2.
Sprachentwicklung und kindliche Gesamtentwicklung
In diesem Kapitel erfahren Sie
- mit welchen anderen Entwicklungsbereichen der Spracherwerb zusammenhängt
- wie die kognitive Entwicklung verläuft
- wie Kinder ihre kommunikativen Fähigkeiten weiterentwickeln
- welche Rolle die Blickrichtung im Spracherwerb spielt
- welche Rolle der sprachliche Input spielt
Genetische Voraussetzungen und äußere Faktoren passen perfekt zusammen
Die Sprachentwicklung ist ein Teil der kindlichen Gesamtentwicklung. Die Kinder bringen zum einen genetische Voraussetzungen für die Sprachentwicklung mit. Mit diesen sind sie bestens für die Verarbeitung sprachlicher Strukturen gerüstet. Zum anderen wirken bei der Sprachentwicklung äußere Faktoren mit. Genetische Dispositionen und Umweltfaktoren beeinflussen sich im Spracherwerb in ständiger Wechselwirkung. Gleichzeitig steht die Sprachentwicklung in Zusammenhang mit anderen Bereichen der kindlichen Entwicklung, besonders mit der sozialen und geistigen (= kognitiven) Entwicklung.
Der »Sprachbaum« ist eine schöne Metapher für das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren und Entwicklungsbereiche. Zu den Wurzeln gehören die Hirnreifung, die geistige Entwicklung, also das zunehmende Denkvermögen und das Wissen des Kindes über die Welt, und schließlich die sozial-emotionale Entwicklung, die Fähigkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Weitere Wurzeln liegen in der Wahrnehmung, in der Motorik und in den lautlichen Vorläufern der Sprache, dem Schreien und Lallen.
Die Informationen aus allen Wurzeln müssen zusammenfließen, sodass das Kind eine sichere Vorstellung von sich selbst und von seiner Umwelt aufbauen kann. Die Fähigkeit, Informationen aus verschiedenen Bereichen zusammenfließen zu lassen, nennt man »sensorische Integration« oder »sensomotorische Integration«.
Wie alle Bilder hat auch die Metapher »Sprachbaum« ihre Grenzen. So darf der Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und anderen Entwicklungsbereichen keinesfalls als Einbahnstraße betrachtet werden! Die geistige Entwicklung und die sozial-emotionale Entwicklung sind nicht nur »Wurzeln« für die Sprachentwicklung, sondern sie sind selbst in ganz entscheidendem Maße von der Sprachentwicklung abhängig.
»Sprachbaum« aus: Wolfgang Wendlandt, Sprachstörungen im Kindesalter (5. Auflage) © 2006 by Georg Thieme Verlag. Stuttgart.
2.1 Mit allen Sinnen − Die Wahrnehmung
Wir können mit verschiedenen Sinnen Reize aufnehmen und verarbeiten. Seh- und Hörsinn werden als »Fernsinne« bezeichnet. Mit ihrer Hilfe sind wir in der Lage, Informationen über eine gewisse räumliche Distanz aufzunehmen. Alle anderen Sinne werden »Nahsinne« genannt. Obwohl die Nahsinne uns ständig mit Informationen versorgen, bleibt der größte Teil dieser Informationen unbewusst.
Das Hören
Der Hörsinn ist der Sinn, der am unmittelbarsten mit der Sprache zusammenhängt. Wie funktioniert das Hören? Schallwellen treffen von außen auf das Ohr. Das Trommelfell am Ende des Gehörganges überträgt die Schwingungen auf die Gehörknöchelchen im luftgefüllten Mittelohr. Die Gehörknöchelchen, eine Kette von winzigen Knochen, die miteinander in Verbindung stehen, leiten die Schallwellen weiter ans »ovale Fenster«. Das ovale Fenster ist eine Membran am Übergang vom Mittelohr zum Innenohr. Während das Mittelohr mit Luft gefüllt ist, ist das Innenohr flüssigkeitshaltig. Am ovalen Fenster werden die Schallwellen auf die Flüssigkeit in der sogenannten »Hörschnecke« übertragen. Je nach Frequenz werden an unterschiedlichen Stellen der Hörschnecke die sogenannten »Haarzellen« gereizt. Hier werden die Schallwellen in Nervenimpulse umgesetzt und auf den Hörnerv übertragen. Der Hörnerv leitet die Reize weiter ans Gehirn, wo sie dann entsprechend verarbeitet werden müssen.
Der Hörsinn funktioniert bereits im Mutterleib. Mehr als zwei Monate vor der Geburt reagieren Kinder auf akustische Reize mit Bewegung der Augenlider (vgl. Wilkening & Krist 1995). Am Ende der Schwangerschaft reagieren sie auf Geräusche oft so stark, dass die Mutter die Bewegungen wahrnehmen kann.
Schon bald nach der Geburt erkennen Babys die Stimme der Mutter (Rauh 1995). Mit etwa drei Monaten können sie ihren Kopf in Richtung einer Schallquelle wenden. Etwa ab dem sechsten / siebten Lebensmonat beginnen sie, Geräusche nachzuahmen und Freude am Erzeugen von Geräuschen zu entwickeln. Zunehmend registrieren sie auch leise Geräusche, wie das Ticken einer Uhr. Hörstörungen sind für den Spracherwerb besonders folgenschwer. Sie werden im vierten Kapitel ausführlich dargestellt.
