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Sind wir noch zu retten?

Warum Staat, Markt und Gesellschaft auf einen Systemkollaps zusteuern

AutorSchweinsberg Klaus
VerlagFinanzBuch Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783862482238
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Staatsbankrott und soziale Unruhen in Griechenland, die maroden sozialen Sicherungssysteme hierzulande, der Rechtsruck in Ungarn oder die prekäre Lage in Afghanistan - die Bürger spüren, dass der feste Boden des Wohlstands und des Friedens der Nachkriegsära wankt, ja, eine Illusion war. Unsere Systeme stehen vor dem Zusammenbruch - politisch, wirtschaftlich wie sozial. Es ist nur eine Frage von wenigen Jahren, bis es so weit ist. Um die Fliehkräfte, die aus sozialer Unzufriedenheit, einbrechender Konjunktur und der Flucht der Wähler aus der politischen Mitte resultieren, zusammenzuhalten, braucht es einen starken Staat. Doch dieser wird schon in Kürze kaum mehr handlungsfähig sein, gelähmt durch die horrende Überschuldung und die Kompromisse, zu denen Koalitionsregierungen gezwungen sind. Militär und Polizei sind durch Auslandseinsätze und Beschaffungsstau sowie schlechte Motivation deutlich geschwächt. Kurzum: Die Wahrscheinlichkeit eines totalen Systemausfalls ist hoch und die möglichen Folgen brandgefährlich. Es bleibt wenig Zeit gegenzusteuern. Professor Klaus Schweinsberg zeigt in diesem Buch anschaulich auf, welche globalen Entwicklungslinien die nächsten Jahre bestimmen und welche Gefahren auf uns zukommen. Er zeigt Auswege und Möglichkeiten, sich gegen die enormen Risiken abzusichern.

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Leseprobe

Die beängstigenden Parallelen zu den Systembrüchen 1517, 1618, 1713, 1815 und 1914


»The inevitable never happens. It is the unexpected always.«

John Maynard Keynes

Alles auf Anfang? Der Finanzhurrikan, den der Kollaps der US-amerikanischen-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 ausgelöst hat, flaut ab. Ein Konjunkturaufschwung sprießt und mit ihm die Erwartung, man könne im Prinzip weitermachen wie in der Vorkrisenzeit. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann stimmte als Erster, nur ein halbes Jahr nach der verheerenden Lehman-Pleite, das alte Lied an: Sein Haus verfolge dasselbe Renditeziel wie vor dem großen Crash: 25 Prozent Gewinn auf das Eigenkapital.

Auch wenn die Öffentlichkeit die Ansage aus Frankfurt mehrheitlich mit Unmut quittierte, dürften solche Ankündigungen prominenter Wirtschaftsführer ihre Wirkung in der Finanz- und Unternehmenswelt nicht verfehlen. Sie erzeugen ein Klima, in dem Zweifel an den Geschäftspraktiken den Hautgout von Zaudern und Zagen verströmen. Wem im Management steht zu viel Nachdenklichkeit schon gut zu Gesicht? Das könnte als Unsicherheit wahrgenommen werden. Das etablierte Rollenbild verlangt jedoch entschlossenes Führen. Warum neue rigorose Regulierungen für die Finanzmärkte? Macht nicht Bürokratie alles nur schlimmer? Es wird schon alles so weitergehen wie bisher. Wenn die Nummer eins der Finanzbranche das so locker dahersagt. Wenn die alte Geldmaschine längst wieder Milliardengewinne produziert, als ob nichts gewesen wäre.

Doch eine Reset-Taste gibt es nur am Computer. Nicht im Zeitstrom der Geschichte. Vielmehr drängt der Blick auf das vergangene halbe Jahrtausend einen ganz anderen Eindruck auf. Bei der Finanz- und Wirtschaftskrise handelt es sich nicht nur um ein kleines Aufflackern. Vielmehr dürfte sich der Crash als Teil einer umfassenden Systemkrise herausstellen. Die vergangenen fünf Jahrhunderte schreien nach dieser Fortsetzungsgeschichte: Deutschland steuert auf eine Wende von epochaler Dimension zu.

