3 Diagnostik und Indikation (S. 30-31)
Das primäre diagnostische Kriterium zur Therapie der Adipositas ist ein Body Mass Index > 30. Bei einem BMI < 25 besteht keine Indikation zur Therapie. Ein BMI zwischen 25 und 30 kann eine Indikation zur Gewichtsabnahme sein, wenn gewichtsabhängige Risikofaktoren, eine androide Fettverteilung und/oder ein erheblicher psychosozialer Leidensdruck vorliegen.
Aus ärztlicher Sicht sollten kritische Labor- und Messwerte (z. B. Nüchternblutzucker, Harnsäure, HDL/LDL-Cholesterin, Trigyldzeride, Blutdruck, Gelenkbeschwerden, Schlafapnoe) mit dem Patienten mit Bezug auf das Übergewicht besprochen werden.
Ein Hinweis auf eine nachhaltige Normalisierung der Parameter nicht durch Medikamente, sondern durch Gewichtsabnahme kann durchaus eine gesundheitsorientierte Motivation beim Patienten anregen. Aus psychologischer Sicht nämlich kommt der Motivation des Patienten eine ausschlaggebende Bedeutung zu, da Patienten ohne eigenen Abnahmewunsch nicht mit Erfolg behandelt werden können (vgl. auch die Karte „Leitfaden für das diagnostische Gespräch" im Anhang des Bandes).
Bei der Bewertung der Motivation des Patienten ist zu prüfen, ob die Motive zur Gewichtsabnahme eher intrinsisch oder extrinsisch orientiert sind. Ein vertiefendes Gespräch über die Frage „Warum wollen Sie abnehmen?" kann helfen, die Motivationslage zu klären. Es empfiehlt sich, dem Patienten zunächst einen kurzen Katalog (siehe „Motivationsfragen" im Anhang S. 75) mit Statements vorzulegen, die von ihm zu bewerten sind. Das nachfolgende Gespräch kann sich dann auf die als zutreffend angegebenen Statements konzentrieren und eine differenzierte Bewertung vornehmen lassen.
Extrinsische Motive wie „Hat der Arzt mir geraten", „Weil mein Partner das gerne möchte" oder „Weil man heute schlank sein muss" sind zwar durchaus ernst zu nehmende Beweggründe, die allerdings - auf die Langfristigkeit der Therapie gesehen - meistens nicht ausreichen, das Durchhaltevermögen des Patienten nachhaltig zu stabilisieren. Solche Motive bauen kurzfristig zwar eine spontane Bereitschaft zur Behandlung auf, erhöhen auf Dauer gesehen aber die Drop-Out-Quote. Intrinsische Motive wie „Weil ich mich besser leiden möchte", „Weil ich mich schicker anziehen kann" oder „Weil ich mehr Spaß am Leben haben will" lassen darauf schließen, dass sich der Patient selbst einen Vorteil für sich durch eine gelungene Gewichtsabnahme verspricht. Dadurch wird eine längerfristige Motivation gefördert, zumal wenn Anfangserfolge erlebt werden, die diese Motivation zusätzlich verstärken.
Wichtig ist eine Verhaltensdiagnose, die erkennen lässt, wann, wie und was der Patient isst und trinkt (siehe Kap. 4.3.3.1). Allerdings ist es bislang nicht gelungen, geeignete Verfahren zu validieren, die zuverlässige Daten für eine Verhaltensdiagnose liefern. Essen und Trinken zählen zu den häufigsten Verhaltensweisen des Menschen, sie sind oft habitualisiert und in feste Reiz-Reaktions-Schemata eingebunden. Andererseits besteht ein Trend, dass Essverhalten zunehmend flexibler gestaltet und spezifischen Lebenssituationen angepasst wird. Diagnostische Ansätze mit einem Satz wie „Jetzt berichten Sie mir doch bitte einmal, was Sie so alles essen und trinken" liefern eher mehr Desinformation als Information. Die meisten Patienten tendieren, wie Untersuchungen zeigen, zum Underreporting. Auch das Weglassen bestimmter Lebensmittel oder Speisen im Sinne der sozialen Erwünschtheit ist verbreitet, da für jeden Adipösen ein Bericht über die eigene Nahrungsaufnahme per se konflikthaft besetzt ist. Ernährungstagebücher, Food-Frequency- oder Präferenzlisten können als sinnvolle Instrumente benutzt werden, wenn der Patient dazu motiviert ist und vor allem nicht das Gefühl hat, man wolle ihn mit diesen Instrumenten kontrollieren. Gleichwohl sind beide Verfahren reaktive Methoden, und durch ihre Bearbeitung verändern sie – auch ungewollt – das zu messende Merkmal. Nicht selten ist nach der Bearbeitung eines Ernährungstagebuches eine Gewichtsabnahme festzustellen, denn bevor z. B. eine Bratwurst gegessen wird, die eingetragen werden muss, wird auf die Bratwurst verzichtet. Ernährungstagebücher oder Food-Frequency-Listen sollten daher nicht als exakte Abbildungen des Essverhaltens des Patienten bewertet werden.
Sie können aber Anhaltspunkte geben, welche Lebensmittel und Speisen der Patient konsumiert, welche Getränke er bevorzugt. Auch eine Berechnung des relativen Anteils von Fett zu Kohlenhydraten kann darüber Aufschluss geben, ob der Patient – gleich bei welcher Gesamtenergiezufuhr – eher Fett bevorzugt und Kohlenhydrate ablehnt. Meistens liefert ein Ernährungstagebuch jedoch Resultate, die von der Gesamtenergiezufuhr betrachtet bereits eine Reduktionsdiät darstellen. Darum sollte von einer quantitativen Bewertung für eine Diagnose Abstand genommen und nur eine qualitative Analyse durchgeführt werden. In der Verhaltensdiagnose ist weiterhin zu klären, in welchem Umfang der Patient seine eigene Nahrungswahl steuern kann, welchem Umfang bei ihm die Außer-Haus-Verpflegung ausmacht, ob er selbst einkauft und selbst kocht. Geklärt werden sollte auch, wie kompetent sein Wissen in elementaren Fragen der Ernährung ist. Ein kurzer Ernährungswissenstest findet sich im Anhang (vgl. S. 70).