2. Kapitel:
Woher ich komme
Im Juni war’s und ziemlich heiß. Und der Himmel heiter, wie man so sagt, wenn kaum ein Wölkchen den Blick ins Unendliche trübt. Ich saß im Schatten und studierte Akten. Plötzlich knallte es unvermittelt. Ohne Ankündigung. Ein gewaltiger Rumms riss meinen Blick vom Papier, ich sah in der Ferne eine Flammenkugel wie in Zeitlupe auf die Erde stürzen. Die Distanz: schwer zu schätzen, der Himmel ist ohne Koordinaten. Es konnten sechs oder zehn Kilometer sein – vor, über oder hinter Malchow im Norden. Die Vögel verstummten, es war totenstill. Vielleicht aber hatte auch nur die brütende Nachmittagshitze ihnen die Schnäbel verschlossen und ich dies zuvor nicht bemerkt. Das Tschilpen und Singen verliert sich auf Dauer wie das Rauschen der Bäume im Wald, nur unterschwellig ist es noch präsent. Erst wenn’s fehlt, bemerkt man es. Man kann eben nur vermissen, was man kennt.
Schon bald stieg an verschiedenen Stellen Rauch auf. Offenkundig brannte dort der Wald. Seit es so trocken war, passierte das öfter. Jenseits der Straße war unlängst ein Baum auf die Freileitung gestürzt und hatte den Draht zerrissen, Funkenflug, und schon brannte die Wiese. Die Flammen waren rasch gelöscht, länger dauerte es, ehe wir wieder elektrischen Strom in der Kanzlei hatten.
Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, was da passiert war. Seit Wochen jagten Eurofighter über unsere Idylle. Jahrelang hatte hier Ruhe am Himmel geherrscht, doch damit war Schluss. Stetig nahm die Zahl der Überflüge zu. Man brauchte nur in die Zeitung oder ins Fernsehen zu schauen, um den Grund zu wissen. Es brannte an allen Ecken und Enden: Syrien, Afghanistan, Iran, Libyen, Mali, Venezuela, Palästina, Ukraine … Unlängst hörte ich im Deutschlandfunk, mit dem Auto unterwegs in mein Kampfgebiet, von im Baltikum stationierten deutschen Soldaten. »Den möglichen Feind nennt hier niemand beim Namen. Aber allen ist klar, dass es sich um Russland handelt. Die NATO hat vier internationale Bataillone eingerichtet – neben Litauen auch in Polen, in Lettland und in Estland, an der europäischen Ostflanke des Bündnisses also.« Deutsche Panzer an der russischen Grenze! Wie 1941. Der Gedanke war und ist mir unerträglich.
Die Bundesluftwaffe trainierte zunehmend intensiver. Um nicht aus der Übung zu kommen? Gut, Piloten brauchen Praxis. Aber weshalb flog man über besiedeltes Gelände und nicht über die offene See? Der Fliegerhorst befand sich in Rostock-Laage, dort waren zwei Dutzend Eurofighter des Taktischen Luftwaffengeschwaders 73 stationiert, was ich aus der Zeitung wusste. Mit solcherart militärischen Geheimnissen geht man heute ganz offen um, um nicht über das Eigentliche reden zu müssen. Das Geschwader war benannt nach dem Luftwaffengeneral Johannes Steinhoff, der als Jagdflieger während des Zweiten Weltkriegs mehr als 900 Einsätze flog, nicht wenige davon beim Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. Seine Abschüsse trugen ihm etliche Ehrungen der Naziführung ein. In den fünfziger Jahren trat Steinhoff der Bundeswehr bei. In den sechziger Jahren wurde er Inspekteur der Luftwaffe, als die Starfighter zu Hunderten vom Himmel stürzten – 269, um präzise zu sein. Dabei kamen 116 Piloten der Bundesluftwaffe ums Leben, weshalb die unausgereifte US-Maschine F-104G den zynischen Beinamen »Witwenmacher« erhielt. In den siebziger Jahren war Steinhoff Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, mithin also der ranghöchste Soldat des Bündnisses. Auch in dieser Personalie offenbarte sich eine Kontinuität, die nicht zu den rühmenswerten Seiten unseres Volkes gehört.
Meine eigene Familie nehme ich von diesem Tadel nicht aus. Ich sitze gewissermaßen im Glashaus und hüte mich, mit Steinen zu werfen. Ich kasteie mich jedoch auch nicht wegen der schwarzen Schafe. Geschichte ist Geschichte. Man kann sie nicht ungeschehen machen, wohl aber eine Haltung zu ihr haben. Und man sollte Geschichte nur aus ihrer Entwicklung heraus verstehen und sie nicht von ihrem Ende her deuten, wenn man mehr weiß als die damals Handelnden wissen konnten. Und wenn überdies von einer vermeintlich moralisch höheren Warte geurteilt wird, ist das besonders fatal und falsch. Das gilt für die kleine wie für die große Geschichte.
