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E-Book

Katharina die Große

AutorReinhold Neumann-Hoditz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644406049
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Katharina die Große (1729 - 1796) hat als Zarin ihr Land über drei Jahrzehnte regiert und Russlands Stellung als europäische Großmacht erneuert und gefestigt. Innenpolitisch hat die arbeitsame und gebildete Monarchin ein zwiespältiges Erbe hinterlassen: neben zahlreichen Reformen bewirkte sie auch eine Stärkung der überkommenen Sozialordnung und sorgte für die Ausdehnung der Leibeigenschaft. So ging sie, obwohl vom Geist der Aufklärung geprägt, als eine 'Zarin des Adels' in die Geschichtsbücher ein.

Reinhold Neumann-Hoditz, 1926-1999, studierte osteuropäische Sprachen und Slawistik in Heidelberg und Hamburg. Er arbeitete zwölf Jahre als außenpolitischer Redakteur, unternahm als Berichterstatter weltweite Reisen und war als Rundfunk-Korrespondent in Moskau tätig. Danach lebte er als freier Publizist in Hamburg 1966 erschien sein Asien-Bericht «Chinas heimliche Fronten». Für «rowohlts monographien» schrieb er die Bände über Ho Tschi Minh (1971), Alexander Solschenizyn (1974), Nikita Chruschtschow (1980), Peter den Großen (1983), Dschingis Khan (1985), Katharina die Große (1988) und Iwan den Schrecklichen (1990).

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Leseprobe

Cliquenkämpfe und Palastrevolten


Peter I. hatte die traditionelle Thronfolge in der männlichen Linie außer Kraft gesetzt. Er erließ ein Gesetz, wonach jeder, der Russland regierte, seinen Nachfolger selbst bestimmen und diese Entscheidung zugunsten eines anderen Kandidaten rückgängig machen konnte. Das war eine Folge des schweren Konflikts zwischen Vater und Sohn, dem der Zarewitsch Alexej zum Opfer gefallen war. Zar Peter starb, ohne erklärt zu haben, wem er sein Werk anvertrauen wollte. Für Russland begann eine Zeit der Cliquenkämpfe und der Palastrevolten. Favoriten und Wremenschtschiki, Machthaber für eine kürzere Zeit (wremja = die Zeit), spielten im russischen Staatsleben des 18. Jahrhunderts eine gewaltige Rolle. Es war ein ständiger Kampf um Einfluss und persönliche Macht, der kaum etwas mit den Interessen des Staates und überhaupt nichts mit dem Wohl der Allgemeinheit, des russischen Volkes, zu tun hatte. Palastrevolten, die sich auf die militärische Macht des Staates stützten, hatte es auch früher gelegentlich gegeben; jetzt wurden sie zu einer ständigen Erscheinung. Fünfmal putschten Gardeoffiziere in der Zeit vom Tod Peters des Großen (1725) bis zum Umsturz, der Katharina II. an die Macht brachte (1762). Zum Glücksspiel geriet die Lösung des Problems, wer jeweils den russischen Thron besteigen sollte. Frauen und Männer zogen das Los, gerade so, wie es der Zufall der Geschichte wollte.

Im 17. Jahrhundert war Russland zum Idealstaat eines Kleinadels geworden, der mit der politischen Entmachtung des halbsouveränen Großadels, der alten Bojarengeschlechter, durch die Zentralgewalt entstanden war. Schon vor den Reformen Peters I. wurden die Staatsämter nicht mehr allein nach dem Geburtsrecht der Aristokratie besetzt, sondern auch nach dem Maßstab der Befähigung. Für Zar Peter zählten allein Leistung und persönliches Verdienst. Er schuf eine neue Elite, die, belohnt mit allen Vorrechten des herkömmlichen Adels, einschließlich des Besitzes an Grund und Boden, dem Zaren treu ergeben war. Auf diese Weise wurden die Reihen des Adels durch Personen unterschiedlicher Herkunft erweitert, das heißt, die Macht des Adels wurde wesentlich gestärkt. Höhere Offiziere zum Beispiel gehörten automatisch dem Adelsstand an. Der adelige Dworjanin (dwor = der Hof) besaß nicht nur Ländereien und die dazugehörige leibeigene Bevölkerung. Ihm standen, wenn nötig, bewaffnete Kräfte des Staates zur Verfügung in Form der Garderegimenter. Denn deren Offiziere, und meist auch die Soldaten, waren adeliger Herkunft. Der Adel wirkte auch bei der Verwaltung des Gemeinwesens mit, wozu er von Peter dem Großen verpflichtet worden war. Der Grundherr jedoch, der genügend Land sein Eigen nannte, der diejenigen ausbeuten konnte, die es bebauten, betrachtete den zivilen und auch den militärischen Dienst am Staat, das alte Dienstprinzip, als eine lästige Pflicht, die er so schnell wie möglich abschütteln wollte, was ihm auch bald gelang. Denn die Anteilnahme der sogenannten höheren Gesellschaft an Dingen von öffentlichem Belang hielt sich in Grenzen; ihre privaten Interessen überwogen.

