Einleitung
Elke Schlesselmann
„Mobilität“ bedeutet im Wortsinn zunächst nichts Anderes als „Beweglichkeit“. Die in unserem Zusammenhang gebrauchte Bedeutung ist allerdings sehr viel enger, etwa „körperliche Bewegung [des Menschen] für die Gesundheit“. Auf einen umfassenderen Begriff von „Mobilität“ kommen wir im weiteren Verlauf des Buches zu sprechen.
Dass Bewegungsmangel krank macht, scheint altes Volkswissen zu sein. Darauf verweist die schöne Geschichte „Der geheilte Patient“ von Johann Peter Hebel im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes: „Ein reicher Mann, faul hinter dem Ofen sitzend, war, wie es heißt, nicht recht gesund und nicht recht krank; wenn man aber ihn selber hörte, so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage eine andere.“
Er hörte von einem berühmten Arzt, der „100 Stunden weit entfernt wohnte“, und fragte bei ihm an. Der war auch bereit, ihn zu behandeln, allerdings unter der Bedingung, dass der Patient die Anreise zu Fuß machte. Nicht überraschend: Nach dem wochenlangen Fußmarsch war der Patient geheilt.
Genauso hält die körperliche Bewegung auch das Gehirn in Bewegung. Schon Aristoteles schlenderte mit seinen Schülern beim Philosophieren durch die Wandelhallen. Bewegung bringt die Gedanken in Fluss und inspiriert zu neuen Ideen, dies wussten bereits die alten Griechen.
Der Grund ist, dass bei der Bewegung ganz andere Areale im Gehirn gefordert sind, so dass der Kopf sich nach dem Sport wie „frei“ anfühlt, „wie ein reset“. Experimente des Hirnforschers Stefan Schneider deuten darauf hin, dass sich durch Sport die Hirnaktivität verändert: Der motorische Cortex, Zentrale für Bewegung und Koordination, wird aktiviert, wobei gleichzeitig die Aktivität des präfrontalen Cortex heruntergefahren wird. Der präfrontale Cortex ist für das logische Denken und Planen zuständig.
Wird kontinuierlich (dreimal die Woche) Ausdauertraining durchgeführt, können sogar die räumliche Vorstellungskraft sowie die Konzentrationsfähigkeit deutlich verbessert werden. Eine Arbeitsgruppe an der Universität Ulm konnte zeigen: Bewegung hellt die Stimmung auf.
Es sollte allerdings noch über 150 Jahre dauern, bis die Schädlichkeit von Bewegungsmangel und Bettruhe im Weltbild der Medizin ankam.
Bettruhe galt als unhinterfragte Standard-Basisbehandlung für jede Art von Leiden und dieser „Standard“ ist heute noch keineswegs überwunden (Zegelin, s. Kap. 3).
„Zurück zur Bewegung“, auch und gerade in Medizin und Pflege – dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten.
Die Not ist größer geworden. Denn die zivilisatorische Entwicklung bringt mittlerweile ganz neue Probleme mit sich: Parallel zur Entwicklung einer wirksamen Medizin seit der Mitte des 19. Jh. gab es mehrere Schübe von Bewegungsverlust. Wir haben die „Sitzepidemie“! Dieser Trend ist bekannt, und die Suche nach Korrekturen nicht neu. In diesem Buch werden vielfältige Ansätze beschrieben, die Bewegung im Alltag sowie in den unterschiedlichen Pflegesettings zu fördern. Zu den Beiträgen in diesem Buch:
Gesundheit
Einleitend in diesem Buch stellen Müller und Voelcker-Rehage die „reinen“ Gesundheitsaspekte von körperlicher Bewegung vor, die für alle Altersgruppen, für Gesunde und Kranke, kognitiv Intakte und Menschen mit Demenz gelten (s. Kap. 1). Für alte Menschen gibt es inzwischen klare ärztliche Empfehlungen, welches Minimum an körperlicher Bewegung nicht unterschritten werden sollte.
Dabei sind drei Aspekte wichtig: Wie bekomme ich diejenigen, die es am dringendsten brauchen, aus dem Sessel, welche Bedeutung hat Bewegung im sozialen Zusammenhang, und welche Wirkung hat körperliche Bewegung auf den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten.
Gesund im Alter
Viele Erkrankungen treten mit zunehmendem Alter häufiger auf, sie sind „Alterskrankheiten“. Oft sind sie schicksalhaft und nicht heilbar, erfordern jedoch nichtsdestoweniger Behandlung – zur Linderung und „Symptomkontrolle“, aber auch, um ein Fortschreiten zumindest aufzuhalten. Das ist Aufgabe der Geriatrie. So ist es angemessen, den Erörterungen über mögliche Hilfen, Therapien und Prophylaxen einen Überblick über die häufigsten Alterskrankheiten voranzustellen (s. Kap. 6). Ein großer Teil der sogenannten Alterskrankheiten betrifft die Beweglichkeit, zentral über das Nervensystem sowie peripher über die Funktionseinbußen des Bewegungsapparates.
