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E-Book

50 Tage lebenslänglich

Meine Erlebnisse in der geschlossenen Psychiatrie

AutorDetlef Vetten
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783864152542
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Wie fühlt es sich an, Alkohol als guten Freund zu haben und mit ihm exzessiv die Tage und Nächte zu verbringen? Wenn man das Leben ohne ihn nicht mehr erträgt und aus Verzweiflung vom Balkon springen möchte, sich aber nicht traut und doch lieber einen Freund anruft? Der Freund alarmiert den Notarzt, der bringt die Polizei mit und die netten Beamten schicken den gescheiterten Balkonspringer in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie, wo man sich kümmert. Detlef Vetten, renommierter Journalist, Reporter und Buchautor, hat genau dies erlebt. Er schildert seine Therapie, seine Mitpatienten, deren Geschichten, das Personal, das gesamte Leben auf der Station. Noch nie hat man einen so intimen Einblick in den Alltag einer psychiatrischen Station und ihrer Klienten gewonnen. Und am Ende bleibt das Fazit, dass die Grenze zwischen 'drinnen' und 'draußen' gar nicht so eindeutig zu ziehen ist.

Detlef Vetten, Jahrgang 1956, war Sportchef beim Stern, Lokalchef bei der Abendzeitung und arbeitet mittlerweile größtenteils als freier Journalist, u. a. für Playboy, Zeit, Süddeutsche Zeitung , Stern, Psychologie heute, Spiegel und Focus. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere als Extremsportler plant er jetzt einen Lauf durch Deutschland mit 30 hochkarätigen Interviewpartnern an den Etappenzielen. Name des Projekts: Mensch, Deutschland! Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

Juliane kauft ein


Zwei Stunden nach Herrn V. schon wieder ein Neuzugang. Eine Frau diesmal. Sehr betrunken. Der teure knöchellange Steppmantel ist auf einer Seite mit Erde verdreckt. Die Frau, älter als 60 wohl, hält sich nur mühsam auf den Beinen, wird von zwei Sanitätern gestützt. Aber sie zetert und wütet. Ihre Stimme ist stark und grell. Der Klang erfüllt die ganze Station.

Wäre sie nicht so betrunken, sie wäre eine aparte Person. Schlank ist sie, wohl vor Kurzem beim Friseur gewesen. Der hat ihr einen schicken frischen Schnitt in ihr kurzes blondes Haar gezaubert. Die Fingernägel sind penibel lachsrosa lackiert. Juliane Le Viseur trägt Designer-Jeans und unter dem roten Mantel einen gelben Kaschmirpullover. Die Stiefel hat sie aus der Maximilianstraße. Als sie sitzt, gibt ihr einer der Sanitäter eine Handtasche zurück, die mit Sicherheit ein kleines Vermögen gekostet hat.

Jetzt ist alles ein wenig angegriffen. Die Tasche hat bei dem Sturz ein paar Kratzer abbekommen und starrt vor Dreck. Mit den Stiefeln ist sie vor ein paar Stunden noch bis zu den Knöcheln durch den Isarschlamm gestapft – das sieht man auch. Die Haare sind verstrubbelt, das Make-up ist verlaufen. Sie hat ein wenig ins Höschen gemacht – die Dame riecht nicht mehr ausschließlich nach teurem Parfum.

Die Pfleger blicken auf die schreiende, schimpfende Trinkerin, dann sehen sie sich an. Das wird ein gutes Stück Arbeit, soll das wohl heißen.

»Würden Sie da bitte reinblasen?«, sagt der eine und reicht der Frau ein Gerät von der Größe einer überdimensionierten Fernbedienung mit einem simplen Display. An einem Ende ist ein Mundstück angebracht. »Bitte, Sie kennen das ja.«

Sie will nicht. Dann müsse man sie fixieren und ihr solchermaßen etwas Blut abnehmen. Sie fügt sich und führt das Mundstück an die Lippen. Bläst hinein, nichts tut sich.

»Sie müssen sich schon ein bisserl Mühe geben. Probieren Sie es noch einmal.«

Juliane Le Viseur plagt sich. Irgendwann piept das Gerät endlich. Sie darf aufhören. Pflicht erfüllt. Da ist man schon ein wenig stolz. Sie lehnt sich auf dem Hocker zurück und atmet schwer. »Jetzt will ich aber heim«, japst sie. Der Pfleger, der ihr das Gerät aus der Hand genommen hat, schüttelt nachsichtig und kaum merklich den Kopf, während er das Display fixiert. Dann entfährt ihm ein »Uih!«.

