Das Ziel der Ausbildung
Bevor man sich entscheidet, sein Pferd selbst auszubilden, sollte man sich einige Gedanken machen: Welches Ziel soll möglichst erreicht werden? Wie komme ich diesem Ziel am nächsten? Wie möchte ich vorgehen?
Am Ende einer systematischen Grundausbildung, die ungefähr zwei Jahre in Anspruch nimmt, sollte das Pferd schöner geworden sein. Es hat Muskeln an den richtigen Stellen aufgebaut und seine Bewegungen sind zwanglos und elastisch. Sein Ausdruck ist stärker geworden und es hat an Ausstrahlung gewonnen. Es soll locker, schwungvoll und mit dem ihm eigenen Charme in allen Grundgangarten und Lektionen gehen. Es soll vertrauensvoll im Gelände, im Straßenverkehr und über normalen Sprüngen minimalen Hilfen seines Reiters folgen. Kurz: „Es soll angenehm zu reiten sein“ (François Robichon de la Guérinière, 1688–1751).
Wenn man ein Haus bauen möchte, beginnt man mit einem soliden Fundament. Ist das Fundament nicht tragfähig, wächst mit jedem Stockwerk die Gefahr, dass das Gebäude zusammenbricht. Genauso ist es auch mit der Ausbildung eines jungen Pferdes. Die Basisausbildung ist die elementare Grundlage für jede weitere Ausbildung eines jungen Pferdes, wobei es gleichgültig ist, in welcher Disziplin das Pferd später einmal eingesetzt werden soll.
Dazu ist eine breit gefächerte, vielseitige Ausbildung nötig. Die Dressurarbeit (besser wäre es, „Gymnastikarbeit“ zu sagen) ist dabei die unverzichtbare Basis. Es gibt nur einen Weg zu diesem Ziel, nämlich die klassische Ausbildung. Diese Methode hat sich seit Xenophon (400 v. Chr.) im Prinzip nicht verändert. Die Definition der internationalen reiterlichen Vereinigung (FEI) für klassische Ausbildung lautet: „Das Ziel ist die harmonische Entwicklung der natürlichen Anlagen und Fähigkeiten des Pferdes. Sie bezweckt gleichermaßen ein ruhiges, gehorsames und schwungvolles Pferd und damit eine vollkommene Einheit mit seinem Reiter. […]
Zu einer breit gefächerten Ausbildung gehört auch, dass das junge Pferd lernt, sich vertrauensvoll im Gelände reiten zu lassen.
Das Pferd vermittelt den Eindruck, als führe es die von ihm geforderten Aufgaben freiwillig, ohne jeden Zwang aus. Voller Vertrauen und mit größter Aufmerksamkeit folgt es gehorsam den Hilfen des Reiters.“
Der Weg zu diesem Ziel ist lang und fordert vom Reiter viel Disziplin, Ausdauer und noch mehr Geduld. Nur ein sinnvolles Konzept in kleinen Schritten, die aufeinander aufbauen, kann der Weg sein. Jede Abkürzung dieses Weges („Tipps und Tricks“ oder „Der Guru rät“) führt unweigerlich in die Irre. Es dauert viel länger, Ausbildungslücken oder gar -schäden wieder auszubügeln. Oft lassen sich die Folgen solcher Sünden gar nicht mehr beheben, und das Pferd ist in seiner Psyche oder physisch für sein ganzes, dann häufig nur sehr kurzes Leben geschädigt.
Wie eine Überschrift muss an erster Stelle der Ausbildungsziele die körperliche und mentale Gesunderhaltung des Pferdes stehen. Jede Überforderung muss vermieden werden, denn sie schadet dem Pferd. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass ein Pferd, wenn es drei- oder besser vierjährig in die Ausbildung kommt, zwar schon groß ist, aber das Wachstum noch nicht abgeschlossen ist. Die Gelenke, Sehnen und Bänder sind noch nicht gefestigt. Nicht einmal das Gebiss ist fertig ausgebildet. Ein drei- bis vierjähriges Pferd entspricht vom körperlichen Entwicklungsstand her etwa einem zwölfjährigen Kind. Genau wie ein Kind kann sich das junge Pferd auch noch nicht über längere Zeit konzentrieren. Es sind also wirklich „kleine Schritte“ nötig, wenn das junge Pferd gehfreudig, aufmerksam und vertrauensvoll mitarbeiten soll.
Anfang der 1950er-Jahre wurden bei der Reiterlichen Vereinigung in Warendorf die Richtlinien für Reiten und Fahren entwickelt. In diesen Richtlinien wurde zum ersten Mal die Skala der Ausbildung veröffentlicht. Sie basiert auf Gustav Steinbrechts (1808–1886) „Gymnasium des Pferdes“ mit dem Leitsatz: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade.“ Das Buch erschien posthum 1886. Aus dieser Lehre entwickelte nun Hans von Heydebrecht (1866–1935) zusammen mit einer Kommission die Heeresdienstvorschrift (HDV). Diese Ausbildungsskala ist bis heute unverändertes Lehrgut in allen offiziellen Lehrbüchern der FN (Reiterliche Vereinigung).
