I
Voraussetzungen und Fragen
0 Vorwegnahme
Die Späteren werden die Früheren missverstehen; das ist der Lauf der Welt. Wenn die Späteren begreifen wollen, was die Früheren über die Späteren dachten, müssen sie Spuren suchen, an denen sich zeigt, ob die Früheren beim Spekulieren in der Lage waren, von sich selbst abzusehen, um andere, eben: spätere Weltzugänge erkennen zu können als die ihnen vertrauten.
In dem von Reinhard Heinrich und Erik Simon gemeinsam verfassten, 1977 in der DDR erschienenen satirischen Roman Die ersten Zeitreisen steht ein schöner Satz, der von sich behauptet, in der Zukunft verfasst worden zu sein: »Die Phantastik ist heute ausgestorben, war aber an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend von großer Bedeutung und schuf die Grundlagen für die Entstehung der Symbolliteratur, die solch wahrhaft unsterbliche Werke hervorbrachte wie die des Anton Kornelius – des größten Poeten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts –: ›Rotkäppchen und der Wolf‹ und ›Dornröschen‹.«1
Die Methode, mit der man zu solchen ebenso schönen wie falschen Sätzen kommt, halte ich für eine der erheblicheren kulturgeschichtlichen Neuerungen der letzten zweihundert Jahre.
Die bestimmenden Momente dieser Methode, das heißt: ihre Herkunft, ihre Zwecke und ihre Resultate bilden zusammen den dreifaltigen Gegenstand der Abhandlung Niegeschichte.
1 Drei Erstkontakte
Als ich klein war – sechs, höchstens sieben Jahre alt –, spielte ich oft allein und hatte viel Zeit, mir Schlimmes auszudenken. Alles Schreckliche, das ich im Fernsehen sah, konnte mir, meinen häufig abwesenden Eltern und der ganzen Welt passieren. Was mich tagsüber umtrieb und nachts wachhielt, ohne dass ich es hätte ausdrücken können, war Höhenangst vor der Tiefe des Möglichen. Viel später las ich bei Thomas Ligotti, dass wir in die Zukunft fallen wie Leiber in offene Gräber. Das Gefühl, von dem Ligotti schreibt, erkannte ich wieder. Es war meine Kinderangst.
Dieses Buch über die Science Fiction und ihr Paideuma heißt Niegeschichte aus zahlreichen Gründen. Die wichtigsten werden ihre Stichhaltigkeit oder aber Unstimmigkeit erst nach vielen hundert Seiten zu erkennen geben. Der einfachste liegt auf der Hand: Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden. Es ist ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird. Bei der Science Fiction geht es allerdings um eine ganz besondere Sorte »nie«. Zu den überraschenderen Einsichten in diesem Buch gehört wohl, dass es überhaupt verschiedene Verwendungsweisen der Zeitangabe »nie« gibt. Der Gedanke verstört das Alltagsdenken nicht weniger als Cantors Beweis dafür, dass es verschieden große (er sagt: verschieden mächtige) Sorten Unendlichkeit gibt.
Während ich mich als Grundschüler einerseits selbst über alles Mögliche beunruhigte, fiel mir andererseits bereits auf, dass zwar viel geschah, was mir nicht gefiel, aber doch nie genau das, was ich mir zuvor besorgt ausgedacht hatte. Selbst wenn ich leidlich richtig lag, stimmten zumindest viele Einzelheiten nicht; die meisten.
Der Lauf der Dinge überschrieb meine Fantasie unentwegt.
Ich zog daraus den kindlichen Schluss, dass es mir nützen mochte, wenn ich mir mit gesteigertem Eifer alles Entsetzliche vorstellte, denn dann würde es nicht passieren – zumindest nicht wie ausgemalt. So plante ich die Eroberung des Möglichen nach dem Prinzip der verbrannten Erde: zerstören statt besetzen. Bald regte sich, gestützt von Beobachtungen, der Verdacht, dass die Erwachsenen es mit den Dingen, die sie fürchteten, ähnlich hielten; mit ihren Ölkrisen, Gastarbeitern, linken Terroristen, mit der Arbeitslosigkeit und dem Krebs. Der Fernseher enthüllte sich als Maschine, die den Vorgang automatisierte: Das Böse wurde gezeigt, damit es im Kasten blieb.
Als ich acht Jahre alt war, sah ich auf dem Schirm zum ersten Mal etwas anderes als diesen Bann oder Werbung fürs Vorhandene (ob als Reklame oder Kindermärchen): das Raumschiff Enterprise, in Schwarz-Weiß.