Den regierenden Hofkamarillas und dem schmarotzenden Adel stand das entrechtete Volk stumm gegenüber. Das Volk, das war die Masse der leibeigenen Bauern, der niedrigste Stand der Gesellschaft. Seit Menschengedenken wurde der Muschik als Eigentum seines Grundherrn betrachtet. Seit hundert Jahren war er auch durch Gesetz an das Land, auf dem er schuftete, und an den adeligen Grundbesitzer gefesselt. Es galt nicht nur, die Arbeitskraft der ländlichen Bevölkerung zu sichern und das Rekrutierungspotenzial für die militärischen und wirtschaftlichen Unternehmungen des Staates (Städtebau, Kanalprojekte usw.). Es gab auch rein fiskalische Gründe, die Leibeigenschaft zu zementieren. Denn: Je größer die Macht des Gutsbesitzers über seine Bauern war, desto gesicherter war auch das Einkommen des Staates. Peter . hatte den Gutsherren das Recht zugestanden, die Abgabe von den einzelnen Seelen (poduschnaja podatj) direkt von den Leibeigenen einzutreiben. Diese Kopfsteuer war die Haupteinnahme des russischen Staates. Das Problem der «toten Seelen», der gestorbenen Bauern, für die noch Steuern entrichtet werden mußten, hat Nikolaj Gogol in seinem Meisterwerk behandelt. Seelensteuer mußten auch die Stadtbewohner entrichten; der Dworjanin, der seiner Dienstpflicht genügen sollte, war von persönlichen Abgaben befreit.

Rußland war das klassische Bauernland. Peter der Große hinterließ seinen Nachfolgern etwa dreizehn Millionen Untertanen. In Städten lebten insgesamt nur 328000 Menschen. (Paris allein zählte damals eine halbe Million Einwohner.) Die Verwandlung dieses hinterwäldlerischen Reichs in eine europäische Großmacht, die der Zar mit seltener Willenskraft vollzog, die unablässigen Kriegs- und Frondienste, die er seinem Volk in dreißigjähriger Selbstherrschaft auferlegte, hatten die Kräfte der Russen aufs äußerste erschöpft. Selbst der Adel sehnte sich nach einer Atempause. Die Zeit der Nachfolger Peters (1725–1762) war im Vergleich zur Epoche der petrinischen Reformen eine Zeit der Erschlaffung, des Abflauens der staatlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten.

 

Beim Tod Peters I. kam es zu einer Konfrontation. Die Hocharistokratie wollte Peter Alexejewitsch, den zehnjährigen Enkel des Verstorbenen, zum Zaren erheben. Der Enkel, Abkömmling aus Peters erster Ehe, war der einzige männliche Romanow. Ihm werde es gegeben sein, so hofften die Befürworter dieser Wahl, Russland zu den alten Traditionen zurückzuführen, die sie durch die forcierte «Europäisierung» gebrochen sahen. Die neue Elite dagegen plädierte für Katharina, die zweite Ehefrau Peters, die der Monarch zwar eigenhändig gekrönt, aber nicht ausdrücklich zu seiner Nachfolgerin ernannt hatte. Katharina, von bäuerlicher polnisch-litauischer Herkunft, war insbesondere beim Militär sehr beliebt, denn sie hatte den Zaren auf vielen Feldzügen begleitet und die Strapazen der Truppe geteilt. Während sich in der Petersburger Residenz die Würdenträger stritten, ließen die Anhänger Katharinas die Garderegimenter aufmarschieren. Unter der Drohung mit Gewalt wurde das Nachfolgeproblem schnell gelöst. Mit Katharina I. bestieg zum ersten Mal eine Frau den Zarenthron. Als Selbstherrscherin allerdings war die Kaiserin ungeeignet. Für sie übernahm Alexander Danilowitsch Menschikow, der skrupellose Emporkömmling, die Regierungsgeschäfte. Menschikow, Katharinas ehemaliger Geliebter, der Intimfreund Peters des Großen, war der erste Günstling in der russischen Geschichte: Nach Katharinas Tod wurde der Generalissimus gestürzt; aus der sibirischen Verbannung kehrte er nicht mehr zurück.