Das Sehen
Mit den Augen können Kinder ihre Umwelt erkunden und Kontakt zu Personen aufnehmen. Anhand der Blickrichtung können sie mit ihren Bezugspersonen gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen. Sie erkennen, welchen Gesichtsausdruck ihr Kommunikationspartner zeigt, und nutzen diesen beim Verstehen. Außerdem können sie beobachten, wie sich der Mund ihrer Bezugspersonen beim Sprechen bewegt.
Erste Seherfahrungen machen Kinder bereits vor der Geburt. Trotzdem ist das Sehen bei der Geburt der unreifste Sinn. Nur in einer Entfernung von etwa 20 Zentimetern können Babys scharf sehen. Da diese Entfernung ungefähr der Entfernung zwischen Kind und Bezugsperson beim Füttern entspricht, können sie trotzdem die wichtigen Sozialkontakte herstellen.
In den ersten Lebensmonaten lernen Babys zu fixieren und einem bewegten Gegenstand mit den Augen zu folgen. Dazu benötigen sie die Nahsinne, zum Beispiel, um den Kopf und die Augen stabil zu halten. Sie müssen also ständig Informationen verschiedener Sinnesbereiche zueinander in Beziehung setzen. Als Erwachsene können wir das automatisch und ganz ohne Mühe.
Der vier Monate alte Kai liegt in seinem Kinderwagen. Über ihm baumelt eine Kette mit Holzperlen. Zum ersten Mal streckt Kai seine Hände in Richtung des Spielzeugs aus. Nach einigen Versuchen bekommt er die Kette sogar zu fassen. Kai kann seine Handmotorik mit dem Sehen koordinieren.
Der taktile Sinn oder Hautsinn
Das taktile System verarbeitet nicht nur Berührungsreize, sondern auch Temperatur- und Schmerzreize. Die Sinneszellen des taktilen Systems befinden sich in der Oberfläche der Haut. Das taktile System ist das Sinnessystem, das am frühesten in der Lage ist, Reize von außen aufzunehmen, wahrscheinlich schon vor dem Ende des zweiten Schwangerschaftsmonates (Flehmig 1996). Nach der Geburt müssen Babys wesentlich mehr und intensivere taktile Reize verarbeiten. Ein Neugeborenes zeigt deutlich mit seiner Mimik, welche taktilen Reize ihm angenehm und welche ihm unangenehm sind.
Tim ist acht Monate alt. Seit er krabbeln kann, findet er ständig neue Dinge. Seine Eltern haben das Gefühl, ihn kaum aus den Augen lassen zu können, denn Tim steckt alles in den Mund. Auf diese Weise lernt Tim die Beschaffenheit verschiedenster Dinge kennen: Die Taschentücher sind weich und fusselig, die CDs sind glatt, die Kabel sind glatt und dünn. Weil sich im Mundraum extrem viele Sinneszellen finden, erfährt Tim beim In-den-Mund-nehmen sehr viel über einen Gegenstand. Außerdem übt er die Koordination zwischen seinen Händen und dem Mund.
Die vielen Rezeptoren im Mundinnenraum ermöglichen uns, auch feinste Bewegungen auszuführen, um die unterschiedlichen Laute zu bilden. Um ein »sssss« zu bilden, muss sich die Zungenspitze zum Beispiel ganz leicht hinter die Schneidezähne legen. Der Kontakt darf nicht zu fest sein, damit der Luftstrom noch über die Zungenspitze fließen kann. Fast jeder kennt das Gefühl, wenn er vom Zahnarzt kommt und die Wirkung der Betäubung noch nicht nachgelassen hat. Das taktile System im Mundbereich ist ausgeschaltet, und schon wird das Sprechen undeutlich.
Aber nicht nur für die Artikulation, auch für die Entwicklung des Wortschatzes ist das taktile System wichtig. Wenn ein Kind einen neuen »Begriff« lernt, muss es zunächst das neue Ding begreifen, also auch Informationen über die taktile Beschaffenheit sammeln. Die Substantive »Fell«, »Schmirgelpapier«, »Seide« und die Adjektive »weich«, »hart«, »glatt«, »rau« verbinden wir mit einer taktilen Empfindung. Diese gehört zum Bedeutungswissen, das mit diesen Wörtern verknüpft ist.
Auch im Kontakt zu anderen spielt der taktile Sinn oder Hautsinn eine wichtige Rolle. Die Haut ist das Organ, das Babys als Erstes die Nähe zu anderen Personen vermittelt. Deshalb hat die Haut eine ganz enge Verbindung zum emotionalen Erleben.
Der Stellungs- und Spannungssinn − Die Tiefensensibilität
Die Rezeptoren für die Tiefensensibilität befinden sich in den Muskeln, Sehnen und Gelenken. Obwohl es uns in aller Regel nicht bewusst wird, empfängt unser Gehirn dauernd Informationen darüber, ob die Muskeln entspannt oder angespannt sind, in welchem Winkel die Gelenke stehen und ob irgendwo Druck oder Zug ausgeübt wird. Die Tiefensensibilität bildet also die Grundlage für das Wissen über den eigenen Körper und die...