Prolog
Ganz oben
In der Mittagspause greift er sich manchmal die Tageszeitung der Arbeitskollegen und liest in stiller Konzentration Berichte über Fußballprofis, die es nach »ganz oben« geschafft haben. Danach, wenn die Pause zu Ende ist, steigt er wieder ganz nach oben.
Vom Baugerüst aus schwingt er sich auf die Firstpfette, wie der oberste Balken des Dachstuhls in ihrer Fachsprache heißt. Er steht acht Meter über der Erde, freihändig auf einem nackten Holzbalken, und einen Moment lang, bis der Kranfahrer den nächsten Seitenbalken durch die Luft zu ihm heranbringt, hat Miroslav Klose Zeit, die Welt von oben zu betrachten.
Gleich hinter dem Neubaugebiet beginnt der Wald, leuchtend grün im Sommerlicht. Es spielt keine Rolle, ob sie in Rehweiler, Ruschberg oder Rammelsbach arbeiten, der Wald ist überall, Pfälzerwald, das weiteste zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands, 177 000 Hektar groß. Vom Dachfirst aus betrachtet erscheint die Weite der Natur wundervoll, der Wald auf sanft anschwellenden Hügeln, an den Hängen bisweilen saftige Weiden. Für Miroslav Klose ist der Ausblick perfekt, wenn außer den Bäumen auch eine Landstraße zu sehen ist. Dann kann er Autos anschauen. Er erkennt die vorbeifahrenden Modelle von dort oben zielsicher, ein 3er Golf, die A-Klasse von Mercedes, ein schwarzer BMW M3, so einen Wagen müsste man haben.
Mit den Arbeitskollegen redet er viel über Autos, aber über die Momente, wenn er vom Dachfirst auf die Welt blickt, spricht er mit niemandem. Über solche Dinge redet man doch nicht. Er fühlt es still, für sich: wie schön diese Augenblicke sind, eigentlich nur ein rasches Aufschauen, ehe er wieder einen Seitenbalken vom Kranhaken losbindet und an die Firstpfette nagelt. Dass niemand über solche Momente spricht, hat auch etwas Gutes. So gehört das Gefühl, im Himmel zu stehen und bis zum Horizont schauen zu können, ihm allein. Ganz oben, in den paar Sekunden Muse, spürt er: Er ist zufrieden mit diesem Leben.
Der Dachbalken, auf dem er steht, ist gut 25 Zentimeter breit. Links und rechts davon ist das Nichts. Um nicht hinunterzufallen, geht er seitwärts, immer einen Fuß nach dem anderen setzend. Die Spitzen seiner Sicherheitsschuhe mit den schweren Stahlkappen ragen über den Balken hinaus. Er ist schwindelfrei, die Natur hat ihn mit körperlicher Geschicklichkeit gesegnet, und trotzdem ist er das eine oder andere Mal oben auf dem Dach kurz ins Schwanken geraten. Er fing sich jedes Mal wieder, doch erstaunt registrierte er, wie er nach dem Schreck die Kontrolle über seine Beine verloren hatte. Sie zitterten unablässig. Er musste sich setzen, oben auf dem Dachbalken, und ein anderer Zimmermann stieg hinauf, um ihn kurzzeitig abzulösen, sie konnten sich nicht mit solchen Sperenzchen aufhalten, sie hatten keine Zeit zu verlieren.
Dieses unkontrollierbare Zittern in den Beinen kannte er, schien ihm, er strengte seine Erinnerungen an, und schließlich kehrte das Bild zurück: Er war als Junge mit den Cousins bei seinem Onkel auf dem polnischen Land auf einen Baum geklettert, um Kirschen zu stehlen, als der Bauer erschien. Die Cousins rannten, er rutschte beim Runterklettern ab und fiel ins Nichts. Bevor er aufschlug, bekam er gerade noch einen Ast zu greifen. Mit ausgestreckten Armen hing er am Baum und spürte dieses Zittern zum ersten Mal, die gesamten Beine vibrierten. »Komm runter, dann kriegst du’s!«, schrie der Bauer. »Ich komm ja schon«, sagte Miroslav, sprang ab und rannte augenblicklich davon, das war ein irres Gefühl, mit den zitternden, eigentlich nicht mehr kontrollierbaren Beinen zu rennen, so schnell er konnte.
Die Erinnerungen an die polnische Kindheit sind immer in ein warmes Licht getaucht. Er war neun, als die Eltern mit ihm und der Schwester im Sommer 1987 aus Polen nach Kusel in der Pfalz zogen. Elf Jahre ist das her. Er beschäftigt sich nicht mit der Frage, was seine Heimat ist, warum auch soll der Mensch nur eine Heimat haben, was ihn betrifft, ist er ein Deutscher mit polnischen Wurzeln, er sieht da kein Problem. Er spricht Deutsch wie die Freunde, die ihr gesamtes Leben in Kusel verbracht haben, mit dem weichen T, das aus Tür Diir macht, und mit den ständigen sch-Lauten, wo eigentlich ein ch oder g geboten wäre: rischdisch statt richtig. Wenn er an seine Zukunft denkt, sieht er sich in Kusel.
