Prolog
Mit den Atheisten stimme ich in vielem überein, in fast allem – außer ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt.
Auf dem bunten und lauten Markt der Religionen unserer Zeit habe ich mit meinem christlichen Glauben zuweilen den Eindruck, den Skeptikern und atheistischen oder agnostischen Religionskritikern näher zu stehen als manchem, was dort so aufdringlich angeboten wird. Mit Atheisten bestimmter Prägung kann ich die Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes in der Welt nachvollziehen. Ich erachte ihre Deutung dieses Gefühls jedoch für übereilt – nämlich für einen Ausdruck von Ungeduld.
Das Schweigen Gottes und die beklemmende Gottesferne bedrängen oft auch mich. Dass die Verborgenheit Gottes sich aufgrund des ambivalenten Charakters der Welt sowie der vielen Paradoxa des Lebens auch mit Aussagen „Gott gibt es nicht“ oder „Gott ist tot“ erklären lässt, weiß ich gut.
Ich weiß jedoch noch von einer anderen Interpretation, von einer anderen Haltung gegenüber einem „abwesenden Gott“. Ich kenne drei (tief miteinander verbundene) Arten von Geduld angesichts der Abwesenheit Gottes: es sind dies Glaube, Hoffnung und Liebe.
Ja, den Hauptunterschied zwischen dem Glauben und dem Atheismus sehe ich in der Geduld. Atheismus, religiöser Fundamentalismus und leichtgläubiger religiöser Enthusiasmus sind sich auffallend ähnlich in dem, wie schnell sie fertig sind mit dem Geheimnis, das wir Gott nennen – und eben deshalb sind alle diese drei Positionen für mich in gleichem Maße unannehmbar.
Mit einem Geheimnis darf man nie „fertig sein“. Ein Geheimnis lässt sich – im Gegensatz zu einem Problem – nicht fassen; man muss geduldig an der Schwelle zum Geheimnis ausharren und in ihm verweilen. Es innen, im Herzen tragen, wie es im Evangelium von Jesu Mutter heißt, es dort reifen und dadurch sich selbst reifen lassen.
Auch mich würden die „Gottesbeweise“, die man in vielen frommen Büchern findet, nicht gläubig machen. Wenn die Zeichen der Gegenwart Gottes uns in so banaler Weise vor Augen stünden, wie einige religiöse Enthusiasten meinen, wäre ein Glaube gar nicht nötig.
Ja, es gibt auch einen Glauben, der aus der schlichten Freude und Bezauberung quillt, dass es unsere Welt gibt und dass sie so ist, wie sie ist – einen Glauben, den wir vielleicht der Naivität verdächtigen können, dessen Lauterkeit und Authentizität jedoch nicht zu bestreiten sind. Solch eine klare und freudige Form des Glaubens kennzeichnet oft die anfängliche Inbrunst der Konvertiten oder blitzt in seltenen Augenblicken unseres Lebensweges unerwartet auf, manchmal sogar in der Tiefe des Schmerzes. Er mag ein „Vorgeschmack“ jener beneidenswerten Freiheit in der Gipfelphase des geistlichen Weges sein, jener Stunde des endgültigen, vollen „Ja“ zum Leben und zur Welt, beschrieben als „Via unitiva“ oder „Amor fati“, als mystische Vereinigung der Seele mit Gott oder als verstehende und freudevolle Bejahung des eigenen Schicksals im Sinne der Aussage von Nietzsches Zarathustra: „War das – das Leben? Wohlan. Noch einmal!“
Ich bin aber überzeugt, dass zum Reifen im Glauben auch gehört, Augenblicke – manchmal sogar lange Zeitabschnitte – durchzustehen, in denen Gott weit entfernt zu sein scheint, verborgen bleibt. Offensichtliches und Beweisbares verlangt doch keinen Glauben; man braucht ihn nicht im Licht unerschütterlicher Gewissheiten, die für unseren Verstand, unsere Phantasie oder unsere Sinneserfahrung erreichbar sind. Der Glaube ist gerade für jene Zeiten der Dämmerung, der Vieldeutigkeit des Lebens und der Welt wie auch für die Nacht und den Winter des Schweigens Gottes da. Er ist nicht dazu da, um unseren Durst nach Gewissheit und Sicherheit zu stillen, sondern um uns zu lehren mit dem Geheimnis zu leben.
Glaube und Hoffnung sind Ausdruck unserer Geduld in eben solchen Stunden – wie auch die Liebe: Liebe ohne Geduld ist keine echte Liebe. Ich könnte sagen, dies gelte sowohl für die „irdische“ Liebe wie auch für die „Liebe zu Gott“, wenn ich nicht wüsste, dass es nur eine Liebe gibt, in ihrem ureigenen Wesen nur eine, ungeteilt und unteilbar.
Der Glaube – ähnlich wie die Liebe – ist untrennbar mit Vertrauen und Treue verbunden. Und Vertrauen und Treue bewähren sich in der Geduld.