Denn wir schreiben die zweite Dekade des 21. Jahrhunderts. In das zweite Jahrzehnt fallen mit schöner Regelmäßigkeit Ereignisse von großer historischer Tragweite. Die Konstanz besticht. Der Rückblick auf die fünf vergangenen Jahrhunderte offenbart die Konstante: 1914 – der Ausbruch des Ersten Weltkriegs; 1815 – die Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress; 1713 – der Start von Preußens Aufstieg zu einer europäischen Großmacht; 1618 – der Beginn des Dreißigjährigen Kriegs durch den Prager Fenstersturz; 1517 – die Reformation.

Die Nachwelt hat diese Jahre zu Epochenjahren geadelt. Sie stellen eine historische Zäsur dar, indem sie die nachfolgenden Entwicklungen grundsätzlich verändert und entscheidend geprägt haben. Sie markieren nicht allein Endpunkt und Anfang, sie bilden vielmehr auch eine Brücke historischer Kontinuität. In ihnen verknoten sich Neuerungen im geistigen Denken, technische Innovationen, ökonomische Impulse und politische Veränderungen. Sie haben Transformationsschübe ausgelöst.

1517 – Ein Mönch stürzt die bestehende Ordnung und lehrt die Menschen Freiheit schmecken


Martin Luther veröffentlicht seine berühmten 95 Thesen. Darin rechnet der Augustinermönch und Hochschullehrer mit den Geschäftspraktiken der Papstkirche ab, die durch Luxusleben, Prunksucht und Monumentalbauten strapazierten Finanzen mit Ablasshandel aufzubessern. In den Folgejahren fundiert und verschärft Luther seine Kritik. Sein Vorgehen erscheint den Zeitgenossen als Totalangriff auf die Grundfesten der vermeintlich göttlichen Ordnung. Die kirchlichen und die mit ihr verbandelten weltlichen Spitzen des Systems, Papst und Kaiser, gehen gegen den Tabubrecher vor.

Dass Luther die Thesen eigenhändig an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hat, mag Fiktion sein. Tatsache ist, dass seine Streitschrift sich in Windeseile in Europa verbreitet und großen Rückhalt findet. Die Folgen sind gewaltig. Luthers Aufbegehren gibt einen Anstoß für Europas großen Entwicklungsschub. 1517 ist eines der Epochenjahre, an denen die Historiker später den Beginn der Neuzeit festmachen werden. Die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen verändern sich grundlegend. Soziologen wie dem Deutschen Niklas Luhmann und dem US-Amerikaner Immanuel Wallerstein zufolge beginnt damals die Vielzahl weitgehend isolierter Gesellschaften sich in ein Weltsystem zu verwandeln. Einzelne gesellschaftliche Bereiche differenzieren sich. So bilden sich Teilsysteme wie Politik und Ökonomie heraus. Aus den mittelalterlichen Personenverbänden werden institutionelle Flächenstaaten.

Luthers Tat wäre lediglich als eine Fußnote der Geschichte in Erinnerung geblieben, wenn nicht die Zeit dafür reif gewesen wäre. Ein Jahrhundert zuvor war der böhmische Reformator Jan Hus für ähnliche Thesen beim Konzil von Konstanz auf dem Scheiterhaufen gelandet. Bei gleicher Gelegenheit wurde der Engländer John Wyclif, der Vergleichbares propagiert hatte, nachträglich als Ketzer verurteilt, die Gebeine des 1415 Verstorbenen wurden 1428 ausgegraben und verbrannt.

Den Reformator Luther begünstigt die außenpolitische Lage des Reichs. Der junge papsttreue Kaiser Karl V., der 1519 ins Amt kommt, muss sich Angriffe der Türken im Südosten des Reichs erwehren, im Westen sorgt Frankreichs König für Dauerstress. Die äußere Bedrohung schwächt die Position des Kaisers im Innern. Um die Kräfte zu bündeln, kann er den Konflikt mit den Lutheranern nicht auf die Spitze treiben und die Sache des Papstes notfalls mit Waffengewalt durchsetzen. Das Dilemma des Kaisers nutzen gar manche Regionalfürsten geschickt zum Ausbau ihrer machtpolitischen Position. Und vor aller Augen demonstrieren sie ihre neue Stärke, indem sie sich als Schutzherren des für vogelfrei erklärten Reformators gerieren.

