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Das Bastardbuch

Autobiografische Stationen

AutorHans Neuenfels
VerlagEdition Elke Heidenreich
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783641062880
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die Lebenserinnerungen des herausragenden deutschen Opernregisseurs
Hans Neuenfels ist einer der profiliertesten deutschen Opernregisseure, dessen Inszenierungen, zuletzt 'Lohengrin' in Bayreuth, stets für heftige Kontroversen sorgen. Im 'Bastardbuch' zieht er die vorläufige Bilanz seines Lebens und seines Schaffens als Theater- und Opernregisseur, als Schriftsteller, Dramatiker und Filmemacher. Seine Karriere begann 1964 am Theater am Naschmarkt in Wien. Als maßgeblicher Begründer des Regietheaters ist er dem Anspruch der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung auf der Bühne bis heute treu geblieben. Als kreativer Künstler war er zudem stets ein Grenzgänger. In Paris war er Assistent des Malers Max Ernst, und Schreiben war neben dem Inszenieren für ihn von jeher ein Kernbedürfnis. Das 'Bastardbuch' ist ein sprachgewaltiges, scharfsichtiges Werk, das ein persönliches Bild mit dem einer ganzen Generation verbindet.

Hans Neuenfels (1941-2022) inszenierte u.a. am Schauspiel Frankfurt, das er unter der Leitung von Peter Palitzsch mitprägte. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Seit 1974 inszenierte er über 30 Opern, 2010 inszenierte Neuenfels Richard Wagners »Lohengrin« bei den Bayreuther Festspielen. 2005 und 2008 wurde er zum Opernregisseur des Jahres gewählt. Neuenfels drehte Filme über Kleist, Musil, Genet und Strindberg und schrieb Libretti, Dramen und Romane. 1994 erhielt er die Kainz-Medaille der Stadt Wien. Er war mit der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet. Der gemeinsame Sohn ist der Kameramann Benedict Neuenfels.

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Leseprobe
"Splitter (S. 355-356)

EIN IN JEDER HINSICHT SCHWARZER SOMMERNACHTSTRAUM

1993. Das Schillertheater hatte eine neue Leitung bekommen. Man nannte sie die Viererbande, was ich bedenklich unpoetisch fand. Sie bestand aus dem Regisseur Alfred Kirchner, der Dramaturgin Vera Sturm, dem Regisseur Alexander Lang und dem Organisator Volkmar Clauß. Nach drei Jahren Berlin-Abstinenz gaben mir Alexander Lang und Volkmar Clauß eine Chance, und ich wählte Shakespeares Sommernachtstraum. Für mich wurde es nach Troilus und Cressida 1972 am Schauspiel Frankfurt, Hamlet 1978 am Thalia Theater Hamburg und Antonius und Cleopatra 1989 an der Freien Volksbühne Berlin endlich eine Begegnung, die dem Genie Shakespeares nahekam.

Peter Fitz spielte den Theseus, den Herzog von Athen und Oberon, den König der Elfen, ebenso war Elisabeth die Hippolyta, mit Theseus verlobt, und gleichzeitig Titania, die Königin der Feen. Der berühmte Esel, der Titania begattet, wurde durch Ulrich Noethen zu einer wahrhaft wilden und rührenden Kreatur, und der achtundachtzigjährige Bernhard Minetti verzauberte alle Schauspieler und das Publikum mit beißendem Witz und dem Charme eines greisen Weisen. Da die Freie Volksbühne zwei Jahre nach meinem Abgang 1992 als Theater geschlossen worden war – jetzt ist sie das Haus der Berliner Festspiele –, holte ich für die beiden Liebespaare Sophie Rois und Stefan Wieland von dort herüber, und neu hinzu kamen Susanna Simon und Henry Arnold.

Arnold, der gerade die ersten Folgen als Hauptdarsteller Hermann Simon in Edgar Reitz’ Film Heimat gedreht hatte, sollte im Lauf der kommenden Jahre ein bestimmender Mitarbeiter für meine Schauspiele und Opern und ein Freund werden. Wie jeder vorgeschobene Streitpunkt zwischen einem Paar ist auch der zwischen Titania und Oberon verdeckt und absurd: Wer von beiden ist der rechtmäßige Besitzer des »indischen Knaben« – ein Page unter Dutzenden Pagen?

Reinhard von der Thannen hatte das Bühnenbild ganz in Schwarz gehalten. Nur die Umrandung war metallisch-silbern und wiederholte sich verschmälert in der Bühnentiefe. Auch die Kostüme, bis auf ein weißes Kleid und einen üppigen weißen Pelzmantel der Hippolyta und ein rotes Samtjäckchen für den Puck, waren grundsätzlich schwarz. Der Bewegungschor, die Dienerschaft von Theseus, bestand überhaupt aus Schwarzen, die stilisierte Hottentottenröckchen trugen. Wir hatten uns einen einfachen Schlüsselsatz ausgedacht: Der Sommernachtstraum ist ein schwarz funkelndes Gedicht, ein Carmen über die Spielarten der Liebe und ihre Vergeblichkeit, wenn sie länger dauert als ein Rausch, eine Nacht.

Das Erwachen ist die Dauer, die Institution, die Regel. Das war auch für mich nicht neu und bestimmt keine umwerfende Erkenntnis, aber durch unsere konsequente Ausarbeitung kam es zu verblüffenden, fremden, erhellenden und kraftvollen Situationen und Konflikten. »Schwarz ist zuerst und größtenteils die Farbe der Nacht«, sagte Reinhard, »aber auch die der Gewalt, der Macht. Man wird ins Dunkle verschleppt. Man irrt im Dunkeln umher. In Kriegen wird verdunkelt. Es ist auch die Farbe der Angst und des Todes. Athen ist im Sommernachtstraum eine Diktatur, nicht das helle Land Platons, nicht die meerblaue Wiege der Demokratie. Aber wenn ich weiterdenke, ist es ebenfalls die Farbe der Liebe.« »Das überrascht mich«, warf ich ein.

»Ja«, fabulierte Reinhard weiter, »zwei nackte Körper beschriften mit ihren Bewegungen weiß schimmernd die schwarze Fläche. Auch die Laute sind hörbarer. Das Intime nimmt sich größere Freiheiten. Die Nähe, die Berührungen werden deutlicher, die Glieder wollen mehr erkunden.« »Das ist schön«, stimmte ich zu, und es kann sein, dass wir darauf ein Glas Wein tranken. Reinhard zeigte mit Schnürbrust und Korsage eine eingezwängte, eine fast an sich selbst erstickende Gesellschaft, die dann wie eine Stichflamme explodierte. Die Liebespaare wurden zu lehmverkrusteten, fast steinzeitlichen Wesen, verloren immer mehr ihre Individualität, wurden aufgesogen von einer Qual und Lust, die keine Orientierung mehr ermöglichten und kein Begreifen."
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