In meinem Jagdhaus befindet sich ein Bleiglasfenster mit einem Porträt Bismarcks und einem Zitat von ihm: »Setzen wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können.« Ein solcher Satz lässt sich heute, nach zwei Weltkriegen und anderen Katastrophen mit deutscher Beteiligung, als gutsherrisch und imperial interpretieren. Als Bismarck ihn 1867 vorm Norddeutschen Reichstag fallen ließ, konnte er wahrlich nicht ahnen, wohin das Pferd galoppieren würde – wie eben auch wir 1990, nach der Wiedervereinigung, nicht wissen konnten, wohin die Reise gehen würde. Die meisten, so auch ich, waren vom gleichen Optimismus durchdrungen, mit dem Bismarck damals die Reichseinigung vorantrieb.
Meine mecklenburgische Gutsherrenfamilie war nicht nur eine ziemlich alte, deren Geschichte sich über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen lässt, sondern auch eine sehr vermögende. Stets wurden Höfe und Äcker auf die Kinder übertragen, und jene, die nichts abbekamen, gingen zum Militär.
In der Familienchronik ist ein Hans Heinrich Diestel verzeichnet (offensichtlich ist es Tradition bei uns, die Kinder mit Doppelnamen auszustatten), der im 18. Jahrhundert in Ratzeburg bei einem Holzhändler als »Meisterknecht« arbeitete und die Tochter eines herzoglichen Gutspächters ehelichte. Aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor. Der älteste – Johann Peter Heinrich Diestel – muss es wohl zu einigem Vermögen gebracht haben, weshalb er sich 1818 das Rittergut Cambs mit dem Vorwerk Ahrensboeck kaufen konnte, das liegt nordöstlich von Schwerin. Mein Vorfahr soll das Gut zum Blühen gebracht haben. Mitte der 1850er Jahre ließ er in Cambs eine kleine Fachwerkkirche errichten, ebenso in Langen Brütz. Die Kapelle in Cambs steht unter Denkmalschutz und war zu DDR-Zeiten sorgfälig restauriert worden; die neuerliche Einweihung erfolgte 1980 mit einem Festgottesdienst. Die Friese-Orgel kostete 950 Reichstaler und spielt noch immer. Und im Turm hängt eine Glocke mit dem Schriftzug »Soli deo Gloria« (»Allein zur Ehre Gottes«) und »J. P. H. Diestel«. Auch sie läutet noch.
Das Gut Cambs blieb drei Diestel-Generationen im Familienbesitz, 1905 wurde es verkauft. Der neue Eigentümer ließ das alte Herrenhaus und etliche Katen abreißen und verkaufte schon acht Jahre später alles wieder.
Ein anderer Diestel – geboren 1848 als Sohn des Pächters Ludwig Diestel auf dem Großherzoglichen Hausgut Plüschow, auf halber Strecke zwischen Wismar und Grevesmühlen gelegen – studierte zunächst Theologie. Doch »wegen seiner offenkundigen Begabung für die Landwirtschaft«, wie die Chronisten berichten, übernahm dieser Herrmann Diestel auf Bitte seines Vaters das Gut Keez bei Brüel. Das befand sich, welch Zufall, unweit von Cambs Richtung Osten. Richtung Westen lag Neu Zittow, diese Bauernstelle wurde mindestens bis 1850 von einem Christian Diestel bewirtschaftet, dann verlieren sich seine Spuren. Auch vom Hof ist nichts mehr zu sehen.
Ein Neffe von Johann Peter Heinrich Diestel erwarb 1854 die Rittergüter Leezen und Langen Brütz, die in der gleichen Gegend lagen. Von diesem Ludwig Diestel kennen wir die Lebensdaten, er wurde 1810 geboren und starb 1894, bei vielen anderen sind sie oft unbekannt. Warum nach der Jahrhundertwende die Diestels die Güter Cambs, Leezen und Langen Brütz verkauften und sich bürgerlichen Berufen zuwandten, vornehmlich Rechtsanwälte wurden oder eine Militärlaufbahn einschlugen, vermag ich nur spekulativ zu beantworten, es liegen keine überlieferten Zeugnisse vor. Wahrscheinlich war die Ertragslage derart unbefriedigend, dass eine Landflucht angeraten schien. Ich nahm den umgekehrten Weg und sehe aus der Familiengeschichte, woher meine tiefe Verbundenheit zur Natur und zum Land rühren. Ich kann meine Wurzeln kaum leugnen.
Friedrich Diestel aus Langen Brütz wurde im Juni 1894 von Wilhelm II., dem deutschen Kaiser, in Potsdam persönlich verabschiedet. Der Leutnant gehörte zur Verstärkung der 300-köpfigen »Schutztruppe«, die in Deutsch-Südwestafrika die einheimische Bevölkerung unterdrückte. Er hatte insofern Glück, als er im September 1894 an der Spitze einer Reiterpatrouille fiel und somit nicht an der Ermordung von Herero und Nama beteiligt war. Damals nannte man das militärische Absicherung der Kolonie, heute spricht man von Genozid. Die Menschen starben bei Kampfhandlungen und in Konzentrationslagern, man schätzt die Zahl der Opfer auf etwa 70000. Erst im Sommer 2015 rang sich das Auswärtige Amt zum Eingeständnis durch, dass es sich um Völkermord gehandelt habe.
Dieser Friedrich Diestel soll kurz vor seinem Tode noch zum Premierleutnant, was heute ein Oberleutnant ist, befördert worden sein, und überdies habe man ihn zum Adjutanten des Reichskommissars und Landeshauptmanns ernannt. Das war Berlins Statthalter im »Schutzgebiet« und faktisch der Chef der...