Er reicht das Gerät seinem Kollegen. Der schaut drauf, blickt die Trinkerin an und fragt: »Wissen Sie, wie viel Sie haben?« Sie schüttelt den Kopf. »4,2. Dabei haben Sie jetzt seit eineinhalb Stunden keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Das waren ja fast 4,5. Frau Le Viseur, das ist ganz schön viel.«

Jetzt fängt sie an zu schreien. Eine Unverschämtheit sei das. »Ihr wollt mich fertigmachen. Ein paar Piccolo habe ich gehabt, und vielleicht ein, zwei Cognac. Ihr wollt mich doch nur einsperren. Aber nicht mit mir – ich will mit meinem Anwalt telefonieren. Der holt mich hier ganz schnell raus. Und dann kümmert er sich um euch. Eure Namen will ich wissen, sofort.«

»Beruhigen Sie sich erst mal, Frau Le Viseur. Wenn Sie den Wert nicht glauben, dann machen wir den Test mit einem anderen Gerät noch einmal. Und natürlich können Sie mit Ihrem Anwalt telefonieren. Aber nicht mehr heute Abend, nicht in Ihrem Zustand. Gleich kommt die Ärztin, die wird Ihnen das Gleiche sagen. Seien Sie bitte vernünftig, wir wollen Ihnen nur helfen.«

»Ich will nach Hause. Sofort. Auf der Stelle. Versteht ihr, auf der Stelle! Ich habe niemandem was getan.«

»Sie sind krank, Sie brauchen Hilfe. Ach, da kommt ja die Frau Doktor.«

Die Ärztin ist noch jung, 30 vielleicht. Spindeldürr, der weiße Kittel schlackert an ihrem Körper. Sie nimmt das Formular, das die Pfleger angelegt haben.

»Ah, Frau Le Viseur, wie geht es Ihnen?«

»Mir geht es gut. Ich will nach Hause, Frau Doktor.« Die Patientin hat ihre Stimme zurückgenommen, was das Lallen verstärkt. »Es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur ein Taxi bestellen und heim. Ich habe ein großes Haus in Grünwald, ich habe Geld, ich muss morgen auf die Bank.«

»Aber Frau Le Viseur, morgen ist Samstag, da haben die Banken zu.«

Jetzt gellt die Stimme wieder. »Das ist doch ganz egal. Frau Doktor, Sie stecken mit denen unter einer Decke, ich werde Sie auch verklagen.«

Die Ärztin versucht ihre Patientin weiter zu beruhigen. »Frau Le Viseur, man hat 4,2 Promille bei Ihnen gemessen. Daran kann man sterben. Wir müssen Sie beobachten und Ihnen, wenn es nötig ist, die Medikamente geben, die Sie brauchen. Seien Sie sicher, dass ich Sie heute nicht mehr entlasse. Ich gebe Ihnen jetzt etwas für den Blutdruck. Sie erzählen mir, was passiert ist. In der Zwischenzeit richten wir ein sauberes Bett her, und dann legen Sie sich erst einmal hin. Anders geht das nicht. Und wenn Sie nicht aufhören zu schreien, schaden Sie sich nur.«

Einer der Pfleger hat mittlerweile eine Spritze aufgezogen. Juliane Le Viseurs Widerstand ist gebrochen. Sie beginnt zu schluchzen. Die Ärztin setzt die Spritze, lässt der Patientin Zeit. Sie bedeutet den Pflegern, sich ein wenig auf den Gang zurückzuziehen. Dort sind sie auf dem Sprung, für den Fall, dass noch einmal Leben in Juliane kommen sollte.

»Jetzt erzählen Sie mal, Frau Le Viseur, was ist denn passiert? Sie brauchen sich für nichts zu schämen. Wie gesagt, wir wollen Ihnen helfen. Und das geht am besten, wenn wir wissen, was los ist mit Ihnen.«

Und Juliane Le Viseur erzählt unter Schluchzen aus ihrem Leben:

Sie war glücklich verheiratet mit Richard. Den hatte sie bei einem Aufenthalt in Paris kennengelernt. Sie war Model für Hände, Augen und Nase gewesen. Manchmal auch für Unterwäsche, obwohl sie eigentlich zu klein war. Ihm gehörte das Hotel, in dem sie damals logierte. Er sah blendend aus, ein braun gebrannter sportlicher Erfolgstyp mit einem Charme, dem sich niemand entziehen konnte. Und er trug sie auf Händen. Wie man so sagt.