Inzwischen sind aber über 70 Jahre ins Land gegangen. Die Erfahrung bei der Arbeit mit jungen Pferden und die veränderten Anforderungen im heutigen Reitsport haben es notwendig gemacht, die Ausbildungsskala neu zu überdenken und zu erweitern. Kurd Albrecht von Ziegner, Jahrgang 1918, Kavallerieoffizier und hoch dekorierter Spring- und Dressurreiter, war an der Erarbeitung der Ausbildungsskala beteiligt. Sein Leben lang hat er sich mit der Ausbildung junger Pferde bis zur höchsten Klasse beschäftigt und sich über den sinnvollsten, weil auch schonendsten Weg dorthin Gedanken gemacht. Er hat die FN-Ausbildungsskala um vier Punkte erweitert und die Reihenfolge der einzelnen Schritte etwas verändert. So ist ein schlüssiges Konzept der „kleinen Schritte“ – von Ziegner nennt sie „Elemente“ – entstanden, das ein sicheres Aufbauen vom Leichten zum Schweren ermöglicht. Ein Element baut jeweils auf dem anderen auf. Er nennt seine Skala der Ausbildung den Trainingsbaum.
Beide Ausbildungskonzepte unterteilen sich in drei große Blöcke. Der erste Block ist die Gewöhnungsphase, in welcher das Pferd erzogen wird. Schon das Fohlen sollte an ein Halfter gewöhnt werden und sich anbinden lassen. Hufe aufheben und das Putzen sind ihm vertraut. Ist es etwa drei Jahre alt geworden, sollten Decken, Trense und Longiergurt selbstverständlich geworden sein. Es lernt
an der Longe gearbeitet zu werden. Das erste Anlongieren muss mit viel Sachkenntnis geschehen, denn viele Schäden des Bewegungsapparates entstehen durch unsachgemäßes, zu lange andauerndes Longieren.
Das Anreiten ist eine sehr einschneidende Erfahrung für das junge Pferd. Hier muss man mit viel Geduld, Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis vorgehen, sonst werden in diesem Stadium schon schwere Fehler gemacht, die sehr oft ein ganzes Pferdeleben lang nicht mehr zu beheben sind.
Die FN-Ausbildungsskala beginnt mit der Erarbeitung des Taktes, dann folgen die Losgelassenheit und danach die Anlehnung. Takt und Losgelassenheit sind nicht voneinander zu trennen – das eine geht ohne das andere nicht.
Der Trainingsbaum sieht als erste Stufe die Losgelassenheit, gefolgt vom Takt. Unter dem ungewohnten Reitergewicht lernt das Pferd, sich allmählich zu entspannen (Losgelassenheit) und es lernt, sich mehr und mehr taktrein (Takt) mit raumgreifenden Gängen zu bewegen. Die Ungebundenheit der Gänge ist die erste Zwischenstufe, die der Trainingsbaum vorsieht. Dabei tritt das Pferd allmählich immer sicherer an das Gebiss heran und nimmt eine feine Verbindung zur Reiterhand auf (Anlehnung).
Der zweite Block ist die Entwicklung der Schubkraft. Er ist mit dem ersten Block so verzahnt, dass man ihn nicht davon trennen sollte. Alle folgenden Punkte bauen sowohl bei der Ausbildungsskala als auch beim Trainingsbaum auf dem ersten Block auf. Damit das Pferd Schubkraft aus der Hinterhand entwickeln kann, muss es eine sichere Anlehnung an die Reiterhand gefunden haben und es muss sicher an den Hilfen stehen. Das Pferd sicher an die Hilfen zu stellen ist ein besonderer Punkt im Trainingsbaum. Das heißt, dass es Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen problemlos akzeptiert. Dann kann das Pferd mehr und mehr geradegerichtet werden und findet dadurch eine bessere Balance: Es lernt, sich spurtreu (die Hinterhand tritt genau in die Spur der Vorhand) in Wendungen und Volten zu bewegen. In der Ausbildungsskala wird die Schwungentfaltung noch vor dem Geraderichten genannt. Gemäß dem Trainingsbaum müssen erst Geraderichten, die Balance und die Durchlässigkeit sicher erarbeitet werden.
Der dritte Block gilt der Entwicklung der Tragkraft. Alle Punkte der vorangegangenen Blöcke (Anlehnung, Schwung und Geraderichtung gemäß der FN-Ausbildungsskala) müssen gefestigt werden. Nachdem das Pferd nun eine seitliche Balance gefunden hat, das heißt, es lässt sich problemlos stellen und biegen, kommt nun eine Balance von hinten nach vorn hinzu. Das Pferd lernt, die Hinterhand mehr unter den Schwerpunkt zu stellen, und nimmt damit mehr Last auf. Das ist aber nur möglich, wenn das Pferd durchlässig ist. Das bedeutet, dass halbe und ganze Paraden von hinten nach vorn durch das ganze Pferd fließen. Es lässt somit gute Übergänge zu und ist „bequem“ zu reiten. Aus den Übergängen, auch innerhalb einer Gangart, entfaltet sich der Schwung. Indem der Schwung nach vorn bei einem durchlässigen Pferd aus der Hinterhand nach...