1. Begriffsklärung und Einordnung
Begriffsdefinition
Stress, Krisen, Niederlagen sowie leidvolle, traumatische Erfahrungen gehören zu jedem Leben dazu. Traumatische Ereignisse wie der Verlust einer geliebten Person, Gewalterfahrung oder Krankheit sind häufig.[1], [2] Je nach Erhebungsmethode und Erhebungsland liegen die Näherungswerte für das Erleben eines traumatischen Ereignisses mindestens einmal im Leben zwischen 60 und 90 Prozent. Das bedeutet, dass beinahe jeder von uns etwas erlebt, das eine emotionale Reaktion auslöst, die so stark ist, dass das Ereignis nach dem diagnostischen Manual der psychischen Störungen (DSM) als psychologisches Trauma charakterisiert werden könnte.[3] Darin jedoch, wie der Einzelne solche Ereignisse verkraftet und bewältigt, unterscheiden wir uns erheblich. Während der eine selbst schwerwiegende negative Erlebnisse rasch überwindet, ja möglicherweise sogar gestärkt daraus hervorgeht, wird der andere von kleinen Krisen aus der Bahn geworfen.
Nur 5 bis 10 Prozent all derjenigen, die ein traumatisches Ereignis erleben, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (englisch: posttraumatic stress disorder, PTSD). Doch traumatische Erlebnisse und Krisen können auch andere Folgen haben: Burn-out, Ermattungssyndrom, Depression. Zudem liegen Stress und Traumata häufig anderen gesundheitlichen Beschwerden zugrunde, die gar nicht mit der Psyche in Verbindung gebracht werden, oder können einen negativen Einfluss auf Krankheitsverläufe haben. Da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, im Leben negativen Erfahrungen ausgesetzt zu sein, liegt es nahe, diesen durch die Förderung der psychischen Widerstandsfähigkeit präventiv zu begegnen. Warum manche Menschen eine stärkere psychische Widerstandskraft haben als andere und wie man die Psyche stärken kann, davon handelt dieser Band.
Für die psychische Widerstandsfähigkeit hat sich der Begriff der «Resilienz» eingebürgert, der vom Lateinischen resilire (deutsch: zurückspringen, abprallen) abstammt. Gemeint ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.[4] Ganz allgemein gesprochen, kann Resilienz als die Fähigkeit eines Systems definiert werden, nach einer Störung wieder in seine Ausgangsposition zurückzukehren und dabei die gleiche Funktion, Struktur oder Identität zu behalten. Insofern kann der Begriff «Resilienz» auch für andere Systeme als die menschliche Psyche genutzt werden. Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, ist die Beschreibung der Resilienz als «Widerstandsfähigkeit» eigentlich fehlleitend – denn der Begriff «Widerstand» impliziert ein hartes Gegen-etwas-Ankämpfen, während es sich bei der Resilienz vielmehr um sanfte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit handelt. Trotzdem werde ich das Synonym «Widerstandsfähigkeit» im Text verwenden, im Sinne einer auf Dauer den Widrigkeiten trotzenden Psyche. Wir wollen hier «Resilienz» als die Erhaltung oder zügige Wiederherstellung der psychischen Gesundheit nach einem traumatischen Erlebnis oder während adverser Lebensumstände definieren.
Resilienz in anderen Bereichen
Die Resilienz eines Systems hängt von seiner Fähigkeit ab, Störungen zu absorbieren und sich neu zu organisieren. Dies lässt sich gut am Beispiel eines Ökosystems verdeutlichen. Wird ein kleiner Bachlauf durch sauren Regen verschmutzt, schadet dies kurzfristig einigen Tieren und Pflanzen. Dies ist die Störung. Doch da sich das Wasser im Fluss befindet, verteilt sich das schädliche Regenwasser rasch – die Störung wird also absorbiert, und das Ökosystem Fluss kann zu seinem Ausgangszustand zurückkehren. Ein anderes Beispiel ist das Einbringen einer neuen Pflanzenart in ein existierendes Ökosystem. Die neue Pflanze breitet sich möglicherweise stark aus und beginnt heimische Pflanzen zu verdrängen. Wenn jedoch einige der heimischen Tiere diese neue Pflanzenart als Nahrungsquelle entdecken, können sie deren Zahl wieder dezimieren: Das Ökosystem passt sich also an die neuen Gegebenheiten an. Wenn sich ein neues Gleichgewicht entwickelt, hat das Ökosystem resilient auf die Störung reagiert.