20 Jahre lebten sie in Frankreich. Kauften dann eine Villa in Grünwald, dem Nobelvorort von München, wo Juliane aufgewachsen war. Richard und sie hatten nie Kinder gewollt, waren einander genug.

Ein Leben auf der Überholspur. Heli-Skiing in Kanada, Shopping in New York, die besten Partys und Premieren in München, Freunde aus der ersten Reihe – und wenn ihnen danach war, fuhren sie übers Wochenende im Porsche in ihr schnuckeliges Haus am Gardasee, wo sie über ihren Steg die Surfboards zu Wasser ließen. Ab und zu Champagner zum Frühstück, ein Spitzenwein zum Dinner oder eine Maß Bier auf dem Oktoberfest; das war’s dann auch, für Alkohol war in diesem wundervollen Leben nicht sehr viel Platz.

Bis Richard krank wurde. 55 war er erst, scheinbar ein Baum von Mann. Doch eines Tages meinte er, er werde mal zum Arzt gehen. Da stimme irgendetwas nicht. Er kam vom Doktor zurück und war ein anderer.

Wurde immer weniger. Nichts half. Die Muskeln verschwanden aus seinem Körper. Die besten Spezialisten der Welt schüttelten mit den Köpfen. Er musste ein letztes Mal in die Klinik. Sie war bei ihm, sah, wie er den Kampf allmählich verlor. Wenn sie abends in ihr Hotel kam, ging sie an die Minibar und trank etwas. Einen Cognac und einen Wein zu Beginn, dann wurde es mehr.

Das Sterben ihres Mannes dauerte einen Monat. Am Morgen, als aus der Klinik der Anruf kam, dass es vorbei sei, brauchte Juliane lange, bis sie begriff, was das hieß. Sie schlurfte zur Minibar. Die war leer. Sie rief den Roomservice und bestellte eine Flasche Cognac. Trank drei Gläser, dann fuhr sie ins Krankenhaus zu Richards Leiche.

Die bemerkenswerte Beerdigung erlebte Juliane nur in Trance. Es waren so viele Menschen da, so viele Männer hatten etwas über den Verstorbenen zu sagen. So viele seltsame Sachen. Sie hatte gedacht, irgendwann würde es vorbei sein mit diesem Schmerz, der sie zerriss, sobald sie nicht genügend Cognac hatte.

Sie wurde seltsam.

Die Freunde schoben es auf die Tabletten, umarmten sie und versprachen, sie würden immer da sein. Dann fuhren sie in ihre eigenen Leben zurück, und Juliane blieb allein in der großen Villa mit dem großen Garten und dem hohen Zaun drum herum.

Das war vor zwei Jahren. Die Freunde kamen bald nicht mehr. Wussten nichts anzufangen mit dieser Frau, die sich so gehen ließ. Es sprach sich herum, dass die Le Viseur trinke. Falsch, dass sie soff wie ein Loch.

Ihre neuen Freunde standen unter der Großhesseloher Brücke an einem Kiosk bei Bier und Schnaps und nahmen Juliane gern in ihrer Runde auf. Der Isar-Spaziergang dorthin dauerte eine Dreiviertelstunde – Juliane sagte sich, sie lebe ja gesund mit diesem eineinhalbstündigen Marsch und dem Zwischenstopp an der frischen Luft.

Und sie hatte noch einen neuen Freund: den Mann vom Tengelmann. Zu dem ging sie morgens, so gegen elf. Sie lud ihren Einkaufswagen voll – zwei Flaschen Sekt, eine Pulle Cognac, eine Flasche Wasser, was Leckeres für die Mikrowelle. Sie zahlte, der Mann verstaute die Waren. Einen Zwei-Zentiliter-Wodka und zwei Cognäcchen gab es für die Handtasche. In der Mittagspause würde er gegen gutes Trinkgeld den Rest der Ware in ihre Villa liefern, er hatte die Schlüssel.

Juliane machte sich auf den Weg. Hinunter zur Isar, wo sie einen der wenig begangenen Sandpfade benutzte. Ab und zu ein Nipperchen Wodka zur Stärkung. Beim Kiosk angekommen, bestellte sie nur Piccolo. Und immer nur vier Stück. Sie war ganz...

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