2 Krisen in der Häuslichkeit: Eine Annäherung
Mareike Hechinger und André Fringer
Um ein Kriseninventar zu erarbeiten, das von unmittelbarem Nutzen für Pflegende im ambulanten Pflegedienst ist, müssen die Perspektiven der Professionellen unbedingt in den Prozess einbezogen werden. Daher war der erste Schritt in der Erarbeitung des Buchser Pflegeinventar für häusliche Krisen eine Problemanalyse. Hierfür wurden zwei Fokusgruppeninterviews mit den Pflegenden der Spitex Buchs durchgeführt und ihre Erfahrungen mit belastenden und herausfordernden Situationen in ihrer täglichen Arbeit erfragt, wie in Kapitel 1.3 dargestellt. In diesem Kapitel werden die Resultate beschrieben und verdichtet dargestellt.
2.1 Ergebnisse
Die Fokusgruppeninterviews zeigten, dass krisenhafte Ereignisse sowohl die unterstützten Personen und die pflegenden Angehörigen als auch die Pflegenden selbst betreffen können. Es wurde außerdem deutlich, dass die Wahrnehmung und das Erleben von Krisen sehr individuell geprägt sind. Nicht jede Krisensituation, die erlebt wird, ist für andere Personen oder Professionelle ebenfalls eine Krise. Das betrifft zum einen die Pflegenden, von denen manche eine Situation als krisenhaft einschätzen, während andere in der Situation keine Schwierigkeiten sehen. Die Pflegenden beschreiben aber auch, dass sie teilweise Krisensituationen in betreuten Familienkonstellationen bemerken, in denen die beteiligten Personen noch keine sehen. Dies liege daran, dass die unterstützten Personen und pflegenden Angehörigen sich sukzessive an die Situation gewöhnt haben, während die Pflegende von außen in die Situation kommen und Schwierigkeiten feststellen. Gerade in der Zusammenarbeit mit Ärzt*innen stellen die Pflegenden unterschiedliche Einschätzungen von Krisen fest, besonders die Akutheit der Situation wird unterschiedlich bewertet. Als Beispiel führt eine Pflegende die Schwierigkeit an, dass sie sich in der Krisensituation bei den betroffenen Personen vor Ort befindet und unter Umständen lange telefonieren muss, bis die zuständige Ärztin oder der zuständige Arzt erreicht werden kann.
Dennoch gibt es Aspekte, die charakteristisch für Krisensituationen sind. So beschreiben die Pflegenden, dass es helfen kann, die Situation und damit auch die Krise treffender einzuschätzen, wenn sie eine unterstützte Person besser oder bereits seit Längerem kennen. Ebenfalls empfinden sie ihre Berufserfahrung als hilfreich für die Einschätzung und Handlungsfähigkeit in krisenhaften Ereignissen.
Die Pflegenden beschreiben zwei Arten von Krisen. Bei der einen Krisenart handelt es sich um Notfallsituationen, in denen eine unmittelbare Reaktion notwendig ist. Dabei handelt es sich meistens um gesundheitliche Krisen physischer wie psychischer Natur, aber auch um Ereignisse wie Stürze. Die Pflegenden müssen die betroffene Person stabilisieren, die Akutheit einschätzen und entsprechend handeln. Bei der zweiten Krisenart handelt es sich um eine Krise, die eine Pflegende als maximale Zuspitzung einer Situation bezeichnet, die sie über einen längeren Zeitraum beobachten. Für die Pflegenden ist diese Krise mit einer gewissen Hilflosigkeit verbunden, da sie sich zwar bemühen, die Krise zu verhindern, aber an ihre Grenzen geraten und sich letztlich in einer Zuschauerrolle befinden. Ein Beispiel ist der regelmäßige Konsum von Alkohol, bei dem die Pflegenden am Tag der ausgebrochenen Krise bemerken, dass die unterstützte Person zum Beispiel betrunkener ist als sonst. Solche Situationen sind durch extreme Verhaltensweisen wie Aggression, verbale Ausfälligkeiten, große Emotionen und Überlastung, aber auch Angst, Unsicherheit, Machtlosigkeit und Unruhe charakterisiert. Die Pflegenden beschreiben diese krisenhafte Situation als solche, in der sie keinen Zugang mehr zu den unterstützten Personen oder den pflegenden Angehörigen finden.
Gerade bei sich entwickelnden Krisen sind Pflegende unsicher, wann und wie sie handeln sollen. Nach Meinung einer Teilnehmenden werden Meldungen über potenzielle Eigen- oder Fremdgefährdung teilweise zu früh abgegeben, dabei haben sie weitreichende Konsequenzen für die betroffene Person. Es fehlen Kriterien, anhand derer entschieden wird, ob eine Handlung notwendig wird oder nicht. So liegt es im individuellen Entscheidungsbereich der Pflegenden. Die Pflegenden berichten auch, dass eine Krise nicht unbedingt zu einer Krise werden muss, sondern dass man sie abwenden könne. Ob die Krise dann entsteht oder nicht, liegt maßgeblich bei den unterstützten Personen oder pflegenden Angehörigen selbst. Die Pflegenden können nur ihren Teil in Form von Beratungen und Hinweisen beitragen. Sie bringen hierfür das Beispiel eines Menschen mit Demenz, dessen Wohnumgebung durch kleine Umbaumaßnahmen gesichert werden könnte, sodass Gefährdungssituationen gar nicht erst entstehen.
