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Die guten Helfer
Als Sigrun, Jon und Torstein mit der SMA-Diagnose und der gnadenlosen Prognose zum Lerhol-Hof zurückkehrten, hatte Dr. Renolen schon die Arztpraxis in Vang angerufen und sie darauf vorbereitet, dass eine Familie in einer Krise auf dem Weg nach Hause sei. Der kommunale Hilfsapparat arbeitete sich in die Thematik der seltenen Krankheit ein, und Jon und Sigrun wurden in die Gesundheitsstation eingeladen, um zu besprechen, welche Form von Hilfe sie benötigten.
Zudem standen Familie und Freunde rund um die Uhr zur Seite. Sigrun und Jon waren mit Sorge und Unsicherheit nicht alleine. Nicht zuletzt waren die Großeltern eine besondere Stütze. Jons Eltern Knut und Olga führten nach wie vor den Hof und taten von Anfang an alles, was in ihrer Macht stand, um zu helfen, obwohl sie nach einem langen Leben mit körperlicher Arbeit sehr erschöpft waren. Ebenso wichtig wurden Sigruns Eltern Hege und Torstein.
An dem Morgen, als Hege den telefonischen Bescheid erhielt, dass Torstein nicht älter als zwei Jahre werden würde, arbeitete sie als psychiatrische Krankenpflegehelferin im Dikemark-Krankenhaus in Asker. Sie hielt sich auf den Beinen, bis sie in ihr Pendlerzimmer zurückkam, dort brach sie zusammen. Aber als die Verzweiflung sie zu überwältigen drohte, erinnerte sie sich an den Rat, den sie einst von ihrer eigenen Großmutter erhalten hatte: „Wenn du auf Schwierigkeiten triffst, musst du dich aufrichten und die Bürde tragen.“
Da versiegten ihre Tränen. Sie hatte einen Ruf erhalten. Diese Bürde würde sie mit schultern. Von da an wurde sie eine stützende Säule für die ganze Familie. Und nach und nach gewann die Freude darüber, dass Torstein auf der Welt war, so stark und mit solcher Lebenskraft die Oberhand über die mit der Krankheit verbundene Sorge. Gleichzeitig schleppte sie eine Art Schuldgefühl mit sich herum. Trug sie das defekte Gen in sich, das Torstein die SMA übertragen hatte? Sie wandte sich an das Rikshospital, das Ulleval-Krankenhaus und das Universitätskrankenhaus in Tromsø, um sich testen zu lassen. Vielleicht konnten ihre Blutproben und die ihrer Familie die Forschung über diese schreckliche Krankheit, die nun ihre Familie getroffen hatte, voranbringen? Die Antwort war, dass es dafür keine Forschungsgelder gab.
Nachdem das Enkelkind die SMA-Diagnose bekommen hatte, erhielt Großvater Torstein das Angebot für einen verlockenden Chefposten im Herøy-Industriepark. Er lehnte ab. Stattdessen ging er in den Vorruhestand. Jetzt wurde er in Vang gebraucht. Er wurde „Teilzeitpfleger“ für Torstein und half bei der anfallenden Arbeit auf dem Hof mit. Torstein der Ältere war ein verlässlicher, aber höchst traditioneller Vater der 50er und 60er Jahre. Sigrun hatte ihn nicht als besonders nahbar und präsent in Erinnerung. Windeln hatte er nie gewechselt. Jetzt lernte er diese Kunst und war derjenige, der die Pflege übernahm, wenn Sigrun und Jon bei der Arbeit oder auf dem Hof beschäftigt waren. Stundenlang konnte Torstein auf seinem Schoß liegen und wurde über den Rücken gestreichelt. Nachts schliefen sie zusammen im Gästebett in der unteren Etage.
Nach und nach entwickelte sich zwischen den beiden Torsteins ein ganz speziellen Band. Als eine Folge der jahrelangen Industriearbeit hörte Großvater Torstein schlecht, aber auf wundersame Weise gelang es ihm besser als allen anderen, die zarte Stimme seines Enkels zu verstehen.
„Torstein, kannst du Opa nicht fragen …?“, sagte die Großmutter oft, wenn sie selbst keine Antwort von ihrem Mann erhielt. Als Erwachsener dachte Torstein, dass die Ehe seiner Eltern ohne einen so aufopfernden Großvater nicht überlebt hätte.
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Als Torstein geboren wurde, war es sechs Jahre her, dass sich Sigrun und Jon kennengelernt hatten. Sie war in Notodden aufgewachsen, wo ihr Vater als Chemie-Ingenieur bei Hydro arbeitete, aber beide Eltern stammten aus einer Bauernfamilie. Alle Ferien und Wochenenden verbrachte Sigrun auf dem Hof der Großeltern in Seljord. Dort betrieben sie weiterhin ihren Selbstversorgerhaushalt. Backen, Brauen, Schlachten. Sie liebte es, die konkreten Resultate der schweren Arbeit mit Tieren und Erde zu sehen. Schon als kleines Kind entschied sie sich, Bäuerin zu werden.
Jon wuchs als Hoferbe auf dem Lerhol-Hof auf, der Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert hat. Damals errichtete Sigvat Leirholar – der Ritter, der eine Braut raubte und mit ihr über den Fluss Sjoa sprang und so zur Vorlage für den „Rittersprung“ in Gudbrandsdalen wurde – am Hang über dem Vangsmjøsi das, was heute die Ritterstube genannt wird. Diese steht noch heute zwischen Wohnhaus und Altenteil auf dem Lerhol-Hof.
