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E-Book

Ich habe einen Namen

Eine Geschichte über Macht, Sexualität und Selbstbestimmung

AutorChanel Miller
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783843722094
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»EIN BUCH, DAS HOFFNUNG GIBT. MÖGE CHANEL MILLERS MUT ANSTECKEND SEIN.« Margarete Stokowski Unter dem Pseudonym Emily Doe verlas sie vor Gericht einen Brief an den Mann, der sie nach einer Party an der Stanford University vergewaltigt hatte und zu nur sechs Monaten Haft verurteilt worden war. Der Text erreichte Millionen Menschen weltweit, der Kongress debattierte über den Fall, der zuständige Richter wurde abgesetzt, und man änderte die Gesetze in Kalifornien, um Opfer zu schützen. Wortmächtig beschreibt Chanel Miller, wie es sich anfühlt, den eigenen Körper wie eine Jacke abstreifen zu wollen. Wie unsere Gesellschaft über den Alkoholkonsum, die Kleidung und das Liebesleben von Frauen urteilt. Ihre Geschichte zeigt, dass Sprache die Kraft hat, zu heilen und Veränderungen herbeizuführen. Pressestimmen »Eine wunderbar geschriebene, kraftvolle und wichtige Geschichte ... Dieses Buch verdient es, überall gelesen zu werden-und vor allem sollte die nächste Generation junger Männer es lesen...« New York Times   »Chanel Miller hat ein Talent für eindringliche Sätze« Süddeutsche Zeitung   »In einer Welt, in der immer noch zu viele Überlebende sexueller Gewalt ihre Erfahrungen für sich behalten und ihr eigenes Leid herunterspielen müssen ... nimmt Ich habe einen Namen eine wichtige Position ein; die Autorin beweist darin ihre schillernde Präsenz und lässt sich nicht länger schmälern. Trotz allem stimmt die Lektüre hoffnungsvoll.« Guardian »[Millers] Stil ist zugänglich und effektvoll, ihr komödiantisches Talent ... scheint selbst in dieser düsteren Erzählung durch, ihre Metaphern ... sind kristallklar« Vogue

Die Künstlerin und Autorin Chanel Miller, geboren 1993 in Palo Alto, studierte am College of Creative Studies an der University of California. Sie lebt in San Francisco.

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Leseprobe

1.


Ich bin schüchtern. In einem Theaterstück an der Grundschule über eine Safari waren alle anderen Kinder Tiere. Ich war Gras. Ich habe noch nie in einem großen Hörsaal eine Frage gestellt. In jedem Fitnesskurs findet man mich versteckt in der Ecke. Ich entschuldige mich, wenn man mich anrempelt. Ich nehme jedes Flugblatt mit, das man mir in die Hand drückt. Ich schiebe meinen Einkaufswagen immer zurück an seinen Platz. Wenn im Café auf der Theke keine Kaffeesahne mehr steht, trinke ich meinen Kaffee schwarz. Wenn ich bei jemandem übernachte, sieht die Bettdecke danach wie unberührt aus.

Ich habe noch nie eine Geburtstagsparty geschmissen. Ich ziehe eher drei Pullover übereinander, ehe ich darum bitte, die Heizung aufzudrehen. Ich habe kein Problem damit, bei Brettspielen zu verlieren. Ich stopfe meinen Geldbeutel wahllos mit Münzen voll, um die Kassenschlange nicht aufzuhalten. Als Kind wollte ich ein Maskottchen werden, wenn ich groß bin, um frei tanzen zu können, ohne gesehen zu werden.

Als einziges Kind meiner Grundschule wurde ich zwei Jahre in Folge zur Konfliktmanagerin gewählt und mein Job bestand darin, in jeder Pause in einer grünen Weste über den Schulhof zu patrouillieren. Kinder mit unlösbaren Streitigkeiten kamen zu mir und ich brachte ihnen Ich-Botschaften bei, wie etwa: Ich fühle ___, wenn du ___. Einmal kam ein Mädchen aus dem Kindergarten zu mir und beklagte sich, alle anderen bekämen zehn Sekunden auf der Reifenschaukel, aber wenn sie schaukelte, zählten die Kinder ein Hund, zwei Hund, drei Hund, und wenn die Jungen schaukelten, zählten sie ein Rhinozeros, zwei Rhinozeros, um länger dran zu sein. Ich erklärte, von diesem Tag an sollten alle ein Tiger, zwei Tiger zählen. Ich habe mein ganzes Leben lang in Tigern gezählt.