Da gab es einen Nichtmenschen, der fast aussah wie ein Mensch, von Ohren und Augenbrauen abgesehen. Der kannte keine Angst und betrachtete den Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen als reine Rechenaufgabe. Er hieß Spock und diente einem Chef namens Kirk, der ebenfalls keine Angst kannte, weil er das Mögliche mutig in Schach hielt. Diese beiden und ihre Crew nahmen es mit Robotern auf, die denken konnten, mit Gottheiten aus Energie und Tieren aus Pappe. Was ich sah, nannte sich ferne Zukunft. Es zeigte meinen gewohnten Angstgegner, das Mögliche, von einer neuen Seite: Das lockte jetzt, statt zu drohen, und beanspruchte dank dieser neuen Farbe bald mehr von meinen Vorstellungsressourcen als zuvor die Furcht.
Von einem Freund der Mutter erfuhr ich, dass man die neue Farbe »Science Fiction« nannte. Der Mann las die deutsche Heftromanserie Perry Rhodan, bevölkert von Außerirdischen, die noch erheblich exotischer waren als der Vulkanier von der Enterprise: Perry Rhodan kannte Methanatmer, Katzenmenschen und Geschöpfe, die Mäusen, Bibern sowie kleinen Jungs gleichermaßen ähnelten und von denen man in Heften wie Taschenbüchern (»Planetenromanen«) las. Ich konnte schon lesen und wollte diese Welt unbedingt kennenlernen. Eines der Bücher, die mein Mentor mir gab, hieß Sturz in die Ewigkeit (1964), verfasst von Walter Ernsting. Der Band erzählt von einem Mutanten namens Ernst Ellert. Mutanten sind im Perry Rhodan-Erzählkosmos Leute mit genetisch bedingten paranormalen Vorteilen vor gewöhnlichen Angehörigen ihrer jeweiligen Spezies: Telepathen können die Psyche anderer wahrnehmen und beeinflussen, Telekineten Materie gedankenwillkürlich bewegen und Teleporter sich selbst von einem Ort zum anderen versetzen.
Ernst Ellert ist »Teletemporarier«: Er vermag sein Bewusstsein als eine Art diffuser Gedankenwolke zeitlich vor- und zurückzubewegen und kann Körper anderer Intelligenzwesen kapern.
Ernstings Sturz in die Ewigkeit stößt diesen Mann bei einem Unfall aus seinem Leib, wirft ihn durch die Epochen und schickt ihn nach 160 Seiten Abenteuer auf eine kleine, junge Welt mit drei Kontinenten, wo der Erzählgang sein Ende findet:
Ellert gefiel diese Welt, aber er fand keine Möglichkeit, sich in ihr zu materialisieren. Es gab kein organisches Leben.
Er stieg höher und umkreiste sie am Rande des Weltraums. Er war des ewigen Suchens müde geworden und sehnte sich nach Ruhe, die er aber nur dann würde finden können, wenn er wieder einen Körper besaß.
Und dann sah er die Spore.
Es war ein winziges, einzelliges Wesen, das der Lichtdruck der Sterne über unvorstellbare Abgründe hinweg zu dieser Welt getrieben hatte, die es mit ihrem Gravitationsfeld einfing. Nun umkreiste es den Planeten und sank langsam tiefer und tiefer. Eines Tages würde es die Oberfläche erreichen und vielleicht auf einem felsigen Plateau landen. Regen würde fallen und es aus seinem Schlaf erwecken. Es würde wieder zu leben beginnen, sich teilen und immer wieder teilen. Kolonien der Sporen würden entstehen, sich zu einfach organisierten Vielzellern zusammenschließen und neue Lebensformen bilden. In fernster Zukunft, vielleicht, war dann dieser Planet bewohnt. Tausende von Lebensformen würden ihn bevölkern und seiner Oberfläche ein neues Gesicht geben.
Ellert folgte der eingekapselten Spore.
Sie war winzig klein, aber sie war ein Lebewesen. Sie besaß einen Körper.
Ein Körper!
War es nicht gleichgültig, wie groß der organische Körper war, in dem er Zuflucht suchte? Hatte er nicht alle Zeit des Universums zur Verfügung, das letzte Rätsel auch noch zu lösen? Konnte er nicht warten, Millionen oder Hundertmillionen Jahre, bis aus dieser Spore ein intelligentes Lebewesen geworden war?
Sein eigenes Bewußtsein stand jenseits der Begriffe klein oder groß, gut oder böse. Er schlüpfte durch die Kapsel in das einzellige Wesen hinein und wurde eins mit ihm. Langsam sanken sie beide tiefer, hinein in die dichter werdende Atmosphäre des einsamen Planeten, der erst am Anfang seiner Geschichte stand.
Tage später tauchte die Spore ins Meer, die Kapsel weichte auf und fiel ab.
Das organische Leben hatte seinen Einzug gehalten.
Der lange Weg begann …2
Als zehnjähriger Leser stieß ich mich nicht an der verrutschten...