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E-Book

Ich bin viele

Psychotherapie mit Ich-Anteilen

AutorChristian Stadler
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl178 Seiten
ISBN9783497609796
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Innere Zerrissenheit, sich widersprechende innere Stimmen werden von vielen Menschen oft als quälend erlebt. In Psychotherapie und Beratung jedoch lassen sich solche inneren Anteile fruchtbar machen, wenn man sie bewusst wahrnimmt und zu integrieren versucht. In diesem Buch wird die Arbeit mit Ich-Anteilen methodenübergreifend vorgestellt. Ausgehend von Konzepten zu Rollen, Anteilen, Zuständen (States) und Typen wird praxisnah in die Anwendung im Berufsalltag eingeführt. Fall- und Dialogbeispiele, konkrete Übungseinheiten im Einzel- und Gruppensetting sowie exemplarische Instruktionen erleichtern den Lesern die Umsetzung. Das Buch eignet sich sowohl für Neulinge in Therapie und Beratung als auch für Erfahrene, die ihr Repertoire um die Arbeit mit inneren Anteilen erweitern möchten.

Dipl.-Psych. Christian Stadler, Psychologischer Psychotherapeut (TFP), Psychodrama-Therapeut (DFP, IAGP), Supervisor, ist in München in eigener Praxis und in der Fort- und Weiterbildung tätig.

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Leseprobe

4 Innere Anteile: Inneres Kind, Innerer Helfer, Inneres Team

„Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch“ (Erich Kästner).

Die Arbeit mit dem Inneren Kind, dem Inneren Helfer und die Arbeit mit dem Inneren Team sind in den letzten Jahren sehr populär geworden (Chopich & Paul, 2000, 2004; Bunz-Schlösser, 2003; Herbold & Sachsse, 2007; Kumbier, 2013; Peichl, 2008, 2013a; Rohwetter, 2015; Schulz von Thun, 2007). Die Konzepte haben verschiedene Wurzeln, z. T. in der theoretischen Reflektion der Kommunikationswege wie z. B. bei Schulz von Thun, zum Teil in der klinischen Praxis in der Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen oder dissoziativen Störungen wie z. B. bei Peichl, der gute und fundierte Überblicksarbeiten liefert (Peichl, 2008). Nicht immer liegen dem praktischen Vorgehen explizite wissenschaftliche Theorien zugrunde; oft beziehen sich Psychotherapeuten, die mit diesen Methoden arbeiten auf eine aus ihren praktischen Erfahrungen abgeleitete Evidenz. Gut ist, was wirkt. Eine erprobte Praxeologie braucht jedoch eine theoretische Fundierung, damit man weiß, was man tut, wenn man etwas tut, was wirkt, und in welchem störungsspezifischen Kontext eine bestimmte Methode zum Einsatz kommt.

4.1 Grundverständnis

Um sich einen Zugang zu den Inneren Kindern, Helfern und Teams zu erschließen, hilft das Grundverständnis des kulturellen oder Rollen-Atoms, das in den vorhergehenden Abschnitten (Kap. 3) beschrieben wurde. Der Mensch reagiert in verschiedenen Situationen aus einem inneren Muster heraus, welches durch Personen, gespeicherte Erfahrungen, persönliche Werthaltungen und aktuelle Umwelt definiert ist. Denk-, Fühl- und Verhaltenskonstellationen haben sich in Körper und Gehirn als neuronale Muster gebildet, und können als eine Rolle beschrieben werden. Dies bedeutet nicht, dass der Mensch verschiedene kleinere Menschen quasi als Entitäten in sich trägt, sondern, dass bestimmte Aspekte und Seiten, bestimmte Anteile in ihm, in seinem Selbst, sagen manche psychodynamischen Schulen, zu einer bestimmten Zeit aktiv werden. Wenn Gudrun sich vorstellt, sie sei Familienministerin und bewegt sich wie diese durch den Raum, ist sie keine Familienministerin; sie begibt sich in eine innere Rolle einer Familienministerin, verhält sich, als ob sie eine solche wäre. Wenn sie sich danach vorstellt, sie sei eine Kellnerin und sich wie eine Kellnerin durch den Raum bewegt, ist sie keine Kellnerin an sich. Sie macht sich eine Vorstellung, wie sich eine Bundespräsidentin oder eine Kellnerin bewegen, und aktiviert die entsprechenden inneren Muster und lässt dafür andere Muster in den Hintergrund treten. Sie bedient ein inneres Cluster, eine bestimmte Konstellation an Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen. Diese hat sie eventuell zuvor bei entsprechenden Personen mehr oder weniger bewusst wahrgenommen und abgespeichert (Imitation oder Simulation), oder sie erarbeitet sich diese spontan in der Einfühlung in die jeweilige Rolle.

