Einleitung
Die Blindverkostung
Von Parfüm musste ich mich als Erstes verabschieden, aber das hatte ich nicht anders erwartet. Dann folgten parfümierte Waschmittel und schließlich Trocknertücher. Die Finger von rohen Zwiebeln oder scharfen Soßen zu lassen machte mir nichts aus. Kein Salz ins Essen zu tun war zunächst hart, dann eine Zeit lang erträglich und danach zum Heulen. Wenn ich auswärts aß, schmeckte alles so, als ob es in Salzlauge getaucht worden war. Den Mund nicht mehr mit Listerine zu spülen war nicht so tragisch; stattdessen Zitronensäurelösung und mit Wasser verdünnten Whiskey zu verwenden hingegen schon. Schlimm wurde es, als ich Kaffee verbannte. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich es bereits gewohnt, morgens etwas schwerer in die Gänge zu kommen. Nüchternheit am helllichten Tag gehörte der grauen Vorzeit an, genau wie sämtliche Heißgetränke, Zahnschmelz auf meinen Zähnen und ein Vorrat an Kopfschmerztabletten.
Das alles war Teil meines Entzugsprogramms, das ich mir auf Anraten von über zwei Dutzend Sommeliers zusammengeschustert hatte, die im Verlauf von anderthalb Jahren zu meinen Mentoren, Peinigern, Ausbildungsoffizieren, Chefs und Freundinnen und Freunden wurden.
Sie fragen sich vielleicht, wieso ich mich achtzehn Monate lang von einem Haufen Flaschenschubsern in feinem Zwirn habe coachen lassen. Sommeliers sind schließlich nichts anderes als bessere Kellner mit schickem Namen (somm-el-jee), die speisende Gäste unter Druck setzen, ihr Geld für Wein zu verprassen, oder etwa nicht?
So ungefähr stellte ich mir das jedenfalls vor, bis ich mich in die Hände eines elitären Sommelier-Klans begab, für den das Servieren von Wein nicht nur ein Beruf, sondern eine Lebensart darstellte, ein Leben für den Geschmack vor allen Dingen. Sie nehmen an hochkarätigen Wettbewerben und Meisterschaften teil (teilweise während sie im neunten Monat schwanger sind), hantieren mit millionenschwerem flüssigem Gold und möchten gerne die Welt davon überzeugen, dass die Schönheit des Geschmacks auf die gleiche Ebene wie die Schönheit der Kunst und der Musik gehört. Sie beobachten den Wetterbericht, um zu wissen, ob es nasebetäubenden Regen geben wird, und sie lecken an Steinen, um ihre Geschmacksknospen zu trainieren. Zahnpasta ist eine Bürde. Sie beschweren sich über diesen elenden Geschmack nach »neuem Glas« und opfern für den Zungenzirkus sogar ihre Ehe. Mir sagte einmal ein Sommelier, dessen Frau sich wegen seines obsessiven Lernverhaltens von ihm scheiden ließ: »Wenn ich mich zwischen der bestandenen Prüfung und meiner letzten Beziehung entscheiden müsste, würde ich mich für die bestandene Prüfung entscheiden, ganz klar.« Ihre Aufgabe besteht im Wahrnehmen, Analysieren, Beschreiben und Erklären der Geschmacksvariationen einer Flüssigkeit, die von Bestandteil zu Bestandteil das komplizierteste Getränk der Erde ist. »Aberhunderte flüchtige Stoffe gibt es darin. Polysaccharide. Proteine. Aminosäuren. Biogene Amine. Organische Säuren. Vitamine. Carotinoide«, erklärte mir ein Önologie-Professor. »Beim Wein handelt es sich um die komplexeste Matrix, die es gibt. Komplexer ist nur das Blut.«
Was bedeutet dieser Fokus auf solch minutiöse Geschmacksunterschiede? Das war mir selbst nicht wirklich klar. Zumindest nicht, als ich mit der ganzen Sache anfing. Ich bin zu diesen Sommeliers gestoßen, weil ich wissen wollte, was das für ein Leben in der Extremzone des Geschmacks war und wie sie dorthin gelangt waren. Das Ganze wandelte sich irgendwann zur Frage, ob ich selbst wohl auch dorthin gelangen könnte – ob jede x-beliebige Person das könnte – und was sich beim Erreichen meines Ziels wohl ändern würde.
Doch seien Sie gewarnt:
Ein Glas Wein mag für Sie einen Wohlfühlmoment darstellen. Den Moment, in dem Sie es sich nach einem langen Tag gut gehen lassen, in dem Sie einen Teil Ihres Gehirns abschalten. Wenn das so bleiben soll, dann machen Sie einen großen, großen Bogen um die Personen in diesem Buch.
Wenn Sie sich jedoch irgendwann einmal gefragt haben, was dieses ganze Brimborium beim Thema Wein eigentlich soll, ob es wirklich einen erkennbaren Unterschied zwischen einer 20-Euro- und einer 200-Euro-Flasche gibt, oder was wohl passieren würde, wenn Sie selbst es wären, die Ihren Sinnen alles abverlangten – nun, in diesem Fall würde ich Sie gerne mit ein paar Leuten bekannt machen.
Hat man genügend Zeit in der Welt des Weins verbracht, wird klar, dass alle Weinkenner eine Geschichte über die eine Flasche parat haben, die ihre Besessenheit ins Leben rief. Für gewöhnlich passiert dieser Saulus-zum-Paulus-Moment mittels eines, sagen wir, 1961er Giacomo Conterno Barolo in einem kleinen Restaurant im Piemont, mit Blick auf die Hügel von Langhe, wo sich die Buchen im vom Tal emporkringelnden zarten Nebel wiegen. Es ist eine Art Strickmuster: Südeuropa + herrliche Natur + seltener Wein = Moment der Erleuchtung.