Auch in Bezug auf unser Klima können wir von Resilienz sprechen: Die Fähigkeit von Ozeanen und Wäldern, CO2 aufzunehmen, also wortwörtlich zu absorbieren, hatte für eine lange Zeit zur Folge, dass sich trotz erhöhtem CO2-Ausstoß keine sofortigen Konsequenzen für das Klima ergaben. Sobald jedoch die Ozeane und Wälder gesättigt sind, hat das Klimasystem keine Möglichkeit mehr, resilient zu reagieren.
Ähnliche Beispiele lassen sich auch im technischen Bereich finden, so etwa in Bezug auf Eigenschaften von Materialien (Aufnahme von Energie in Form von Deformation oder Wärme) oder Gebäuden (Stabilität bei Wind oder Erdbeben). Sogar auf soziale Systeme wie eine Schulklasse oder eine Stadt kann das Prinzip der Resilienz angewandt werden. Der Begriff der «resilienten Gesellschaft» wurde öfter im Rahmen der Berichterstattung zu Terroranschlägen genannt. In diesem Buch liegt der Fokus auf der psychischen Resilienz eines Individuums.
Historische Entwicklung des Konzeptes
Der Begriff «Resilienz» wird in der Psychologie erstmals in den 1970er Jahren verwendet. Das Konzept einer starken Psyche, die Widrigkeiten trotzt, ist jedoch nichts Neues. Schon früher beschäftigte Wissenschaftler und Philosophen die Frage, was einen Menschen gesund hält – körperlich und psychisch, denn letztendlich sind diese beiden Bereiche untrennbar miteinander verbunden. Bereits in der Antike lehrte der Stoizismus, wie ein Mensch seine Psyche stärken und besser mit Schicksalsschlägen umgehen kann. Stoische Philosophen wie Seneca oder der römische Kaiser Marc Aurel übten sich in einer Geisteshaltung von Gelassenheit und Gleichmut. Äußere Umstände können wir nicht verändern, so die Lehre, wohl aber unsere Gedanken und Reaktionen. Der französische Arzt Philippe Pinel, oftmals als «Vater der modernen Psychiatrie» bezeichnet, beschrieb um 1800, dass Unglücke, unerwartete Schicksalsschläge und schwierige Lebensumstände das Risiko für Geisteskrankheiten erhöhen. Als einer der ersten Ärzte sah er Menschen mit psychiatrischen Störungen als Behandlungsbedürftige, nicht lediglich als «Verrückte» an. Im 20. Jahrhundert widmete sich die Forschung verstärkt den Mechanismen und Zusammenhängen zwischen widrigen Erfahrungen und dem Entstehen psychiatrischer Erkrankungen. Ein besonderer Fokus lag hier auf frühkindlichen Erfahrungen und stützte sich auf Untersuchungen von Kindern, die unter schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Forschungen von John Bowlby,[5] Mary Ainsworth[6] und Harlows Experimente mit Affen[7] um 1950 zeigten, wie wichtig die frühkindliche Erfahrung und die Bindung an die Eltern ist. Die Psychologen überschätzten zwar damals die Generalisierbarkeit und die Unumkehrbarkeit des psychologischen Schadens, den eine schlechte Bindung an die Pflegepersonen anrichten kann – doch in einer Zeit, in der jegliche Zuwendung zu Kindern als Verwöhnen angesehen wurde, war das vielleicht gar nicht so schlecht, da es zu gesellschaftlichem Umdenken führte. Anschließende Studien um 1970/80 fanden dann, dass nicht alle Kinder, die unter widrigen Lebensumständen groß werden, und nicht alle Erwachsenen, die einen Schicksalsschlag erleiden, zwangsläufig eine psychiatrische Erkrankung entwickeln. In einer großangelegten Studie untersuchten die Psychologinnen Emmy Werner und Ruth Smith die Entwicklung von Kindern aus schwierigen Verhältnissen in Hawaii. Ein Drittel der Kinder war mit zehn Jahren nicht verhaltensauffällig. Diese Kinder beschrieben die Forscherinnen als resilient.[8] Andere Studien schätzen sogar die Hälfte der Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, als resilient ein.[9] In diesem Zusammenhang kam damals der Gedanke der «unverwundbaren» Kinder auf, die jegliche Widrigkeiten unbeschadet überstehen.[10] Doch auch das war eine Überinterpretation der Daten, wie wir heute wissen.
Ebenfalls in den 1970er Jahren arbeitete der Soziologe Aaron Antonovsky mit ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern. Er stellte mit Erstaunen fest, dass näherungsweise 30 Prozent der Studienteilnehmer gesundheitlich unbeeinträchtigt waren. Er schlug vor, dass drei Aspekte zentral für diese Gesunderhaltung sind: die Fähigkeit, die ...