Katharina I. überlebte ihren Mann um nur zwei Jahre. Nach ihrem Tod (1727) gelangte der unmündige Peter II. Alexejewitsch auf den Thron, den viele als den einzig rechtmäßigen Erben Peters des Großen betrachteten. Peter II. starb am 19. Januar 1730 an den Pocken. Er wurde vierzehn Jahre alt. Mit ihm erlosch die männliche Linie der Dynastie Romanow.

Unterdessen nahm das Werk Schaden, das Peter der Große geschaffen hatte. Ein Oberster Geheimer Rat, dem die wichtigsten Würdenträger aus beiden adeligen Lagern angehörten, wurde den Selbstherrschern beigegeben; Senat und Kollegien (Ministerien), die Peter I. als höchste Verwaltungsinstanzen eingesetzt hatte, verloren ihre Bedeutung. Unter dem Einfluss der alten Familien, vor allem des Hauses Dolgorukij, die sich in St. Petersburg nie heimisch gefühlt hatten, verließ Peter II. die neue Hauptstadt und verlegte den Hof zurück nach Moskau. Die Stadt an der Newa schien der Verödung preisgegeben zu sein, zumal gewisse Handelsprivilegien aufgehoben wurden, die dem Ostseehafen eingeräumt worden waren. Die Flotte, Peters des Großen ganzer Stolz, verkam, weil die Schiffe nicht mehr gewartet wurden; russische Segler tauchten nur noch selten in westeuropäischen Häfen auf.

Die Willkür des Einzelnen trat an die Stelle der diktatorischen petrinischen Ordnung. Während der Moskauer Hof mit einem Knaben als Kaiser rauschende Feste feierte, kehrten die adeligen Grundherren, vieler Dienstpflichten ledig, auf ihre Güter zurück, um dort nach dem «Rechten» zu sehen. Denn immer mehr Bauern entzogen sich ihrer Fron durch die Flucht in die Steppen des Südens, aber auch in die Wälder des Nordens und Ostens oder auf polnisches Staatsgebiet, wo die Leibeigenschaft weniger krasse Formen angenommen hatte. Die Gutsbesitzer waren durch Gesetz berechtigt, nach «ihren» Bauern im ganzen Land zu fahnden, sie einzufangen und zurückzuschleppen. Die Regierung half ihnen dabei, indem sie Soldaten als Häscher zur Verfügung stellte.

 

Wieder war der Thron verwaist, und die Adelscliquen traten auf den Plan. Die alteingesessene Aristokratie hielt nach einer ihr gefügigen Herrscherin Ausschau (männliche Romanows gab es ja nicht mehr). Dem Einfluss hochmütiger Aufsteiger und Favoriten à la Menschikow wollte man zuvorkommen. Fürst Dmitrij Michailowitsch Golizyn nominierte Anna Iwanowna, die früh verwitwete Herzogin von Kurland, eine Nichte Peters des Großen. Sie akzeptierte die Bedingungen, die ihr der Oberste Geheime Rat übermittelte, in dem zu diesem Zeitpunkt die großen Familien die Mehrheit hatten. Hätten sich die Golizyn und Dolgorukij durchgesetzt, so wäre die Selbstherrschaft, wenn auch nicht die Monarchie, abgeschafft worden zugunsten einer Oligarchie aus Repräsentanten des grundbesitzenden Hochadels. (Das schwedische Beispiel hatte Golizyn inspiriert.) Doch der mittlere und niedere Adel spielte...

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