Mit meiner persönlichen Wein-Offenbarung verhielt es sich ein wenig anders: Sie passierte am Computerbildschirm. Und ich war nicht einmal am Trinken – ich sah lediglich anderen dabei zu.
Damals arbeitete ich als IT-Journalistin und schrieb für eine netzbasierte Nachrichtenseite über die Googles und Snapchats dieser Welt, und das allermeiste verrichtete ich am Bildschirm. Ein halbes Jahrzehnt war ich auf IT-Streife gewesen, hatte virtuelle Artikel über virtuelle Dinge in virtuellen Universen geschrieben, die man nicht schmecken, fühlen, anfassen oder riechen konnte. »Eindringlich« waren für mich nur Webseiten mit richtig großen digitalen Fotos, und »riechen« konnte ich lediglich Ärger – Körpergeruch, Mittagessen mit einer Kollegin, ausgelaufene Milch im Bürokühlschrank. Einmal ließ ich jemanden einen Artikel schreiben mit dem Titel: »Wie man auf Google Street View Urlaub machen kann«, als ob das Scrollen durch unscharfe Fotos vom Waikoloa-Strand auf Hawaii ein ernst zu nehmender Ersatz für das Herumlümmeln in der späten Nachmittagssonne mit Mai Tai in der Hand wäre.
Eines Sonntagabends schleppte mich mein damaliger Freund und heutiger Ehemann in ein Restaurant am südlichen Rand des Central Park. Es war die Art Restaurant, die sich damit rühmte, mit Essen so zu verfahren, wie es J. P. Morgan angeblich mit Jachten tat: Wer nach dem Preis fragt, kann es sich nicht leisten. Normalerweise würde ich mich aus Angst vor dem – finanziellen und vielleicht auch seelischen – Bankrott von solch einem Ort fernhalten, aber wir sollten seinen Kunden Dave treffen. Und Dave war Weinliebhaber.
Ich persönlich mochte Wein ungefähr so, wie ich tibetische Puppenspiele oder die Theorie der Teilchenphysik mochte, was so viel heißen soll wie: Ich hatte keine Ahnung, was da eigentlich passierte, war aber bereit zu lächeln und zu nicken. Die Ergründung dieser Fachgebiete schien mir die Anstrengung kaum Wert zu sein. Dave sammelte Weine aus dem Bordelais. Meine Einschätzung ging damals so weit, dass ich Weine im Allgemeinen aus der Flasche bevorzugte, aber bei Wein im Karton hätte ich sicherlich auch nicht die Nase gerümpft.
Kaum hatten wir uns gesetzt, erschien auch schon der Sommelier. Ein alter Bekannter von Dave natürlich. Nachdem er ein paar Plattitüden von wegen »guter Jahrgang« und »elegante Nase« von sich gegeben hatte, verschwand er, um uns eine Flasche zu holen, und goss Dave bei seiner Rückkehr einen Schluck zum Probieren ein. »Absolut trinkig«, murmelte der Sommelier. Was für ein Unsinnswort. Soviel ich weiß, ist der Wein einfach nur »süffig«.
Während die beiden mit großem Ohhh und Ahhh die vortrefflichen Grafit- und Teeraromen bewunderten, schaltete ich innerlich ab. Doch dann erwähnte der Sommelier, dass er sich gerade auf den Wettbewerb zum World’s Best Sommelier vorbereitete.
Wie bitte?
Der Gedanke erschien mir zunächst komplett lächerlich. Das Servieren von Wein, ein Wettkampfsport? Öffnen, einschenken, fertig. Oder?
Der Sommelier ging kurz die wichtigsten Bestandteile des Wettbewerbs durch. Am schwierigsten und nervenaufreibendsten war wohl die Blindverkostung, wo es die vollständige Herkunft von zwei Dutzend Weinen zu erkennen galt: in welchem Jahr der jeweilige Wein gemacht wurde, mit welcher Rebsorte, in welchem Fleckchen dieser Erde (Anbaugebiet wohlgemerkt, nicht Land) und wie lange man ihn lagern kann, was man am besten dazu isst und warum.
Ehrlich gesagt, klang das alles nach dem geringstmöglichen Spaß, den man mit Alkohol nur haben kann. Wobei ich für Wettbewerbe ja ziemlich ich viel übrighabe, je weniger sportlich und je schlemmerhafter, desto besser. Als ich nach jenem Abend also nach Hause kam, schaute ich mich im Netz ein wenig um, was es mit diesem Sommelier-Gefecht wohl auf sich haben mochte.
Es entwickelte sich zu einer Obsession. Ganze Nachmittage vergeudete ich an den Laptop gefesselt mit Videos darüber, wie die Rivalen entkorken, dekantieren, schnüffeln und spucken bei ihrer Jagd nach dem Titel des World’s Best Sommelier. Es war wie bei der Hundeausstellung Westminster Dog Show in New York, nur eben mit Alk: Von einer Disziplin zur nächsten fochten wohlgepflegte Typen mit zurückgegeltem Haar und polierten Fingernägeln untereinander einen Wettstreit aus, bei dem es auf rätselhafte Details, eine finster dreinblickende Jury sowie die Grazie, mit der die Kandidaten im Kreis herumliefen, ankam. (Die Sommeliers haben im Uhrzeigersinn um einen Tisch herumzugehen.) Die Anwärter wählten ihre Worte so, als ob jede Silbe auf die Goldwaage gelegt würde, und versuchten, bei ihren Gästen (nicht Kunden – Gäste) wertvolle Hinweise auf Laune, Budget und Geschmack zu...