Vierter bis sechster Monat
Kapitel 9
Den richtigen Kurs finden
8. April 2009 (gesendet)
Im Anhang finden Sie das neueste Ultraschallbild, das meine Klienten mir übermittelt haben. Es wurde heute Morgen aufgenommen. Laut Messung ist das Baby nun elf Wochen und zwei Tage alt. Die Herzrate beträgt 180 Schläge pro Minute. Beides lässt auf eine gesunde Entwicklung des Fötus schließen.
Die nächste Vorsorgeuntersuchung findet am Donnerstag, den 14. April 2009, statt. Die Ergebnisse werden Ihnen noch am selben Nachmittag übermittelt.
Carolyn
Ich kauerte mich neben das Bett, zog den Volant des Überwurfs hoch und spähte in die Dunkelheit. Da war sie. Hinter vereinzelten Socken und Wollmäusen, gerade noch in Reichweite, zeichnete sich die Silhouette der braunen Kulturtasche mit dem Herzfrequenzmessgerät ab, das ich während meiner Schwangerschaft mit Mary Kate gekauft hatte. Alle vier Fehlgeburten waren wie ein Blitz aus heiterem Himmel über mich hereingebrochen, denn dass mein Baby tot war, hatte ich jedes Mal nur dadurch erfahren, dass Linda keinen Herzschlag mehr feststellen konnte. Eine solche Überraschung wollte ich nie wieder erleben. Mit dem Messgerät konnte ich mir Sicherheit verschaffen, wann immer ich sie brauchte.
Das Herz eines Fötus schlägt schnell. Da die Herztöne durch Flüssigkeit und Gewebe dringen, verzerrt sich der Klang und es entsteht ein leichtes Echo. Anfangs ist nur ein Flattern zu hören. Wenn das Baby wächst, wird der Herzschlag kräftiger, schneller und ist leichter zu orten. Als ich mit Mary Kate schwanger war, tröstete ich mich mit diesem Klang, dessen Rhythmus an ein galoppierendes Pferd erinnert. Morgens und abends vor dem Zubettgehen hörte ich meinem Baby zu, wie es Herzschlag für Herzschlag auf das Leben zugaloppierte. Auf welcher Etappe befand sich das Kleine?
Neben dem Bett kniend, zog ich den Reißverschluss des Kulturbeutels auf. Alles war an seinem Platz: der Monitor mit der Sonde, die wie ein kleines Mikrofon aussah, eine Flasche mit Ultraschallgel und die Stoppuhr. Vielleicht sollte ich das lieber nicht tun, dachte ich. Linda hatte gesagt, es sei viel zu früh, um mit diesem Gerät den Herzschlag des Babys zu orten. Wenn ich außer meinem eigenen Herzwummern und dem Rauschen meines Bluts nichts hören würde, machte ich mir am Ende selbst Angst. Und wenn ich den Herzschlag doch finde? Dann weiß ich, dass das Baby wächst. Dass es sicher ist.
Ich legte mich neben dem Bett auf den Boden und zog die Kleider hoch. Als ich das zähflüssige, kühle Gel auf meinem Bauch verteilte, hörte ich durch die offenen Fenster Frühlingsgeräusche. Wir haben dieses Haus unter anderem gekauft, weil es hier draußen so friedlich ist. Ringsum ist freie Natur und am Nachthimmel strahlen die Sterne besonders hell, weil keine Stadtbeleuchtung sie dämpft. Als ich auf dem Boden lag und auf ein Lebenszeichen des Babys in mir forschte, hörte ich die Vögel in den Bäumen zwitschern. Es war ein warmer Frühling, auch wenn ich das bis dahin kaum wahrgenommen hatte. Einen großen Teil der vergangenen zwei Monate hatte ich in diesem Raum verbracht und war höchstens zwischen Bad und Bett hin- und hergegangen.
In seinen ersten Lebenswochen schmiegt sich ein Baby tief in das schützende Becken, und da Ultraschallwellen keine knöchernen Strukturen durchdringen, würde ich vermutlich eine Weile suchen müssen, wenn ich etwas hören wollte. Ich begann meinen Unterleib abzutasten, hörte aber bloß ein Rauschen, als der Ultraschallkopf über den oberen Plazentarand fuhr. Ich drückte fest gegen den Ultraschallkopf. Immer noch nichts.
Vielleicht hatte ich zu wenig Gel aufgetragen. Ein weiterer Schwall landete auf meinem Bauch. Die Schweinerei, die ich dabei anrichtete, war mir egal. Ich fuhr mit dem Schallkopf bis zur Oberkante des Beckens. Dann presste ich ihn fest nach unten und richtete ihn so aus, dass er zu meinen Zehen zeigte.
Um Gottes willen, nicht zu fest!
Immer noch nichts. Ich begann den Schallkopf wieder vor- und zurückzubewegen.
Komm schon, Kleines. Wo versteckst du dich? Ich musste das Baby finden!
Ich presste noch mehr Gel aus der Flasche – in der Hoffnung, dadurch würde sich der Klang verstärken. Das Geräusch, das ich wahrnahm, klang wie ein Windhauch, der durch die Bäume streicht: Es war das Blut, das durch meine Plazenta floss. Nach ein paar Minuten streckte ich die Zehen, atmete kräftig aus – und hörte es … weit weg, aber deutlich.
Da bist du ja!
Strahlend tastete ich nach der Stoppuhr und maß fünfzehn Sekunden lang die Herzfrequenz. Einundvierzig mal vier ergibt hundertvierundsechzig. Einhundertvierundsechzig Schläge pro Minute.
