|30|2 Etablierung der Angewandten Sportpsychologie im Leistungssport
Babett Lobinger, Jan Mayer und Gabriele Neumann
2.1 Einleitung
Die Angewandte Sportpsychologie hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend im Leistungssport etabliert. Sichtbar wird das beispielsweise an der steigenden Anzahl von Sportpsycholog_innen, die in den Sportfachverbänden und an den Olympiastützpunkten tätig sind oder an der steigenden Anzahl der Kolleg_innen, die in den Leistungszentren der Fußball-Bundesligisten arbeiten. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Maßgeblich und richtungsweisend war und ist die zunehmende Institutionalisierung der Sportpsychologie an deutschen Universitäten und die Förderung der Sportpsychologie durch die tragenden Institutionen des Leistungssports, des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp). Aber auch die durch den Deutschen Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche Fußball Liga (DFL) beschlossene Lizenzauflage für die Nachwuchsleistungszentren, Stellen für Sportpsycholog_innen oder sportpsychologische Expert_innen einzurichten, ist Zeichen der Etablierung der sportpsychologischen Betreuung vor allem im Bereich der Talententwicklung.
Dieses Kapitel zeichnet, 50 Jahre nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp) 1969, die Entwicklung der Angewandten Sportpsychologie im Leistungssport nach (vgl. dazu auch Lobinger & Stoll, 2019). Dabei wird zunächst die Beziehung zwischen dem Leistungssport und der Sportpsychologie generell in Deutschland näher beleuchtet, bevor die Institutionalisierung der Angewandten Sportpsychologie im Leistungssport dargestellt wird und die zentralen Stakeholder beschrieben werden. Es schließen sich Ausführungen zur Aus- und Fortbildung in Sportpsychologie im Leistungssport an. Das Kapitel schließt mit einem Fazit und kurzen Ausblick auf zukünftige Aufgaben.
|31|2.2 Der Leistungssport und die Sportpsychologie
Historisch betrachtet lässt sich der Leistungssport als Motor für die Entwicklung der Sportpsychologie verstehen: „Der Leistungssport ist nach wie vor ein Hauptfaktor für die Entwicklung geblieben, und seine Fragestellungen wie die psychologische Wettkampfvorbereitung, die Psychoregulation, die Vermittlung psychologischer Kenntnisse an Trainer fördern nunmehr eine Institutionalisierung der Fachdisziplin (...)“ (Rieder, 1979, S. 5).
Dabei ist der Weg der Sportpsychologie in den Leistungssport ein sehr steiniger. Zwar wird der Einfluss mentaler Stärke auf die Wettkampfleistung durchaus wahrgenommen (vgl. Nitsch, 1999), doch scheint die Inanspruchnahme professioneller sportpsychologischer Hilfestellung und Unterstützung häufig auch als Schwäche ausgelegt zu werden. Medien stereotypisieren sportpsychologische Unterstützung nicht selten als skurrile „Psychotricks“ und Eingeständnis mentaler Schwäche (vgl. Lobinger & Porten, 2007; Seiler, 1989). Erst um die Jahrtausendwende setzt in der Öffentlichkeit ein Umdenken ein, das maßgeblich auch von Profisportler_innen getragen wird, die sich positiv zur Sportpsychologie äußern (vgl. auch Porten, 2006).
„In Deutschland wurde die psychologische Betreuung viel zu lange belächelt – als ob das nur für Sportler mit Dachschaden sei. Der neue Bundestrainer hat in kurzer Zeit viel bewegt. Jetzt kann man über Psychologie im Sport reden, ohne dass die Leute einen komisch angucken.“ (Dirk Nowitzki, Stern, 28.10.04)
„Klinsmann hat sie [die Sportpsychologie] nun wieder belebt. ,Ein Psychologe beziehungsweise ein Mentaltrainer gehört dazu, die Spieler kommen in Stresssituationen, auf die sie niemals vorbereitet worden sind.‘“ (Die Welt, 04.08.04)
Maßgeblich beigetragen zum positiven Image der Sportpsychologie in der Öffentlichkeit und wichtiger, zur Akzeptanz im Leistungssport, hat zweifelsohne Hans-Dieter Hermann, seit 2004 Psychologe der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) ehrte ihn 2010 als „Sympathieträger“ im „Rampenlicht der Öffentlichkeit“ und begründete die Preisverleihung u. a. damit, dass es ihm gelungen sei zu vermitteln, dass die Sportpsychologie eine „ernstzunehmende Disziplin“ sei (dgps.de). Möchte man die Entwicklung der Angewandten Sportpsychologie für den Leistungssport an Namen fest machen, wären noch viele Kolleg_innen zu nennen – einer darf jedoch in keinem Fall fehlen: Hans Eberspächer. Seine praxisnahen Handbücher, allen voran „Mentales Training“, das 2012 in der 8. Auflage erschien, darf man durchaus als Standardwerk des sportpsychologischen Trainings im Leistungssport beschreiben.
