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E-Book

Du musst die Menschen lieben

Als Ärztin im Rettungswagen, auf der Intensivstation und im Krieg

AutorHeike Groos
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104010618
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Seit über 25 Jahren ist Heike Groos Ärztin - im Notarztwagen, auf der Intensivstation, mit eigener Praxis, im Afghanistan-Einsatz bei der Bundeswehr. Nie ist ihr Leben Routine. Manchmal ist es ein aussichtloser Kampf. Die junge Motorradfahrerin, die unter ihren Händen wegstirbt, der Selbstmörder, dessen letzter Zuhörer sie sein muss, die Kollegin, die der trauernden Mutter eine erlösende Entschuldigung verweigert. Aber es gibt auch kleine Wunder und glückliche Momente - wenn sie beistehen, helfen und retten kann. Heike Groos schicksalhafte, tragische und bisweilen skurrile Geschichten sind ein aufrührender Insider-Bericht einer engagierten Ärztin, aber auch ein sehr persönliches Plädoyer für mehr Menschlichkeit in unserem technisierten Medizinbetrieb.

Heike Groos (1960 - 2017), verpflichtete sich nach dem Studium der Humanmedizin als Zeitsoldatin bei der Bundeswehr. Danach arbeitete sie als selbständige Notärztin und Allgemeinmedizinerin und zog fünf Kinder groß. Mit Beginn des Afghanistan-Einsatzes 2001 wurde sie erneut von der Bundeswehr rekrutiert und verbrachte insgesamt zwei Jahre als Oberstabsärztin in Afghanistan.

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Leseprobe

Würde


»Willst du eine?«, fragte mich Rolf und hielt mir eine Schachtel Zigaretten vor die Nase.

Nur allzu gern nahm ich eine, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es passend und der Situation angemessen war. Ich entschied, wenn er meinte, es sei in Ordnung, sollte mir das genügen.

Es war Sommer, in einem August Ende der achtziger Jahre, ein strahlend schöner Nachmittag voller Sonne und mit tiefblauem Himmel, der zweite Tag meiner lang ersehnten Berufstätigkeit. Diesen Umstand und das Wetter genoss ich aus ganzem überströmenden und gleichzeitig ein wenig furchtsamen Herzen. Ich saß mit meinem neuen Kollegen Rolf hinten in der Patientenkabine des Notarztwagens, der unter dem ohrenbetäubenden Lärm des Martinshorns durch den Berufsverkehr meiner Heimatstadt Gießen raste.

Seit drei Jahren bestand Anschnallpflicht auch für die Rücksitze, aber Rolf kümmerte sich nicht darum, und so tat ich es auch nicht. Wir waren neben das geöffnete Seitenfenster gerutscht, er saß auf einem Klappsitz und ich auf der Trage, damit der Rauch durch das geöffnete Seitenfenster abziehen konnte.

Wir rauchten vor uns hin und sprachen nicht, was wegen des Martinshorns ohnehin schwierig gewesen wäre, aber ich glaube, wir hätten auch sonst nichts gesagt. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach.

Konzentriert zog Rolf regelmäßig an seiner Zigarette und sah dabei mit verlorenem Blick zum Fenster hinaus, anscheinend ohne etwas von dem wahrzunehmen, was dort draußen so schnell an uns vorbeizog. Er war tief in sich versunken, und ich beobachtete ihn, wie er so saß und rauchte. Das tat er immer, und es schien die Haut seines Gesichtes gegerbt zu haben, es war voller Falten, vor allem um die Augen. Viel mehr Falten als man angesichts seines Alters erwarten konnte.

In den nächsten Jahren fragte ich mich oft, waren es Lachfalten oder waren es die vielen Zigaretten oder der wenige Schlaf oder beides, oder war er einfach so. Es nahm ihm nichts von seiner Attraktivität, das taten auch die dünnen Haare nicht und die Tatsache, dass er nur ein wenig größer war als ich, was nicht besonders viel ist. Er hatte eine besonders intensive Ausstrahlung, vermittelte Wärme und Geborgenheit, und dabei war er schlank und gut in Form.

Ich hatte keine Ahnung, was ihn bewegte. Ich wusste, er war ein erfahrener Notarzt und er würde schwerlich wegen dieses Einsatzes nervös sein.