Glaube, Hoffnung, Liebe sind drei Aspekte unserer Geduld mit Gott; sie sind drei Möglichkeiten, mit der Erfahrung der Verborgenheit Gottes umzugehen. Sie bieten einen ganz anderen Weg, als es der Atheismus oder der „billige Glauben“ tut, sie stellen – gegenüber jenen beiden oft angebotenen Verkürzungen – ein wahrlich langes Unterwegssein dar. Ähnlich wie der Exodus des Volkes Israel, der das trefflichste biblische Symbol dieses Pilgerns ist, führt es auch durch Wüste und Dunkelheit. Ja, von Zeit zu Zeit verliert sich der Weg – zu dieser Wüste gehört ein ständiges Suchen und zeitweiliges Herumirren, manchmal müssen wir recht tief in den Abgrund, in das Tal der Schatten hinabsteigen, um den Pfad wieder zu finden. Würde er nicht hierdurch führen, so wäre es kein Weg zu Gott – Gott wohnt nicht an der Oberfläche.
Die traditonelle Theologie behauptete, es stehe in der Macht der menschlichen Vernunft, durch Überlegungen über die geschaffene Welt zu der Überzeugung zu gelangen, dass Gott existiert – dieser Behauptung kann man sicher zustimmen. (Genauer gesagt: die Welt steht dieser Deutungsmöglichkeit offen und die Vernunft wiederum der Möglichkeit, zu einem solchen Schluss zu kommen; die Welt als eine ambivalente Wirklichkeit zwingt uns allerdings nicht zu dieser Deutung und lässt theoretisch auch eine andere Sicht zu, und wenn etwas „in den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft“ liegt, heißt es nicht, dass die Vernunft jedes einzelnen Menschen sich diese Möglichkeit unbedingt zunutze machen muss.) Aber dieselbe traditonelle Theologie wusste sehr wohl und lehrte es auch, dass die menschliche Überzeugung von der Existenz Gottes etwas anderes als der Glaube ist. Menschliche Überzeugungen liegen im Reich des „Natürlichen“, während der Glaube dieses Reich übersteigt, er stellt ein Geschenk dar – eine „eingegebene göttliche Tugend“. Gemäß Thomas von Aquin ist Glaube ein Gnadengeschenk, das in die menschliche Vernuft einfließt und es möglich macht, deren natürliche Kapazität zu überschreiten und in bestimmtem und beschränktem Maße an der vollkommenen Erkenntnis zu partizipieren, mit der Gott sich selbst erkennt. Trotzdem besteht jener riesige Unterschied fort, den es zwischen der durch den Glauben sich eröffnenden und uns während des Pilgerns durch das Halbdunkel der Welt begleitenden Erkenntnis und der Erkenntnis Gottes von Angesicht zu Angesicht gibt, dem „seligen Schauen“ (visio beatifica), welches den Heiligen im Himmel vorbehalten ist – also auch uns, wenn wir Geduld und Treue unserem Pilgerglauben gegenüber bezeugen sowie der Sehnsucht, die während unseres ganzen Lebens bis an die Schwelle der Ewigkeit nicht vollständig wird gestillt werden können.
Gründete sich unser Verhältnis zu Gott auf der bloßen Überzeugung von seiner Existenz, einer Überzeugung, zu der wir problemlos mittels Emotionen der Freude über die im Weltall herrschende Harmonie oder durch gedankliches Erschließen von Ursachen und Folgen kämen, so wäre dieses Verhältnis nicht das, was ich im Sinn habe, wenn ich über den Glauben spreche. Den alten Kirchenlehrern gemäß ist der Glaube ein Strahl, mit dem Gott selbst in das Dunkel des menschlichen Lebens eindringt; auf diese Art und Weise, mit dieser Berührung seines Lichstrahls, wird Gott im menschlichen Leben selbst gegenwärtig, ähnlich wie die unermesslich ferne Sonne mit ihrem Schein die Erde sowie unsere Körper wohltuend berührt. Allerdings kennt auch unser Leben mit Gott Stunden der Finsternis.
Es ist schwer zu entscheiden: ob in dem Abschnitt der Geschichte, den wir miterlebt haben und erleben, Stunden der Finsternis öfter vorkommen, als es in der Vergangenheit der Fall war, oder ob wir bloß mehr von ihnen wissen und ihnen gegenüber empfindlicher sind. Ähnlich schwer fällt die Entscheidung, ob die dunklen Seelenzustände, Angst und Trauer, unter denen gerade heutzutage so viele Menschen unserer Zivilisation zu leiden haben – heute bezeichnet mit den Termini der klinischen Medizin, die sie aus ihrer Perspektive erforscht und auch zu beseitigen bemüht ist –, ob diese Seelenzustände gegenwärtig häufiger vorkommen als in früheren Zeiten oder ob frühere Generationen sie vielleicht wegen anderer Sorgen weniger beachteten oder auch andere und effektivere Mittel besaßen, sie zu verarbeiten oder zu bekämpfen.
Diese Stunden der Finsternis, des Chaos und der Absurdität, als wäre man aus dem sicheren Raum einer sinnvollen Ordnung herausgefallen, erinnern auffällig an das, was Nietzsche durch den Mund des „Narren“ in der Botschaft vom Tod Gottes verkündete: „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“
Solche Stunden „fern aller Sonnen“ – die wir auf der großen Bühne der Geschichte mit Symbolen wie „Auschwitz“, „Gulag“, „Hiroshima“, „11. September“ oder „Zivilisation des Todes“ und auf der Alltagsebene einzelner Schicksale mit „Depression“ oder „Krise“ (psychische Krise, Familienkrise usw.) bezeichnen – stellen für viele den „Felsen des Atheismus“ dar. Sie liefern ihnen die Begründung für die Überzeugung...