Oben auf dem Dach arbeiten sie jetzt im Sommer mit nacktem Oberkörper, das ist wie eine Gehaltserhöhung, ein Bonus. Boah, du wirst auch noch braun auf der Arbeit!, sagen die Freunde, als sie nach Feierabend im Eissalon Campo zusammensitzen. Über die Hände reden sie weniger. Doch betrachtet Miroslav Klose sie gelegentlich nicht ohne Faszination, ihm kommt es so vor, als würden sie von der Arbeit immer größer, auch wenn er weiß, dass das nicht stimmen kann. Die Handflächen sind voller Schwielen, wie Inseln stechen die Stellen dickster Hornhaut hervor. Das mag nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechen, aber den Stolz auf seine Hände nimmt ihm niemand. Die praktische Prüfung der Zimmermannslehre hat er als Zweitbester des gesamten Jahrgangs an der Berufsschule Kusel abgeschlossen. Er ist zwanzig, Geselle bei B+F Holzbau und hat einen Traum. Er wird die Meisterprüfung ablegen, seinen eigenen Zimmermannsbetrieb gründen und dann, mit seinen Angestellten und seinen Händen, den Eltern ein Haus bauen.
Das ist ein echter Traum, vielleicht sollte er besser sagen: ein Ziel, um es von diesen Träumereien abzugrenzen, denen Jugendliche nachhängen; die er natürlich auch mal hatte. Er werde Fußballprofi, hat er früher immer gesagt, wie man das halt so sagt als Teenager. Er lächelt bei der Erinnerung.
Er spielt immer noch Fußball. Nun, im Sommer 1998, ist er gerade von der siebten in die fünfte Liga gewechselt, der alltägliche Aufstieg eines Amateurfußballers, aber ihm bedeutet er etwas, von der SG Blaubach-Diedelkopf aus der Bezirksliga zur Reservemannschaft des FC 08 Homburg in die Verbandsliga. Theoretisch könnte er jetzt wirklich noch Fußballprofi werden. Die erste Mannschaft des FC Homburg spielt in der dritten Liga, Regionalliga, am unteren Rand des Berufsfußballs, und wenn er in der Reserveelf auffiele, dann könnte vielleicht der Trainer der ersten Mannschaft … diese Träume lassen sich niemals stoppen.
Miroslav Klose, der neue Stürmer mit den angeblich so wuchtigen Kopfbällen, fällt im Sommer 1998 bereits während der Saisonvorbereitung der Homburger Reserveelf auf. Weil er beim Waldlauf nicht hinterherkommt.
Der Wald schließt unmittelbar ans Stadion des FC Homburg an, der Trainer hat ihnen eine schöne Runde ausgesucht, zum Start geht es sofort 300 Meter bergan. Viel länger als fünfzehn Minuten sind sie nicht unterwegs, als einer aus dem Pulk ruft: »Der Klose schafft’s nicht mehr!«
Frank Oberinger schaut sich um. Er ist der Mannschaftskapitän, sechsundzwanzig, in den letzten Semestern des Lehramtsstudiums, ein Erwachsener unter lauter jungen Fußballern in der Reserveelf, er fühlt sich automatisch verantwortlich.
»Es kann doch nicht sein, dass der jetzt schon nicht mehr mithält.«
»Der ist doch neu, der kennt sich hier gar nicht aus, wenn er zu weit zurückfällt, wird er sich verlaufen!«
»Wie will der denn Verbandsliga spielen, wenn er nicht mal die einfachen Dauerläufe durchhält?«
Laufen ist die Basis des deutschen Spiels, da sind sich die Deutschen sicher, auch wenn im Sommer 1998 einiges infrage gestellt wird, weil die Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Frankreich solch einen bedauernswerten Eindruck macht. Selbst gegen biedere Gegner wie Jugoslawien und Mexiko lässt sie nur noch eine Strategie erkennen: sich mit aller Physis gegen die Niederlage zu stemmen.
In Homburg an der Saar hat der Trainer einer fünftklassigen Reserveelf, Peter Rubeck, der tagsüber in der Verwaltung des Kreiskrankenhauses Völklingen arbeitet, durchaus einige innovativere Spielideen. Er experimentiert mit der Raumdeckung und verlangt bedingungsloses Pressing. Aber um die originelle Spielweise durchzuziehen, wird in der Vorbereitung umso intensiver gelaufen. Setzt ein Fußballer im Training beim Verteidigen nicht nach, unterbricht Rubeck das Spiel. Der Missetäter muss zehn Liegestütze machen. Die Waldläufe variieren mit Tempoläufen auf der Tartanbahn, vier mal tausend Meter. Als die Hauptgruppe der Mannschaft ins Ziel kommt, ist Miroslav Klose noch in der Kurve vor der Zielgeraden unterwegs.
Seine Oberschenkel brennen. Er ist ein Sprinter, wann immer er länger laufen soll, kriecht ihm diese Schwere in die Beine, und in der Brust scheint seine Lunge zu hüpfen. Er macht sich Hoffnung, dass er sich in zwei, drei Wochen an die Intensität des Fünfte-Liga-Trainings gewöhnen könnte. Nach zwei, drei Wochen kommt er aus dem Zustand der Erschöpfung gar nicht mehr heraus, jeden Tag acht Stunden in der Sonne auf dem Dach und dann zum Training nach Homburg.
Doch etwas Interessantes geschieht: Das Training, das ihm zusetzt, fasziniert ihn gleichzeitig. Es ist für ihn das Symbol einer schönen, neuen Welt, denn auch wenn sie mit der Reserve die meiste Zeit auf einem staubigen Aschenplatz trainieren, so ist dieses Training doch wohl ein Vorbote des Profifußballs. Es weckt seine Entschlossenheit. Er möchte das Training bestehen, unbedingt. Er möchte dazugehören zu dieser Welt.
Frank Oberinger glaubt mit seinem Blick des erfahrenen Fußballers im Sommer 1998 tatsächlich einige Jungen in der Mannschaft zu erkennen, die es zum Profi schaffen könnten. Sanel Nuhic vor allem, der bändigt den Ball mit seinem rechten Fuß. Und da sind noch mehr, zwei, drei Namen kommen Oberinger in den Sinn. Der von Miroslav Klose ist nicht dabei. Obwohl dieser im Training praktisch jedes...