Ganz unterschiedliche Ansätze sind geeignet, dem alten Menschen Freude an der Bewegung zu verschaffen oder sie ihm zurückzugeben. Geselligkeit ist ein wichtiger Antrieb. Vieles kann man zusammen tun, Spazierengehen z.B. (Zegelin, s. Kap. 24), und Tanzen (Kleinstück, s. Kap. 25). „Wir tanzen wieder“, die Initiative von Stefan Kleinstück, hat überdies die Komponente der Musik, die unabhängig vom Sprachlichen funktioniert und besonders wertvoll für Menschen mit Demenz ist. Die Beschreibung zeigt allerdings, wieviel Arbeit nötig ist, um so etwas auf die Beine zu stellen.
Auf der anderen Seite gibt es „technische Geräte“, die die Mobilität fördern. Zunächst im Sport, dann in der Fitnessindustrie und jetzt auch in der Pflege dienen hierzu Trainingsgeräte (Zwingmann, s. Kap. 23).
Theorie und Pflegeethik
Haben die Pflegetheorien Bedeutung für das sehr praktische Problem der Mobilitätsförderung in der Pflege? Diese Frage wird eindeutig mit ja beantwortet (s. Kap. 2) und öffnet die Tür zum eigenen Urteil, auch in ethischer Hinsicht.
Pflege
Pflegeaufwand und Immobilität stehen in direkter Beziehung: Je weniger beweglich ein Mensch ist, desto mehr Aufwand braucht die Pflege. Die Extreme sind die Krankheitsbilder:
- Locked-in-Syndrom
- hohe Querschnittslähmung
- fortgeschrittene Amyotrophe Lateralsklerose
- ein bestimmter Anteil der Wachkoma-Patienten.
Die beiden erstgenannten gehören zusammen, Locked-in kann als extreme Form von Querschnittslähmung gelten. Alle können nur mit maschineller Beatmung überleben, alle sind fast oder ganz unbeweglich. Der hohe Querschnitt kann als unerträgliches Gefängnis erlebt werden, mit ausgeprägtem und anhaltendem Suizidwunsch (Film: „Das Meer in mir“). Locked-in-Patienten können meist mit einem Rest von Augenmuskel-Beweglichkeit kommunizieren (berühmtes Beispiel: „Schmetterling und Taucherglocke“ von Jean Dominique Bauby). Überraschenderweise sind etwa zwei Drittel der Locked-in-Patienten mit ihrem Dasein zufrieden. Das lässt manche Patientenverfügung als problematisch erscheinen, denn ein Gesunder kann sich ein Leben in extremer Abhängigkeit nicht wirklich vorstellen. Wenn die Situation eingetreten ist, kann der Überlebenswunsch stärker sein, als er oder sie sich je vorgestellt hat. So ist in solchen Extremsituationen die Kommunikation mit dem oder der Kranken der Angelpunkt für eine ethisch sinnvolle Entscheidung.
Das gilt in besonderem Maße für den geringen Prozentsatz von Wachkoma-Patienten, die bei Bewusstsein sind, sich aber überhaupt nicht äußern können (ca. 20%). Für diese Gruppe haben sich inzwischen neue Wege der Kommunikation und Diagnostik erschlossen (Hennig, s. Kap. 16).
Zwischen diesen Formen extremer Immobilität, sprich Abhängigkeit, und einem gesunden Alter, das durch Mobilität möglichst auch gesund bleiben soll, liegt das weite Spektrum, mit dem Pflege zu tun hat. Damit ist sie natürlich nicht allein. Die Medizin, die begleitenden Therapien und die unbezahlten Helfer, und vor allem die Angehörigen, sind unentbehrliche Stützen. Und ganz klar: Ohne Absprachen und Austausch wird man nichts erreichen.
Aber die Pflege hat eben auch sehr spezifische Aufgaben, die sie kaum delegieren kann. Horn und Mashkoori zeigen (s. Kap. 26), welche Defizite in Sachen Mobilitätsförderung in der Pflegepraxis bestehen, welche Voraussetzungen eine wirksame Förderung braucht, und welche Methoden geeignet sind, da Abhilfe zu schaffen.
Bilder von der praktischen Arbeit im Krankenhaus vermitteln die Aufsätze von Dengler (s. Kap. 12) sowie Nydahl und Klarmann (s. Kap. 9).
Nydahl und Klarmann schildern die Bewegungsförderung auf der Intensivstation, einschließlich der Beatmungspatienten. Jahrzehnte lang lag der beatmete Patient ganz selbstverständlich mehr oder weniger sediert im Bett, allenfalls passiv bewegt. Die Folge war ein langer Schatten von Folgeschäden, deren Reparatur viele Monate dauerte – wenn sie denn überhaupt gelang.
Besondere Gruppen
Einige Gruppen von Pflegebedürftigen erfordern besondere Expertise. Das sind einmal die Menschen mit Demenz, von denen ein kleinerer Anteil motorische Unruhe, die Tendenz zum „Wandern“, zeigt. Sie sind eine Ausnahme in unserem Zusammenhang, denn meist ist das therapeutische Ziel ja grade die Steigerung der motorischen Aktivität. Einen ungemein erhellenden Aufsatz über die motorischen Auffälligkeiten bei Menschen mit Demenz schreibt Radzey (s. Kap. 7), die langjährige Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Schlüssel zum Umgang ist das Verständnis der Bedeutung, die das Wandern für die Kranken hat.
Eine weitere Gruppe, die besondere Expertise für eine adäquate Betreuung braucht, stellen die Menschen mit geistiger Behinderung dar (s. Kap. 8). Schlüssel auch hier: Das einfühlende Verständnis für den Betreffenden, das die passenden und weiterführenden Lösungen ermöglicht.
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