Ich stelle mich hier vor, da ich in der Geschichte, die ich erzählen werde, zunächst weder Namen noch Identität habe. Keine typischen Charakterzüge oder Verhaltensweisen. Ich wurde als halb nackter Körper aufgefunden, allein und bewusstlos. Ohne Geldbörse oder Ausweis. Die Polizei wurde gerufen, ein Studiendekan von Stanford wurde geweckt und dazugeholt, um zu sehen, ob er mich erkannte, Zeugen wurden befragt, aber niemand wusste, zu wem ich gehörte, wo ich herkam, wer ich war.

Meine Erinnerung sagt mir so viel: Am Samstag, den 17. Januar 2015 lebte ich im Haus meiner Eltern in Palo Alto. Meine jüngere Schwester Tiffany, die im dritten Jahr an der Cal Poly studierte, war für das lange Wochenende drei Stunden die Küste heraufgefahren. Normalerweise verbrachte sie ihre Zeit zu Hause mit Freundinnen, aber gelegentlich schenkte sie auch mir etwas von dieser Zeit. Am späten Nachmittag holten wir gemeinsam ihre Freundin Julia ab, die an der Stanford University studierte, und fuhren ins Arastradero Preserve, um zuzusehen, wie die Sonne ihr tiefes Gelb über die Hügel fließen ließ. Der Himmel verdunkelte sich, wir machten bei einer Taqueria halt. Wir führten eine hitzige Debatte darüber, wo Tauben schlafen, und erörterten, ob mehr Menschen Klopapier zu Rechtecken falteten (ich) oder es einfach zerknüllten (Tiffany). Tiffany und Julia erwähnten eine Party der Kappa-Alpha-Studentenverbindung auf dem Stanford-Campus, auf die sie am Abend noch gehen würden. Ich hörte nur halb zu, während ich grüne Salsa in einen winzigen Plastikbecher löffelte.

Später an jenem Abend kochte mein Vater Broccoli und Quinoa, und wir erschauderten, als er es uns als Qwee-noah präsentierte. Es heißt Keen-wah, Dad, wie kannst du das denn nicht wissen!! Wir aßen von Papptellern, um nicht abwaschen zu müssen. Zwei weitere Freundinnen von Tiffany, Colleen und Trea, stießen mit einer Flasche Sekt zu uns. Die drei waren später mit Julia auf dem Stanford-Campus verabredet. Sie sagten: Komm doch mit. Ich fragte: Soll ich mitkommen, wäre es lustig, wenn ich mitkomme? Ich wäre dort die Älteste. Ich ging duschen und sang dabei. Durchwühlte Sockenknäuel auf der Suche nach Unterwäsche und fand schließlich in einer Ecke ein ausgeleiertes getupftes Stoffdreieck. Ich zog ein enges anthrazitgraues Kleid an. Darüber eine schwere silberne Kette mit winzigen roten Schmucksteinen. Eine hellbeige Strickjacke mit großen braunen Knöpfen. Ich setzte mich auf meinen braunen Teppich, um meine kaffeebraunen schweren Stiefel zuzuschnüren, das noch nasse Haar hochgebunden.

Die Tapete in unserer Küche ist blau-gelb gestreift. An der Wand stehen eine alte Uhr und Holzschränke, am Türrahmen ist unser Wachstum über die Jahre verzeichnet (mit einem kleinen Schuhsymbol neben den Daten, an denen wir welche trugen, während wir gemessen wurden). Hinter den Schranktüren fanden wir lediglich Whiskey, zum Mischen standen im Kühlschrank nur Sojamilch und Limettensaft. Unsere einzigen Schnapsgläser stammten von Familienurlauben, Las Vegas, Maui, als Tiffany und ich sie noch als kleine Becher für unsere Stofftiere sammelten. Ich trank den Whiskey pur, ohne jedes schlechte Gewissen und reichlich, so wie man vielleicht sagen würde: Klar komme ich mit zur Bar-Mitzwa deiner Cousine, aber nur, wenn ich dabei betrunken sein darf.