Rollenmusterlernen: Imitation, Spiegelneurone und Empathie

Bereits ab der Geburt beginnen Säuglinge ihr Gegenüber zu imitieren. Die Mutter lacht beim Wickeln, das Kind lacht ebenso. Durch zahlreiche Interaktionen dieser Art entsteht Bindung, ein Wir-Raum oder „geteilter intersubjektiver Raum“ (Gallese, 2006) und neurologisch beim Kind das Spiegelneuronensystem. Ab etwa dem 18. Lebensmonat beobachten Kleinkinder bei anderen gezielt Handlungen und beginnen sie durch Imitation nachzuvollziehen; das System der Spiegelneurone ist etabliert und wird vermehrt aktiviert. Das Kind entwickelt die Fähigkeit der Zweifühlung, der wechselseitigen Empathie, und kann sich in sein Gegenüber in Bezug auf Kognition und Affekt hineinversetzen..

„The shared intersubjective space in which we live since birth enables and bootstraps the constitution of the sense of identity we normally entertain with others. Social identification incorporates the domains of action, sensations, affect, and emotions and is underpinned by the activation of shared neural circuits. A common underlying functional mechanism —embodied simulation — mediates our capacity to share the meaning of actions, intentions, feelings, and emotions with others, thus grounding our identification with and connectedness to others. Social identification, empathy, and “we-ness” are the basic ground of our development and being. Embodied simulation provides a model of potential interest […] for our understanding of how interpersonal relations work or might be pathologically disturbed“ (Gallese, 2009, 519).

Menschen „sehen nicht bloß eine Handlung, eine Emotion oder eine Empfindung. Gleichzeitig mit der sensorischen Beschreibung des beobachteten sozialen Stimulus werden im Beobachter innere Repräsentationen des Körperzustandes, welche mit diesen Handlungen, Emotionen und Empfindungen assoziiert sind, erzeugt, als ob er/sie eine identische Handlung ausführte oder eine identische Emotion oder Empfindung erleben würde“ (Peichl, 2013b, 256).

Handlungsverstehen und damit eine potentielle Einfühlung in andere Rollen

kann auf zweierlei Weise funktionieren. Zum einen auf die oben beschriebene über die Spiegelneuronensysteme, die keinen reflexiven Denkprozess erfordern, zum anderen über einen kognitiven, konzeptbezogenen und deklarativen Weg, der länger dauert, da die neuronalen Inputs über sensorische Reize (Sehen, Hören, Tasten etc.), Analysieren, Verstehen und Interpretieren erst eine Bedeutung erfahren müssen (Peichl, 2013b).