Das ist ganz toll, Kleines. Du bist ja ganz schön kräftig. Und du hast dich vorgedrängelt, um hier zu landen. Du hast das Herz einer Familie erobert, darfst wachsen und klammerst dich in deinem neuen Zuhause an einen Blutklumpen. Nicht schlecht für ein Wesen von der Größe einer Murmel. Ich liebe dich, Kleines. Ich liebe dich.
Eine Weile blieb ich ruhig auf dem Boden liegen, freute mich über meine Entdeckung und war glücklich, dass ich dieses schöne Erlebnis sooft ich wollte genießen konnte.
Dann dachte ich: Eigentlich quäle ich mich selbst.
Jedes Mal, wenn ich diesen Klang aufspürte, verstärkte sich meine Bindung an etwas, das ich verlieren würde. Doch ich brauchte einfach das Gefühl, dass es gut lief, die Gewissheit, dass dieses Baby wuchs, dass es in Sicherheit war.
Ich säuberte meinen Bauch und das Messgerät und war beeindruckt, wie viel Gel ich um mich herum verteilt hatte. Dann verstaute ich die Sachen wieder im Kulturbeutel und schubste ihn unter das Bett. Als ich aufstand, war der Zauber gebrochen. Ich sah auf die Uhr und dann auf den Kleiderhaufen, der auf dem Bett lag. Wenn Mary Kate ihren Mittagsschlaf beendet hatte, würden wir uns mit Sean bei Kevin Anderson treffen.
Ich hatte an diesem Morgen lächerlich viel Zeit damit verbracht, mir zu überlegen, was ich anziehen sollte. Man konnte mir meinen Zustand schon ansehen. Vermutlich ist das normal, wenn eine vierzigjährige Mutter innerhalb von zweieinhalb Jahren dreimal schwanger wird. Jetzt, wo es wärmer geworden war, schien es an der Zeit, die Pullover und langen Mäntel, mit denen ich meine zunehmende Leibesfülle kaschiert hatte, wegzuräumen. Ganz hinten im Kleiderschrank hatte ich die Schwangerschaftsshorts entdeckt, die ich mir vor Mary Kates Geburt gekauft hatte, aber ich fand kein passendes Oberteil, das zugleich meinen Bauch verhüllte. Ehe Sean am Morgen aus dem Haus gegangen war, hatte ich eine kleine Modenschau veranstaltet.
»Sean, was ist damit?«, sagte ich und präsentierte mich im Profil mit einem T-Shirt.
»Zu eng.«
Er hatte recht. Oben passte das T-Shirt wunderbar, doch um den Bauch herum spannte es. Als Nächstes probierte ich ein Babydoll-Top mit geraffter Brustpasse und weitem Saum.
»Und das?«, fragte ich, mich um die eigene Achse drehend.
»Sieht aus wie von meiner Großmutter.«
»Und das?« Ich hatte einen weiten Pullover angezogen, den ich schon im März getragen hatte.
»Spinnst du? Du wirst dich zu Tode schwitzen! Wenn du irgendwem begegnest, brauchst du doch nur Mary Kate auf den Arm zu nehmen.«
Also entschied ich mich für das Babydoll-Top. Tatsächlich wäre ich lieber zu Hause geblieben. Ich war es leid, meinen Zustand verbergen zu müssen. Ich wollte jedem, den ich traf, erzählen, dass ich schwanger war, doch das war unmöglich. Auch hinsichtlich der bevorstehenden Sitzung mit Kevin waren meine Gefühle ambivalent. Wir würden über das bevorstehende Treffen mit Paul und Shannon sprechen. Darüber wollte ich nun wirklich nicht reden. Doch natürlich wusste ich, dass man die Hilfe eines psychologischen Beraters umso nötiger hat, je weniger man ihn sehen möchte.
Ich betrachtete mein Profil im Spiegel. In diesem Aufzug war mein Bauch nicht zu sehen. Trotzdem würde ich keinerlei Besorgungen machen und keinen Zwischenstopp im Café einlegen. Wenn ich nach dem Termin direkt nach Hause führe, würde mir niemand Fragen stellen. Ich nahm Mary Kate auf den Arm und wir begaben uns zu Kevins Büro, wo Sean schon mit besorgter Miene an der Tür stand.
Sean
Mir ging so viel im Kopf herum, dass ich vor lauter Stress Kopfschmerzen bekam, die sich wie ein enges Band um meine Stirn legten. Zwar half es, dass ich mich gut organisierte, doch wenn ich während der Arbeit oder auf dem Hin- oder Rückweg in Gedanken den Tag durchging, ratterte mein Hirn herunter, was wir alles noch zu regeln hatten. Im Februar hatte ich angefangen, während der Fahrt ein Aufnahmegerät laufen zu lassen und meine Gedanken laut zu äußern. Mein Freund Marty hatte mir das bei unserer ersten Unterhaltung vorgeschlagen, damit ich den Ablauf der Ereignisse und das Kommen und Gehen der Gefühle nachvollziehen konnte. Ich war froh, dass ich seinen Rat befolgt hatte. Manchmal sprach ich nur über die Geschehnisse und die Probleme, die wir zu lösen hatten, statt Pläne zu machen und Listen zu erstellen. Als es auf den April zuging, hatte ich mich daran gewöhnt, das, was mich bewegte, ohne Zuhörer laut zu erörtern. Das Aufzeichnen meiner Gedanken beim Fahren erlebte ich nun – ganz ähnlich wie das Joggen am Abend – wie eine Meditation.
Ich hatte angefangen, mir über unsere rechtliche...