Auch ich war nicht nervös. Mich bewegten ganz andere Emotionen.

Die letzten Jahre des Studiums mit zwei kleinen Kindern und ohne Geld waren nicht immer einfach gewesen und mannigfaltig die Unkenrufe, dass ich es nicht schaffen würde. Nun, ich hatte es geschafft, allen Zweiflern und Pessimisten zum Trotz, und das war ein wahrhaft erhebendes Gefühl. Ein Gefühl, das, wenn überhaupt, nur noch dadurch gesteigert werden konnte, dass ich an diesem zweiten Tag als Assistenzärztin nun auch noch auf dem Notarztwagen mitfahren durfte. Ein Gedanke, der mich geradezu berauschte. Der Notarztwagen war knallrot, die Insignien meiner neuen Würde trug ich deutlich sichtbar am Körper in Form von strahlend weißer Hose und Hemd, das Stethoskop um den Hals gehängt und darüber die Krönung, die heiß begehrte graue Fliegerlederjacke, mit der man mich für den Rettungsdienst ausgestattet hatte. Auf dem Rücken war ein Klebeschild mit der Aufschrift »Arzt«. Es sei nicht verschwiegen, auch in mir steckt offenbar irgendwo ein kleiner Junge, für den es das größte Glück bedeutet, einmal im Feuerwehrauto mitzufahren, das Blaulicht leuchtet, das Martinshorn tönt, alle anderen Autos fahren eiligst aus dem Weg. Und beim Aussteigen fühlt man sich wie ein Held, der die Bühne betritt.

Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde, es war nicht geplant gewesen, mich an meinem zweiten Arbeitstag gleich auf die Straße zu schicken, aber es war jemand krank geworden und ich war gefragt worden, ob ich mitwolle. Meine leichte Verzagtheit, ich sei unsicher, ob ich das schaffen könne, war vom Oberarzt ausgeräumt worden. Ich solle nur Rolf zusehen und von ihm lernen, ich würde nichts allein und selbständig tun müssen. Es war so üblich in diesem Krankenhaus, das den Notarztwagen betrieb, immer einen auszubildenden Arzt oder Rettungssanitäter mitzunehmen. Der sollte ich an diesem Tag sein, und so war ich aller Verantwortung ledig und konnte mich ganz dem Erleben dieser neuen und so sehr herbeigesehnten Situation widmen.

Am Einsatzort angekommen, ein Naherholungsgebiet am Stadtrand mit einem schönen großen See, auf dem Schwäne majestätisch ihre Bahn zogen, warfen wir die Zigarettenkippen in den Rinnstein, als der Rettungsassistent die Schiebetür öffnete und nach den Koffern griff. Wie man es mir vorher aufgetragen hatte, nahm ich das EKG-Gerät, Rolf trug das Beatmungsgerät und wir eilten in Richtung des Patienten, der auf der Wiese neben dem See lag. Ich wollte rennen, aber der erfahrene Kollege hielt mich zurück. »Wir wollen ankommen«, sagte er, »und nicht stolpern oder stürzen.«

Und es war in der Tat auch besser, dass er nicht rannte, denn entgegen den Vorschriften, die besagten, Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen seien zu tragen, trug er Birkenstocklatschen an den Füßen. Ich hatte, da ich so schnell keine Schuhe bekommen hatte, weiße Turnschuhe angezogen.

Mike, unser Rettungssanitäter, ein breitschultriger, untersetzter Mann mittleren Alters mit einem von blonden, feinen Haaren umrahmten Vollmondgesicht mit immer freundlichem Lächeln, war zwar mit den Schlappen nicht einverstanden, er selbst trug schwarze Bundeswehrstiefel, stimmte aber zu, dass die Einstellung an sich die richtige war.

»Lieber zwei Sekunden später ankommen als überhaupt nicht«, sagte er knapp. Jahre später erlebte ich es bei einer mir bekannten Rettungsassistentin. Sie war mit dem Rettungsfahrzeug zu schnell gefahren, ins Schleudern gekommen, in den Graben gefahren, hatte sich überschlagen und dann selbst gerettet werden müssen, während der Patient, zu dem sie unterwegs war, noch viel länger auf Hilfe warten musste.