Dem britischen Schriftsteller David Goodhard zufolge sind wir alle entweder „somewheres“ – fest verankert an dem Ort und in der Kultur, in der wir aufgewachsen sind – oder „anywheres“ – Urbane und Mobile, die sich an vielen Orten zu Hause fühlen können. Zu welcher Kategorie Jon Lerhol gehört, ist unzweifelhaft. Er gehört nach Vang und Valdres.
Er liebt es, vom Lerhol-Geschlecht zu erzählen, davon, dass es sich in direkter Linie bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, als Priester Peder Pedersen Colding Dorthe Knutsdotter aus Lerhol heiratete. In einem alten Kirchenbuch wird diese als willensstarkes Frauenzimmer beschrieben, das über die ganze Pfarrgemeinde herrschte und wenig davon hielt, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Gutes zu tun, was darin resultierte, dass auch bei ihren Kindern keine „besondere Tugend“ zu verzeichnen war.3
Eines der tugendlosen Kinder erhielt den Namen Knut und bekam den Sohn Jon, Jons Sohn hieß Knut, dessen Sohn wieder Jon und so fort. Torsteins großer Bruder Knut ist der achte in der Reihe. Knuts kleiner Sohn – und Torsteins Neffe – ist Jon Nummer neun.
Nach dem Abitur wurde Sigrun Diplom-Landwirtin an der Landwirtschaftlichen Fachschule in Hallingdal. Ihr Ziel war es, diese Ausbildung am Landwirtschaftszweig in Tvedestrand fortzusetzen. Man brauchte jedoch ein Jahr Praxis, um dort angenommen zu werden. Im Bauernblatt las sie, dass fünf Höfe in Vang jemanden suchten.
Dorthin kam sie im Sommer 1980, einundzwanzig Jahre alt. Es gefiel ihr gut in dieser wunderbaren Gebirgslandschaft, mit körperlicher Anstrengung zwischen Pelztieren, Schafen und Milchkühen zu arbeiten. Aber der Weg zum höchstgelegenen Hof am Filefjell war steil und kurvenreich, und eines Herbsttages verunglückte der Milchlastwagen im Eisregen. Der Fahrer wurde lange Zeit krankgeschrieben, aber glücklicherweise hatte einer der Hoferben des Dorfes einen Führerschein für Lastwagen. Jon Lerhol übernahm aushilfsweise den Job.
Als der lange Kerl das erste Mal angefahren kam, um die Milch zu holen, erwies sich der Schlauch des Ersatzfahrzeuges als vier Meter zu kurz. Die Milch musste daher im Viehstall in Kannen umgefüllt und bis zum Schlauch getragen werden, um in den Tank gesaugt zu werden. Es waren nicht viele Worte, die die beiden verlegenen 21-Jährigen wechselten, während sie mit der schweren Last hin- und ohne zurückgingen, aber für Sigrun war es Liebe auf den ersten verstohlenen Blick. Sie versenkte sich in seine lächelnden Augen. Es war, als ob sie und Jon auf einer Wellenlänge lagen.
Sie hörte sich diskret im Dorf um und es gab nur Gutes zu hören. Jon Lerhol war ein durch und durch solider Kerl von einem gut geführten, traditionsreichen Familienbetrieb. Viele hoben seine imponierende Arbeitsfreude und -kraft hervor. Er fuhr nicht nur den Milchwagen, er hatte auch den Großteil der Verantwortung auf dem Hof übernommen.
Jon war mindestens ebenso hingerissen. Eine blondes und schönes Mädchen, das harte Arbeit liebte und zu allem Überfluss für die Landwirtschaft brannte! Aber er war überzeugt, dass sie unerreichbar war. Selbst, dass sie sich immer im Stall befand, wenn er kam, um die Milch zu holen, egal zu welcher Zeit – er verstand den Hinweis nicht.
Doch ihre Gespräche wurden immer leichter und nach gut einem Jahr, am 27. September 1981, nahm Jon all seinen Mut zusammen. Wollte sie vielleicht mit ihm und seinen Freunden nach Beitostølen zum Tanz fahren? Und ob sie wollte! Und jetzt legte Jon los. Eine Woche später hielt er um ihre Hand an. Am Neujahrsabend verlobten sie sich. Neun Monate später waren sie verheiratet. Und im Sommer 1984 kam Knut zur Welt. Er hatte zwei Jahre als umschwärmtes Einzelkind, bevor sich alles veränderte.
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Trotz aller Hilfe mit Torstein wurde die Belastung für Sigrun zu groß. Nach den achtzehn Wochen Elternzeit gelang es ihr eine lange Zeit nicht, ihrem Job als Steuersekretärin nachzugehen. Bei Jon gab es keinen Spielraum. Der Valdresexpress musste gefahren werden, der Motorsägenverkauf, den er in der Scheune betrieb, musste weiterlaufen, und die Kühe im Stall scherten sich nicht darum, dass im Haus ein krankes Kind lag. Sie mussten gemolken und versorgt werden.
In den ersten Jahren bekam Torstein eine Lungenentzündung nach der anderen. Oft drohten sie ihn zu ersticken. Er entwickelte eine Vogelbrust, die Lungen wurden in Keilform zusammengedrückt, es gelang ihm nicht, den Schleim abzuhusten, der sich unten sammelte und einen perfekten Nährboden für Bakterien bot. Mehr als zwanzig Mal wurde Torstein mit dem Krankenwagen nach Lillehammer gefahren, dort war er ein „Offene-Tür“-Patient und wurde auf starke Antibiotika gesetzt. Die Prognose, dass er nicht älter als zwei Jahre würde, wirkte treffsicher.
Zum ersten Geburtstag bekam er von Sigruns Eltern folgende Geburtstagskarte in schnörkeliger...