weiter, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, es auch wirken zu lassen. Ich saß da also beim Arzt, und obwohl ich den schönsten Beruf der Welt habe, eine Familie, die mich immer auffängt, in allem unterstützt, und obwohl ich mich bislang bester Gesundheit erfreute, ging es mir nicht gut. Ein einziger Faktor stimmte nicht in meinem Leben, aber der hatte Gewicht: Ich war nicht mehr Herr meiner Zeit. Ich war Opfer meiner Anforderungen geworden und nicht mehr der Handelnde, sondern der Getriebene.
Ein weiteres Mal fragte ich mich, wie äußere Einflüsse uns dazu bringen können, Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht tun wollen. Ich kenne nun wirklich viele Methoden, um die Gedanken anderer und auch meine eigenen zu beeinflussen. Wieso griff das gerade nicht? Und dennoch: Ich glaube, nur deshalb konnte ich überhaupt die Reißleine im richtigen Moment ziehen. Über eine lange Zeit hatte ich ja zu Vorhaben gesagt, die ich eigentlich nicht tun wollte, und nicht bemerkt, in welchen Teufelskreis ich geriet. Diese Frage brachte mich dann auch zum Thema dieses Buchs – dem hoffentlich fulminanten Abschluss meiner Denktrilogie – und zu den zentralen Aspekten: Welche Methoden beeinflussen uns? Wie beeinflussen wir andere, und wie können wir uns vor Manipulationsversuchen unserer Mitmenschen schützen?
Ich mache jetzt etwas, was ich noch nie zuvor getan habe: Ich verrate Ihnen einen Zaubertrick. Einen ziemlich guten sogar. Mit diesem Kniff hat es ein Jugendfreizeitleiter einmal geschafft, mir schlaflose Nächte zu bereiten. Das war im Sommer 1986. Kurz zuvor war mein Bruder verstorben. Es war eigentlich gerade keine schöne Zeit. Vielleicht waren gerade deshalb meine Ferien mit ihm in den französischen Sevennen so wichtig für mich und – wie sich sehr viel später noch zeigen sollte – für meinen gesamten Lebensweg.
Ich begeisterte mich zu dieser Zeit mehr und mehr für die Zauberei. Umso größer war meine Freude, als ich ihn, einen Könner in Sachen Kartentricks, kennenlernte. Er hatte so richtig gute drauf. Sein Name ist Jörg Roth. Ich habe seit über zwanzig Jahren nichts mehr von ihm gehört. Trotzdem denke ich oft an die gemeinsamen Wochen und ein besonders schönes Erlebnis.
In den Trick, mit dem er mich am besten getäuscht hat, möchte ich Sie einweihen. Vielleicht haben Sie Lust, ihn einzuüben und irgendjemanden damit genauso zu verblüffen wie er mich damals.
Der ultimative Kartentrick, hier ist er: Es war an einem schönen sonnigen Sommermorgen im Zeltlager. Wir saßen nach dem Frühstück unter einem Baum und spielten Karten. Plötzlich sagte Jörg zu mir: «Nimm doch einfach mal eine Karte aus dem Kartenspiel und schau sie dir genau an.» Es war die Herz-Sieben. Danach sollte ich den vor mir liegenden Spielkartenstapel irgendwo abheben, meine Karte auf den abgehobenen Teil obendrauf legen und den Rest des Spiels daraufsetzen. Jetzt durfte ich die Spielkarten mischen. Nachdem ich damit fertig war, sah er mich ernst an. «Ich habe keine Ahnung, welche Karte du gewählt hast, und ich weiß auch nicht, wo deine Karte im Stapel liegt. Die richtige Karte zu finden ist wirklich schwierig, nicht wahr? Aus diesem Grund habe ich drei Versuche frei, einverstanden?» – «Na klar», antwortete ich.
Er fächerte das Spiel vor sich auf, hob ab und zeigte mir die unterste Karte. Sie war es nicht. Er nahm die Karte aus dem Spiel und legte sie mit der Rückseite nach oben auf den Boden vor mir hin. «Gut, ich habe ja noch zwei Versuche.» Wieder schaute er sich die Spielkarten an. Zweimal hintereinander zeigte er mir falsche Karten. Schließlich lagen vor mir auf dem Boden auf einem kleinen Stapel drei Karten. Die Herz-Sieben war nicht dabei.
Nochmals zeigte er mir nacheinander die drei Karten auf dem Boden und legte sie in einer Reihe vor mir aus. Jetzt durfte ich aus den dreien eine auswählen. Er schob sie verschwörerisch zu den anderen. Er sah mich konzentriert an und sagte, ich habe die Herz-Sieben gewählt. Hammer! Dann bat er mich, die Karte vor mir umzudrehen. Ich flippte aus. Die Karte hatte sich verwandelt: Es war meine Herz-Sieben.
Wow, das war ein Hammer. Ich war selten zuvor derart angenehm hinters Licht geführt worden. Wie hatte er das nur gemacht? Ein paar Monate später verriet er mir den Trick. Er ist ein Paradebeispiel für die Kunst der Beeinflussung. Sie brauchen dafür nur ein Kartenspiel und einen Mitspieler. Den brauchen Sie beim Zaubern übrigens immer! Man kann sich nur so schwer selbst verblüffen.
Lassen Sie das Kartenspiel vor dem Trick, wie es ist, oder mischen Sie die Karten, wenn Sie wollen. Nehmen Sie sie dann wieder an sich, fächern Sie sie mit der Rückseite nach oben liegend auf und bitten Sie Ihr Gegenüber, eine Karte zu wählen. Stellen Sie sicher, dass es sich die Karte auch merkt! Unterschätzen Sie diesen Rat nicht. Es gibt nichts Blöderes, als wenn der Mitspieler am Schluss nicht mehr weiß, welche Karte er hatte. Ich spreche aus Erfahrung. Da arbeitet man minutenlang hart auf den krönenden Abschluss hin und fragt: «Welche Karte haben Sie gewählt?» Die Antwort: «Ehm … äh …?»
Während sich Ihr Zuschauer seine Karte anschaut, legen Sie alle restlichen mit der Rückseite nach oben in Ihre linke Hand. Sobald er fertig ist und Sie wieder...