Wir baten unsere Mutter, uns vier nach Stanford zu bringen, sieben Minuten mit dem Auto über den Foothill Expressway. Stanford war mein Hinterhof, meine Community, eine Brutstätte für die billigen Nachhilfelehrer, die meine Eltern über die Jahre anheuerten. Ich bin auf diesem Campus aufgewachsen, habe Ferienlager in Zelten auf dem Rasen besucht, mich mit den Taschen voller Chicken Nuggets aus der Mensa geschlichen, mit Professorinnen und Professoren zu Abend gegessen, die die Eltern von guten Freundinnen waren. Meine Mutter ließ uns in der Nähe der Buchhandlung von Stanford aussteigen, wohin sie uns an manch verregneten Tagen für eine Tasse heißen Kakao und Madeleines gebracht hatte.

Wir liefen fünf Minuten den gepflasterten Hang hinunter bis zu einem großen Haus, das hinter Kiefern versteckt stand. Ein Typ mit winzigen strichförmigen Barthaaren auf der Oberlippe ließ uns herein. In der Küche der Studentenverbindung machte ich einen Getränkespender für Limo und Saft ausfindig, begann auf die Knöpfe zu drücken und braute ein alkoholfreies Getränk zusammen, das ich als Dingleberry-Saft, Klabusterbeeren-Saft, bewarb. Wir servieren nun Le Dinglebooboo, den Drink für die Lady! KA, KA all day. Immer mehr Menschen strömten herein. Die Lichter gingen aus.

Wir standen wie ein Begrüßungskomitee hinter einem Tisch an der Eingangstür, breiteten die Arme aus und sangen: Willkommen, willkommen, willkommen!!! Ich beobachtete, wie die jungen Frauen eintraten, den Kopf fast bis zu den Schultern eingezogen, schüchtern lächelnd und den Raum nach einem vertrauten Gesicht absuchend, an das sie sich heften konnten. Ich kannte diesen Blick, weil ich mich selbst einst oft genug so gefühlt hatte. Im College war eine Studentenverbindung ein exklusives Reich, das vor Lärm und Energie pulsierte, in dem die Kleinen untertänig jubelten und die großen Männchen herrschten. Nach dem College verwandelte sich eine Studentenverbindung dagegen in eine säuerlich riechende jugendliche Umgebung, in der dünne Plastikbecher verstreut herumlagen, man hören konnte, wie sich die eigenen Schuhsohlen von den klebrigen Fußböden schälten, der Punsch wie Farbverdünner schmeckte und am Rand der Toilettenschüssel gekringelte schwarze Haare klebten. Wir entdeckten eine große Plastikflasche mit Wodka auf dem Tisch. Ich drückte sie an mich, als hätte ich Wasser in der Wüste entdeckt. Du liebe Güte. Ich schüttete etwas davon in einen Becher und leerte ihn in einem Zug. Alle standen zusammengedrängt auf den Tischen und schwankten wie kleine Pinguine. Ich stand allein auf einem Stuhl, die Arme in der Luft, ein betrunkenes Stück Seetang, bis meine Schwester mir herunterhalf. Wir gingen nach draußen, um hinter die Büsche zu pinkeln. Julia und ich begannen freestyle zu rappen. Ich rappte über trockene Haut und kam ins Stocken, als mir nichts einfiel, was sich auf Cetaphil reimte.

Das Untergeschoss war voll, die Leute strömten hinaus in den Lichtkreis auf der Betonterrasse. Wir standen um ein paar kleine weiße Typen herum, die ihre Kappen falsch herum trugen, um keinen Sonnenbrand im Nacken zu bekommen, bei Nacht. Ich nippte an einem lauwarmen Bier, sagte, dass es nach Pisse schmeckte, und gab es meiner Schwester. Ich war gelangweilt, entspannt, betrunken und extrem müde, weniger als zehn Minuten entfernt von zu Hause. Ich war zu alt für das hier. Und an diesem Punkt wird meine Erinnerung schwarz, reißt die Filmrolle ab.

Ich glaube bis zum heutigen Tag, dass nichts von dem, was ich an jenem Abend tat, von Bedeutung ist, dass es sich lediglich um eine Handvoll austauschbarer Erinnerungen handelt. Aber diese Ereignisse werden unaufhörlich ausgegraben werden, wieder und wieder und wieder. Was ich getan habe, was ich gesagt habe, wird gedreht, gewendet, seziert und der Öffentlichkeit zur Beurteilung vorgelegt. All das, weil irgendwo auf dieser Party auch er war.

Es war zu hell. Blinzelnd erkannte ich verkrustete braune Blutflecken auf meinen Handrücken. Der Verband um meine rechte Hand hatte sich bereits...

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