Zurück zu Gudrun und ihren Selbst-Anteilen. Gudrun bleibt, egal welchen inneren Anteil sie neuronal gerade aktiviert, als Ganze immer Gudrun, zeigt sich einmal in der Rolle als Familienministerin (Cluster FM aktiv), einmal in der Rolle als Kellnerin (Cluster K aktiv). Es muss sich dabei nicht immer um soziale Rollen handeln wie bei der Familienministerin oder der Kellnerin, also um Rollen, die durch den sozialen Kontext (mit-)definiert werden. Es kann sich auch um eigene innere Rollen oder Anteile handeln wie es z. B. der Fall ist, wenn Gudrun sich erinnert, wie es war, als sie ihren ersten Schultag hatte. Sie kann dann in die Rolle von Gudrun als Schulmädchen am ersten Schultag schlüpfen (Cluster SCH aktiv). Diese wäre eine Innere-Kind-Rolle, oder kurz ein Inneres Kind im Alter von ca. sechs Jahren. Ein anderes wäre Gudrun in ihrem zweiten Kindergartenjahr (Cluster KG) oder Gudrun, als sie sich mit neun Jahren das Bein brach (gB). Die verschiedenen Anteile und/oder Inneren Kinder können Schnittmengen aufweisen, z. B. die Rolle des Schulmädchens (Cluster SCH) und die des Mädchens mit dem gebrochenen Bein (Cluster gB) (Abb. 23). Sie können aber ebenso voneinander unabhängig, d. h. nur durch das gemeinsame Dach „Gudrun“ verbunden sein; in einer klinischen Ausprägung wäre dies dann eine Dissoziation (Kap. 5.3).

Abbildung 23: Innere Anteile

Das Innere Kind ist keine einmalige, fixe Rolle, sondern ein früher Ausschnitt aus der eigenen Lebensgeschichte, der durch einen fokussierten Blick, eine spezielle Brille ein Cluster hervorhebt. Es sind „Erinnerungsbilder generalisierter Beziehungserfahrungen“ (Peichl, 2010, 79), d. h. keine ontologische (das Sein betreffende), sondern eine epistemologische Einheit (die Erkenntnis betreffend). Herbold & Sachsse (2007) weisen in ihrem Buch „Das so genannte Innere Kind“ zurecht auf die Probleme hin, die entstehen, wenn diese beiden Zugänge von Sein und Wahrnehmen verwechselt werden. Je nachdem wie kleinschrittig diese Einheiten definiert werden, gibt es nahezu unzählige Innere Kinder in jedem von uns. Immer handelt es sich dabei um identifizierte Persönlichkeitsanteile in verschiedenen Altersstufen. Unser „Selbst ist […] eigentlich eine Selbstfamilie“ (Peichl, 2010, 28), es besteht aus zahlreichen Rollenclustern. Bekannt geworden ist das Konzept vor allem im klinischen Kontext, wobei das Hauptaugenmerk auf das verletzte Innere Kind gelegt wurde (Kap. 5.2: Ego-States). Eine schlimme, die eigenen Ressourcen überfordernde traumatische Erfahrung (Gewalt, Tod eines Elternteiles in jungen Jahren etc.) hat zu einer seelischen Verletzung geführt, und deshalb hat sich ein noch im Erwachsenenalter innerlich aktives, bedürftiges Inneres Kind herausgebildet. Wie die therapeutische Arbeit mit diesem aussehen kann, wird im Abschnitt 4.2 beschrieben.

Ebenfalls aus dem klinischen Kontext, vor allem mit traumatisierten Menschen, kommt das Konzept des Inneren Helfers (Reddemann, 2001, 2004; Stadler, 2002; Peichl, 2008). Der Innere Helfer wird bei Patienten eingeführt, die nach einer traumatisierenden Situation aufgrund eines Mangels an Ressourcen, Resilienz und Schutz eine PTBS entwickeln.

„Der Innere Helfer ist ein stärkender auch kraftvoller Begleiter, der einem auch mal einen guten Rat geben kann, einen in den Arm nimmt, wo gewünscht. Er fördert Sicherheit und erlaubt auch bis zu einem gewissen Punkt die Regression der PatientIn, wiederum mit dem Ziel, zu stabilisieren, Halt zu geben“ (Stadler, 2002, 185).

Kleine Kinder, auch mit normaler, nicht traumabezogener Lebensgeschichte, entwickeln Innere Helfer z. T. spontan im kindlichen Spiel. Sie beziehen diese dann wie selbstverständlich in ihr inneres Spiel ein und führen mit ihnen Dialoge. Bei den Inneren Helfern, die im therapeutischen Kontext eingesetzt werden, kann auf solche zurückgegriffen werden. Sind keine vorhanden, werden von den Patienten frei...

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