2. Jugendtraum
In den Bergen ist Skifahren Pflichtfach, selbst wenn man noch nicht zur Schule geht. Dieser Grundsatz galt auch in unserer Familie. Hinter unserem Elternhaus in Miesbach war der sogenannte Schweinsteigerhang. Mein erster Trainer und mein großes Vorbild war, wie es sich für ein kleines Mädchen mit vier Jahren gehört, mein großer Bruder Klaus. Er war zwei Jahre älter als ich und ein fantastischer Skifahrer. Normalerweise sind kleine Schwestern eher ein unangenehmes Anhängsel für ältere Brüder. Bei meinem Bruder Klaus war das jedoch nicht so. Er war derjenige, der mir zum ersten Mal Skier angezogen hat und mich den Haushang hat hinunterfahren lassen. Bei einem meiner ersten Stürze, so erzählt er heute noch mit großer Freude, bin ich sogar aus den Skischuhen herausgerutscht. Aber das hat mir als Kind nichts ausgemacht. Im Gegenteil – ich hatte so den ersten richtigen Kontakt mit dem Schnee, der in meinem Leben noch eine so große Rolle spielen sollte. Was ich selbstverständlich damals noch nicht ahnen konnte.
Sicherlich hat die Vorbildfunktion meines großen Bruders dazu beigetragen, dass sich in mir so eine Leidenschaft und ein enormer Ehrgeiz entwickelt haben. Ich war wahnsinnig stolz, wenn ich Klaus zu seinen Rennen begleiten durfte. Mit fünf Jahren dann, im Jahr 1966, hat mich mein Vater im Skiclub Miesbach als offizielles Mitglied angemeldet. Nun durfte ich zusammen mit meinem Bruder im Skiclub trainieren. Mein großer Bruder hat meine Drohung, dass ich ihn eines Tages überholen werde, damals noch mit einem leisen und souveränen Lächeln quittiert, aber das sollte sich bald ändern. Ich trainierte im Skiclub mit wachsender Begeisterung, was mit den ersten Siegen in Kinderclubrennen belohnt wurde. Neben dem Skifahren interessierte ich mich allerdings auch noch für Ballett und Eiskunstlauf. Für ein Mädchen in meinem damaligen Alter war das ganz normal. Ich schwärmte für das Ballett, mich hatten schon immer diese Leichtigkeit und die absolute Körperbeherrschung fasziniert. Meine damalige Ballettlehrerin erklärte mir immer wieder, dass, je leichter und anmutiger die Bewegung einer Tänzerin erschien, diese umso härter und komplexer trainiert hatte. Vieles, was im Leben ganz leicht und locker aussieht, muss durch viel harte Arbeit und Training erarbeitet werden. Erst viel später sollte ich den Sinn dieser Aussage richtig verstehen.
Eiskunstlauf war neben Ballett und Skifahren meine dritte große Leidenschaft. Beinahe hätte es deswegen sogar mit meiner Skikarriere nicht geklappt, weil mir der Axel so gut gelang. Mit acht Jahren schaffte ich als kleine Eiskunstläuferin nämlich diesen schwierigen Sprung, den sogenannten Königssprung im Eiskunstlauf, derart gut, dass er mir zum Titel bei den Bambini-Meisterschaften verhalf.
Dies blieb dann jedoch der einzige Titel als Eiskunstläuferin, denn Skifahren war mir schon damals doch um einiges lieber. Mit elf Jahren wurde ich schließlich vom Deutschen Skiverband (DSV) entdeckt, und damit war der wesentliche Grundstein für meine Skikarriere gelegt. Ich trainierte von Anfang an selbstständig und sehr gerne. Die Teilnahme an den Rennen war für mich allerdings die größte Freude und auch Herausforderung. Ich war geradezu hungrig nach Rennen. Diese Begeisterung dafür war ganz allein in mir gewachsen, ohne irgendeinen Zwang oder Leistungsdruck vonseiten meiner Eltern. Meine Mutter und mein Vater haben mich jedoch stets unterstützt, mich hilfreich begleitet und für mich gesorgt – zum Beispiel bei meiner Ausrüstung. Als erfolgreicher Ingenieur hat mein Vater sich immer Gedanken darüber gemacht, wie er meine Ausrüstung verbessern könnte. Ich weiß noch gut, dass mein Vater meine ersten richtigen Skischuhe mit Fiberglas verstärkt hat, damit ich in ihnen einen besseren Halt finden konnte. Die Skischuhe waren aus Leder gefertigt, und eine Richtführung im Skischuh gab es zu dieser Zeit noch nicht. Stolz trug ich damals den ersten selbst gebauten »Kinshofer Rennskischuh«.
Meine Kindheit und frühe Jugend fanden im Wesentlichen zwischen Torstangen statt. Bereits damals war jedes Rennen für mich eine neue Herausforderung und jeder Sieg der Start zu einem neuen Ziel. Schon bald setzte ich meine Ziele sehr hoch, und der Traum der großen Skikarriere wuchs in mir heran. Ich bin meinem Vater vor allem auch dafür dankbar, dass er mir schon früh beigebracht hat, erst dann ein neues Ziel ins Auge zu fassen, wenn man das alte Ziel erreicht hat. Schritt für Schritt, von Rennen zu Rennen, von Sieg zu Sieg. Und ganz in der Ferne steht das große Traumziel – Olympia. Aber bis dahin war es noch ein sehr weiter und harter Weg.