Doch nicht nur die Bekenntnisse erfolgreicher Sportler_innen sondern auch tragische Ereignisse, wie der Suizid von Robert Enke 2009 haben dazu geführt, dass |32|die Sportpsychologie im Leistungssport Unterstützung erfahren hat. Der Leistungssport und die in ihm handelnden Personen haben eine Verantwortung gegenüber ihren Akteuren. Im Vorfeld der Fußball Weltmeisterschaft 2018 nahm Per Mertesacker, einer der Schlüsselspieler der WM 2014, öffentlich zum enormen Leistungsdruck im Profifußball Stellung. Die so entfachte Diskussion führte, vor allem bei Verbänden und Vereinen, zu einem intensiven Nachdenken über psychosoziale Unterstützung für Spieler_innen. Der von den Medien gestalteten Diskussion zum Thema Druck, die sich mit dem Abschneiden der Deutschen Mannschaft bei der WM in Russland noch verstärkte, folgte nicht selten die pauschale Forderung nach mehr oder besserer „Mentalität“ der Spieler. Die Forderung, dem Druck des Leistungssports mit „Mentalität“ zu begegnen, ist eine gefährliche Vereinfachung der Zusammenhänge von Anforderungen des Leistungssports und Leistungsbereitschaft der Sportler_innen und ein schmaler Grat für die Angewandte Sportpsychologie, die entscheiden muss, ob sie (systemkonform) helfen möchte, Spieler_innen „mental stärker“ zu machen oder ob sie (systemkritisch) analysiert und interveniert. Diese Überlegungen betreffen nicht zuletzt Selbstverständnis und Rolle der Sportpsycholog_innen im Leistungssport zwischen – pointiert formuliert – „Diener“, „Narr“ und/oder „Advocatus Diaboli“ der Entscheidungsträger. Daraus abgeleitet können entweder Methoden zum Tragen kommen, die auch vom System ohne intensive Auseinandersetzung als sinnvoll angesehen werden („Diener“), die einen kurzfristigen Effekt erhaschen („Narr“) oder die das System als Ganzes beleuchten, ggf. konstruktiv kritisieren („Advocatus Diaboli“) und nicht nur die Sportler_innen in sportpsychologische Interventionen einbeziehen, sondern auch mit anderen Stakeholdern gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Ein Beispiel für eine gemeinsame Verantwortungsübernahme ist die Förderung der Dualen Karriere, die sowohl die Vereinbarkeit von sportlicher und schulischer Ausbildung als auch Fragen des Übergangs in das Berufsleben (Transition) umfasst und intensiv vom DOSB (Duale-Karriere.de; Baumgarten, 2018) und der Stiftung Deutsche Sporthilfe (sporthilfe.de) unterstützt wird. An den 18 Olympiastützpunkten in Deutschland finden sich zudem 41 Laufbahnberater_innen (Stand Juli 2018), die mit den beteiligten Partner_innen individuelle Lösungen für konkrete Herausforderungen der Athlet_innen bei der Planung der Dualen Karriere finden. Auch in den Leistungszentren der Bundesligisten wird die Vereinbarkeit von Leistungssport und schulischer Ausbildung über Kooperationen mit Schulen bzw. Sportinternaten oder Eliteschulen des Sports gefördert, zudem sind Pädagogische Leiter_innen an den Leistungszentren verpflichtend.
Die systematische psychologische Unterstützung im Nachwuchsfußball brauchte vergleichsweise länger für eine Etablierung. In seiner Zeit als Sportdirektor beim DFB (2006 bis 2012) setzte sich vor allem Matthias Sammer explizit für eine ganzheitliche Persönlichkeitsförderung im Nachwuchsfußball ein. Mit den Zertifizierungskriterien nach niederländischem Beispiel wird seit 2007 auch explizit psy|33|chologische Unterstützung in den Leistungszentren gefördert (vgl. Lobinger, Raab, Gärtner & Zastrow, 2009). Ein Schwerpunkt der Förderung liegt dabei traditionell auf Entwicklung und Training mentaler Fertigkeiten (Mayer & Hermann, 2014). Waren in der Zeit zwischen 2006 und 2014 nur vereinzelt Psycholog_innen in Vereinen angestellt (so z. B. bei Bayer Leverkusen und zeitweise beim Hamburger Sportverein), so stieg die Anzahl der beschäftigten Sportpsycholog_innen in den letzten Jahren spürbar (z. B. RB Leipzig, Hannover 96, Schalke 04, TSG Hoffenheim) und löste dort vielfach ...