Das System Luther funktioniert überdies dank innovatorischer Impulse. Die Reformation ist ein Erfolg der »Medienrevolution«, wie der Historiker Johannes Burkhardt herausgearbeitet hat. Bahnbrechend war die Entdeckung des Buchdrucks wenige Jahrzehnte zuvor. Im Zusammenspiel mit dem Gebrauch der deutschen Sprache ermöglicht der technische Fortschritt im Printbereich die rasche und massenhafte schriftliche Verbreitung der Thesen Luthers und seiner Gesinnungsgenossen. Die Bibelübersetzung vom Lateinischen ins Hochdeutsche macht dieses Idiom im Laufe der Zeit zur Alltagssprache.

Zu den ideologischen Grundlagen von Luthers Durchbruch zählen Humanismus und Renaissance. Die Rückbesinnung auf antike Geistesgrößen und Denkgebäude hat die Alleinstellung päpstlicher Weltsicht relativiert. Die intellektuelle Elite Europas, die an Fürstenhöfen und Universitäten Einfluss nimmt, hat auf der Basis der alten Einsichten das Individuum, Individualität und Subjektivität entdeckt. Der Reformator und seine Epigonen können daran anknüpfen. Ihre theologisch-philosophischen Anstöße bereichern das neue Gedankengut.

Den ökonomischen Fortgang der Geschichte beeinflusst allen voran der calvinistische Flügel der Protestanten. Seine Vordenker begründen das Primat der Praxis. Danach spiegele der wirtschaftliche Erfolg das von Gott vorbestimmte Schicksal des Einzelnen wider. Durch sein Handeln auf dieser Erde offenbare sich dem Gläubigen der Fingerzeig der Vorsehung. Auf diese sogenannte Prädestinationslehre führt der deutsche Soziologe Max Weber den Siegeszug des Kapitalismus und den einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung in Europa zurück.

Die Reformation vertieft die Fragmentierung Deutschlands. Die sich im 16. Jahrhundert herausbildenden modernen Territorialstaaten bekommen geistig-religiöses Unterfutter. Die Konfessionalisierung zwischen Lutheranern, Reformierten und Katholiken ist Segen und Fluch zugleich.

Einerseits verfestigen die konfessionellen Gegensätze die föderalen Strukturen im Reichsverband. Die freien Reichsstädte sowie die Residenzstädte der vielen hundert Kleinstaaten – Anfang des 19. Jahrhunderts gab es fast 1800 Herrschaftseinheiten – führen zu einer Vielfalt geistiger Zentren, zum fruchtbaren Wettbewerb untereinander und zu vergleichsweise ausgeglichenen Lebensverhältnissen in Deutschland. Andererseits führt die Konfessionalisierung zu wachsenden machtpolitischen, ideologisch aufgeladenen Spannungen, die ein Jahrhundert nach Luthers Thesen zum Dreißigjährigen Krieg führen. Außerdem versperrt die konfessionell untermauerte Kleinstaaterei den Weg zum Zentralstaat, auf dem Frankreich und England bereits zügig voranschreiten. Deutschland dagegen wird zu einer verspäteten Nation. Das Land kann die Einheit erst im 19. Jahrhundert vollenden.

1618 – Starke Spannungen, schwache Instanzen


Die Aktion hat nach heutigen Maßstäben einen eventartigen Charakter: In Böhmen kocht der konfessionelle Konflikt hoch. Die evangelischen Stände sehen die ihnen zugestandene Religionsfreiheit und politischen Rechte durch die katholischen Landesherren aus Wien verletzt. Vertreter der Stände improvisieren daraufhin auf der Prager Burg eine Gerichtsverhandlung und stürzen anschließend die anwesenden kaiserlichen Gesandten aus dem Fenster. Die Opfer bleiben unversehrt. Die sogenannte Defenestration, eine zu jener Zeit nicht unübliche Zwangsmaßnahme, löst dennoch eine Katastrophe aus: den Dreißigjährigen Krieg.

Die Ursache wurzelt in den unversöhnlichen Machtansprüchen von Protestanten und Katholiken. Die konfessionellen Spannungen haben sich in den vergangenen hundert Jahren aufgestaut, Friedensverträge konnten die Lage jeweils nur kurz beruhigen. Die Entscheidungsinstanzen des Reiches sind seit Jahrzehnten blockiert, eine...

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