Meinen ersten richtigen Kontakt mit olympischen Belangen hatte ich im Sommer 1972 vor den Olympischen Spielen in München. Denn unser Skiclub Miesbach hatte einen Kilometer Fackellauf zugeteilt bekommen, und mein Bruder Klaus und ich gehörten zu den ausgewählten Kindern, die das olympische Feuer auf diesem Kilometer für einen kurzen Moment tragen durften. Das olympische Feuer in meinen Händen zu haben war für mich ein bis heute unvergessliches Erlebnis. Das olympische Feuer wurde aber nicht nur in München entzündet, sondern auch im Herzen der kleinen Christa Kinshofer.
Skifahren wurde immer mehr zum Mittelpunkt meines gesamten Lebens. Nachdem mich die Talentsucher des DSV bei einem Rennen der deutschen Schülermannschaft entdeckt hatten, erhielt ich mit nur zwölf Jahren die Möglichkeit, an Testrennen des DSV teilzunehmen. Auch das machte mir großen Spaß, und von Rennen zu Rennen wurde ich sicherer und konnte durch zahlreiche gute Platzierungen so viele Punkte sammeln, dass ich mit Traudl Hächer und Regine Mösenlechner als damals jüngste Skiläuferin mit 13 Jahren von der Schülermannschaft in die Deutsche Nationalmannschaft aufgenommen wurde. Der damalige Cheftrainer Klaus Mayr war der Meinung, dass man junge Talente möglichst früh an die internationale Weltspitze heranführen sollte. Manche kritisierten dies, weil sie uns für zu jung hielten. Mir war das egal, denn das erste Ziel für den Einstieg in eine Profikarriere als Skiläuferin war erreicht!
Von diesem Moment an ging alles Schlag auf Schlag: Statt in meiner Vereinsmannschaft im Skiclub Miesbach trainierte ich plötzlich in der Deutschen Nationalmannschaft, und aus Clubmeisterschaften wurden Weltcuprennen. Mit 14 Jahren stand mein erstes Weltcuprennen in Bad Gastein an. Unsere Mannschaft wohnte nicht mehr in Clubheimen oder Sportstätten, nein, jetzt residierten wir als junge Skirennläuferinnen im luxuriösen »Hotel Elisabeth« in Bad Gastein, in dem sogar schon Kaiserin Elisabeth übernachtet hatte. Wir wurden zuvorkommend bedient und fühlten uns selbst fast wie Sissi. Wir lernten das Flair der großen Welt kennen. Es waren alle Nationen versammelt, wir begegneten interessanten Menschen und hörten alle Sprachen der Welt. All diese neuen Eindrücke machten es mir schwer, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren – auf meinen geplanten Start im Weltcupslalom und in der Weltcupabfahrt der Damen. Mein erstes Weltcuprennen stand also direkt bevor, und meine Nervosität wuchs ins Unermessliche. Oder war es doch eher die Vorfreude auf den ersten Schritt auf die internationale Bühne, die für mich bald die Welt bedeuten sollte? Ich weiß es nicht mehr genau, aber wahrscheinlich war es die Mischung aus beidem, die mich die Nacht vor dem Rennen wachliegen ließ. Immer wieder ging mir der Satz meiner Mutter durch den Kopf: »Geht nicht gibt’s nicht.«
Große Hoffnungen durfte ich mir allerdings nicht machen, denn ich hatte die Nummer 48, also eine relativ hohe Startnummer. Und normalerweise ist eine hohe Startnummer für einen Rennläufer ein Nachteil, da die Piste nach jedem Läufer schlechter wird. Doch bei dieser Abfahrt war es anders. Da es die ganze Nacht und den Vormittag über geschneit hatte, war die Piste komplett mit Neuschnee bedeckt. Die ersten Läuferinnen hatten große Probleme, weil der Neuschnee auf der Strecke wie eine Bremse wirkte. Mit jeder Läuferin wurde jedoch immer mehr Schnee aus der Piste geräumt, sodass die Rennstrecke immer schneller wurde. Mein Trainer Klaus Mayr motivierte mich am Start noch einmal: »Christa, das ist deine Chance. Gib Gas. Vergiss die Nervosität, und starte richtig durch. Wenn du gut durchkommst, kannst du unter die ersten 15 fahren. Los! Das ist deine Chance!« Meine Nervosität war wie verflogen, ich wollte diese Chance unbedingt nutzen, und wieder hörte ich meine Mutter sagen: »Geht nicht gibt’s nicht.«
Ich kam gut aus dem Starthaus. Bereits nach den ersten Toren merkte ich, dass die Piste schnell war. In der Ideallinie befand sich kaum noch Neuschnee. Also konnte ich richtig angreifen. Mir war klar, dass das mein erstes großes Weltcuprennen war. Ich kämpfte mich von Tor zu Tor, wurde immer sicherer und spürte, dass ich genügend Kraft hatte, um das Tempo bis unten durchzustehen. Noch wenige Tore, dann das Ziel. Im Ziel galt mein erster Blick natürlich der Stadionanzeige. Ich hatte es tatsächlich geschafft – der zwölfte Platz und zugleich die beste Zeit der deutschen Läuferinnen. Bad Gastein wurde damit zum Grundstein für meine Karriere als Profiskiläuferin. Diesem Rennen folgten weitere Weltcuprennen, in denen ich gute Platzierungen unter den ersten 15 erreichte, sodass ich sehr bald über den B-Kader in den A-Kader der Nationalmannschaft vorrückte. Meine Leistungen wurden immer besser, sie wurden konstant, und meine Trainer waren mit mir mehr als zufrieden.
Mit der Aufnahme in die Nationalmannschaft im Jahr 1975 änderte sich mein komplettes Privatleben. Ich musste mich nunmehr entscheiden, wie meine schulische...