In den Interviews beschreiben die Pflegenden unterschiedliche auslösende Faktoren für Krisen. In Notfallsituationen liegen die Auslöser in einer vorbestehenden oder akuten Verschlechterung einer psychischen oder physischen Erkrankung. Weitere Auslöser sehen die Pflegenden in Situationen, in denen Zuständigkeiten nicht geklärt sind, zum Beispiel zwischen sozialer Arbeit und Pflege. Andere Krisen werden durch Fehlinformationen oder Informationslücken ausgelöst. Diese beschreiben Pflegende vor allem in Zusammenarbeit mit Hausärzt*innen, wenn beispielsweise Informationen nicht oder unzureichend kommuniziert werden oder diese im Urlaub sind. Ein weiterer Auslöser liegt in der nicht angepassten Wohnumgebung, zum Beispiel bei Menschen mit Demenz. Einen Hauptauslöser stellen für die Pflegenden Situationen dar, in denen ein stabiles Element (z.B. Ressourcen) wegbricht oder Veränderungen im sozialen Umfeld stattfinden. Das stabile Element kann unterschiedlicher Natur sein und den Tropfen ausmachen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Als Beispiel können pflegende Angehörige genannt werden, die durch den Wegfall einer Haushaltshilfe „ausflippen“. Es geht dabei um mehr als eine gestörte Routine, sondern um das, was dahinter schwelt. Die Haushaltshilfe kann eine wichtige Stütze für die Bewältigung der Situation als pflegende Angehörige gewesen sein und durch den Wegfall wird die eigentliche Belastung offenbar. Eine Krise zeichnet sich nach Ansicht der Pflegenden auch dadurch aus, dass die beteiligten Personen plötzlich ihre Situation anders wahrnehmen und begreifen, dass es so wie bisher nicht mehr weitergeht. Dann können sich durch die krisenhafte Situation neue Möglichkeiten eröffnen, die Krise kann als „Chance“ oder „Neuanfang“ gesehen werden.
Die Pflegenden identifizieren, verglichen mit pflegenden Angehörigen, unterschiedliche Situationen als herausfordernd und belastend. Als krisenhafte Situationen werden akute gesundheitsbezogene Notfallsituationen, psychiatrische Krisen, aber auch jede notfallmäßige Einweisung in ein Krankenhaus gesehen. Weitere Krisen sind Situationen mit Bedrohung, Aggression, Gewalt und sexuellen Übergriffen. Für die Pflegenden stellen verwahrloste Wohnsituationen und Messie-Haushalte ebenfalls eine Krise dar. Weitere Krisen treten vermehrt in Palliative-Care-Situationen auf und sind durch ihre hohe Komplexität und den großen organisatorischen Aufwand außerordentlich belastend. In Palliative-Care-Situationen treten häufig mehrere Krisen auf, so die Pflegenden. Weitere Krisen stellen für die Pflegenden Einsamkeit der unterstützten Personen und sprachliche Schwierigkeiten, zum Beispiel bei Migrant*innen dar. Speziell für die Pflegenden ist eine Krise das Alleinsein in der jeweiligen krisenhaften Situation, wenn sie sich ratlos fühlen und den Eindruck haben, es gebe außerhalb des Teams keine Anlaufstelle für die Krisensituation der unterstützten Personen und deren Angehörigen. Sie haben den Eindruck, ihnen seien die Hände gebunden, und fühlen sich mit Krisen in der ambulanten Pflege alleingelassen. Weitere inhaltliche Ausführungen zu krisenhaften Situationen finden sich in Kapitel 4.3, da die Inhalte der Fokusgruppeninterviews als Basis für den Online-Fragebogen dienten, dessen Ergebnisse dort präsentiert werden.
Im Vorfeld und in der jeweiligen Krisensituation wenden die Pflegenden unterschiedliche Handlungsweisen an. In sich abzeichnenden Krisensituationen der unterstützten Personen und pflegenden Angehörigen sowie in der Krise selbst stehen die Pflegenden den betroffenen Personen mit Beratung zur Seite. Dennoch können sie die Krise dadurch nicht immer verhindern. Für die Pflegenden steht außer Frage, dass sie Gespräche mit Angehörigen führen. Dennoch empfinden sie es als ärgerlich, dass solche Gespräche zur Krisenprävention nicht als pflegerische Maßnahme anerkannt sind und daher nicht abrechenbar sind; unabhängig davon, dass damit eine Krise verhindert werden könnte. Die Pflegenden beschreiben, dass mehr Zeit, Beratung und Beziehungsarbeit hilfreiche Instrumente zur Prävention von Krisen sind. Durch die Beziehungsarbeit können sie die unterstützten Personen und Angehörige beruhigen. Um Krisen abzuwenden, nehmen Pflegende ihr professionelles Netzwerk in Anspruch und verweisen mitunter auf andere Dienste, wie zum Beispiel die Nachbarschaftshilfe.
In akuten Krisensituationen ist es für die Pflegenden wichtig, ruhig zu bleiben. Sie versuchen, die unterstützte Person nicht zu verunsichern, indem sie die eigenen Gefühle kontrollieren. Sicherheit zu vermitteln steht im Vordergrund, wofür die befragten Pflegenden das Bild einer „Maske“ verwenden, die sie sich aufsetzen, um Haltung zu wahren und ggf. die eigene Unsicherheit damit...