Wir eilten also, »zügig ohne Hast«, im ganz leichten Laufschritt zu dem auf dem Boden liegenden Patienten, der keine Lebenszeichen mehr aufwies.

Es war ein alter Mann, die Haut seines Gesichts war runzelig, von braunen Altersflecken übersät, und ein Kranz weißer Haare umrahmte die Glatze auf seinem Kopf. Er trug einen grauen Anzug, ein hellblaues Oberhemd und eine graudunkelblau gestreifte Krawatte, und er lag ganz ordentlich auf dem Rücken auf der Wiese, gleich neben dem geteerten Spazierweg, die Arme neben sich, als hätte er sich zum Schlafen hingelegt.

Neben ihm kniete eine Frau, um die fünfzig, auch sie war sehr akkurat gekleidet, sie trug einen beigefarbenen Popelinmantel und ein bunt gemustertes Seidentuch um den Hals. Sie hielt seine Hand und rief ihn immer wieder an. »Vati, Vati, sieh mich an, mach die Augen auf!«

Sie muss unverzüglich aufgestanden sein und Platz gemacht haben, als wir kamen, denn während der Zeit, in der wir versuchten, den alten Herrn wiederzubeleben, nahm ich sie überhaupt nicht wahr, sie war vollkommen aus meinem Blickfeld verschwunden.

Ich konzentrierte mich ganz und gar auf unsere Reanimationsmaßnahmen und tat, was man mir sagte. Es gab kurze knappe Kommandos, keine Zeit für Erklärungen, kein danke oder bitte.

»Pack mal an, wir müssen ihm die Jacke ausziehen!«, schlug Mike vor, aber Rolf hielt sich nicht damit auf, nahm eine große dicke Schere und schnitt dem alten Mann radikal die Kleider vom Oberkörper.

»Mach den Koffer auf, gib mir den Beatmungsbeutel.« Das war Rolf.

»Weiterdrücken!« Mit einer Kopfbewegung bedeutete er mir, ich solle mit der Herzdruckmassage fortfahren, damit Mike Infusionen und Medikamente vorbereiten konnte, während er selbst den Patienten intubierte, einen Plastikschlauch in die Luftröhre einlegte, um durch diese vermittels des Beatmungsbeutels Luft in die Lungen zu pressen. Mike und ich wechselten uns ab mit dem Beatmen und dem Drücken, Rolf legte inzwischen einen venösen Zugang, einen kleinen Plastikschlauch, der über eine Nadel in eine Armvene eingeführt wird, und darüber gaben wir Medikamente und Infusionen.

Unsere Anstrengungen waren vergebens. Das EKG zeigte die gerade grüne Null-Linie, die wir so fürchten, und Rolf gab irgendwann ein Zeichen, unsere Bemühungen einzustellen.

Jetzt war alles ruhig und still.

Rolf und Mike hielten einen Moment inne. Es war, als wollten sie ganz sichergehen, dass das Herz nicht doch wieder anfing zu schlagen und sich die Brust nicht doch noch zu einem Atemzug hob. Ein wenig war es auch, als würden sie seiner Seele Zeit geben, dahin zu entschwinden, wo auch immer es ist, wohin wir gehen, wenn wir tot sind.

Es war ein kurzer, andächtiger Moment, von dem ich nicht sagen kann, wie lange er dauerte. Vielleicht waren es Sekunden, vielleicht war es auch nur der Bruchteil einer Sekunde. Aber da war ein Innehalten, es ging von Rolf aus, und es war wie eine Reverenz an den alten Mann, der ein ganzes langes Leben gelebt hatte und nun davongegangen war.

Mir war, und ich weiß genau, er tat es nicht, aber mir war, als verneige sich Rolf wirklich. Vor meinem inneren Auge verschwand das Erniedrigende und Sachliche der Szenerie, dass der alte Mann halbnackt vor uns im Gras lag, die Schläuche, die Geräte, die blutverschmierten Nadeln, der Schleim, der aus seinem Mund lief. Es erschien ein anderes Bild, in dem sich beide, Rolf und der alte Mann, gegenüberstanden, einander die Hände reichten und Rolf neigte in einer angedeuteten respektvollen Verbeugung den Kopf. Eine Ehrerbietung an den alten Mann, sein Menschsein, seine Würde.

So schnell wie es erschien, dieses Bild, so schnell war es auch wieder...

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