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E-Book

Im KZ

Zwei jüdische Schicksale 1938/1945

AutorFranz Memelsdorff, Georg Heller
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheDie Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe« 
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783104012902
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
1938 | 1945. Zwei Schicksale - zwei Berichte: Was es hieß, als Jude den NS-Schergen in die Hände zu fallen. Nur wenige Memoirentexte spiegeln die Entwicklung und Wirkung des NS-Terrors auf so eindringliche Weise wie diese: Der wohlsituierte Berliner Jurist Franz Memelsdorff war 1938 fünf Wochen im KZ Sachsenhausen, der junge Ungar Georg Heller wurde Ende Mai 1944 aus Budapest nach Auschwitz deportiert, mit den letzten Todesmärschen kam er nach Dachau. Ihre authentischen Berichte, der eine sofort niedergeschrieben, der andere Jahrzehnte später, werden hier erstmals veröffentlicht.

Franz Memelsdorff, geb. 1889 in Berlin, studierte Rechtsiwssenschaften und machte Karriere als politischer Beamter. Von 1923 bis 1933 war er Beigeordneter des preußischen und deutschen Städtetages. 1938 wurde er für 6 Wochen in Dachau gefangengehalten. Er emigrierte mit seiner Familie anschließend nach Argentinien, wo er 1958 starb.

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Leseprobe

Die ersten 24 Stunden im Konzentrationslager


»Ihr Judenschweine, wollt Ihr wohl herauskommen?!« Das war das Erste,was ich hörte. »Na, wird’s bald mit euch vollgefressenen Arschlöchern? Kommt nur herunter, ihr Mistviecher!« Die beiden Polizeibeamten waren heruntergesprungen, nun sollten wir hinterher. Mir fiel trotz meiner 50 Jahre der Sprung nicht schwer, aber es waren alte, gebrechliche, lahme, todkranke Leute dabei, alle mussten herunterspringen. Vor dem Ausgang des Lastwagens standen etwa ein Dutzend Männer in grau-grünen Uniformen, am Kragen die beiden SS-Zeichen, junge Leute, jeder mit einer Peitsche oder einem Stock »bewaffnet«. Alle hieben wahllos auf die Menschen, die aus dem dunklen Loch herauskamen, mit aller Kraft ein. Vor mir stürzte ein Mann, er wurde mit Füßen bearbeitet. »Wollt ihr wohl die Hüte abnehmen, ihr Judenlümmel?! Wollt ihr wohl laufen, ihr Schweine?!«, hörte ich rufen. »Ihr wisst wohl nicht, dass ihr ins Konzentrationslager kommt?«

Man sah schon, wo man laufen sollte. Von lauter Uniformierten war eine Gasse gebildet, die man passieren musste. Von rechts und links hagelten die Hiebe. Viele dieser Leute stellten den Juden ein Bein, nicht wenige fielen hin und wurden dann mörderisch zugerichtet, ich entging diesem Schicksal, einmal sprang ich über das hingehaltene Bein eines Uniformierten. Aber Prügel habe ich eine Menge bezogen, als ich die etwa 500 m durchlaufen hatte und das riesengroße Tor erreichte, das den Eingang des Konzentrationslagers Sachsenhausen bildet. Kommt man durch das Tor, so ist man auf einem riesengroßen, mit schwarzer Asche belegten Platz, dem sogenannten Appellplatz. War es draußen schon hell, so wurde man auf dem Platz geradezu geblendet: Stärkste Scheinwerfer erleuchteten taghell das Gelände. Wir 60 Mann aus dem Lastauto wurden mit zwei, drei anderen Gruppen zusammengetan, die vor uns angekommen waren.

Überall auf dem Platz standen Menschenhaufen in Zivilkleidern, ergeben in ihr Schicksal, SS-Männer ließen unsere Gruppe in vier Gliedern antreten. Natürlich ging das nicht mit der geforderten Schnelligkeit, und wahllos teilten die Jünglinge Fausthiebe und Fußtritte aus. Zwei Glieder mussten ein paar Schritte zur Seite machen, sodass eine Gasse gebildet wurde, zu der hin wir Front machten. In der Gasse gingen die SS-Männer einher, bald waren zehn und zwanzig da, bald nur einige wenige. Wir standen, mit dem Hut in der Hand. So hatten wir Zeit, unsere neue Umgebung zu betrachten und die Fülle der Eindrücke in uns aufzunehmen.

Ich stellte fest, dass die Strahlen der Scheinwerfer von dem Eingangstor kamen, wo sie im ersten Stockwerk auf einem Balkon angebracht waren. Der Platz, auf dem wir standen, war ein großer Halbkreis, den Durchmesser von vielleicht 800 m Länge bildete eine lange, hohe Mauer, in deren Mitte das Tor war. Strahlenförmig standen an der Außenseite des Halbkreises Holzbaracken, jeweils mit der schmalen Kopfseite dem Tor zugekehrt. Wenn die Scheinwerfer am Tor sich im Halbkreis herum bewegten, so beleuchteten sie die Gänge zwischen den Baracken bis in die hintersten Ecken. Ein ausgeklügeltes System, wie man es übrigens auch in den modernen Gefängnissen hat, nur dass dort die strahlenförmige Anlage sich innerhalb eines massiven Gebäudes befindet. Am Tor entdeckte ich eine Uhr, es war sieben Uhr abends, als ich in das KZ »einlief«. Diese Stunde des 11. November 1938 werde ich nie vergessen, solange ich lebe. Die größten Eindrücke, die ich in meinem Leben gehabt habe, waren der Weltkrieg und das Konzentrationslager. Damals war man jung, begeistert, voller nationaler Ideale, bereit, sein Blut für sein Vaterland, für Deutschland, herzugeben – heute, 25 Jahre später, wurde man körperlich und seelisch gepeinigt und misshandelt, in seiner Ehre aufs tiefste gedemütigt und verletzt.

Wir sahen, dass bei anderen Gruppen Schilder herumgetragen wurden, bald kamen sie auch zu uns, und zwei von uns mussten die Schilder langsam in unserer Gasse einhertragen. Auf dem einen war zu lesen: WIR SIND DIE VERNICHTER DER DEUTSCHEN KULTUR

Ich habe lange darüber nachgedacht, was dieser sinnige Spruch wohl zu bedeuten haben mag. Es ist mir bis heute nicht klargeworden. Das zweite Plakat trug ein Mann, den ich als einen früheren Klassenkameraden und Conabiturienten wiedererkannte. Ein schönes Wiedersehen. Auf diesem Schild stand zu lesen: WIR SIND SCHULD AN DER ERMORDUNG DES HERRN VOM RATH Diese Worte waren zwar nicht zutreffend, aber wenigstens verständlich. Die Juden in Deutschland sollten also in ihrer Gesamtheit dafür verantwortlich gemacht werden, dass ein deutscher Beamter im Ausland von einem polnischen Juden erschossen worden war. Zu den »Juden« wurden nach nationalsozialistischer Doktrin auch die Christen gerechnet, die jüdischer Abstammung waren.

Es war inzwischen acht Uhr geworden. Wir standen, mit dem Hut in der Hand.

Die SS-Männer trugen nicht die schwarzen Uniformen, wie man sie sonst kannte. Sie hatten Jacken und Hosen aus grau-grünem Stoff. Es war nicht das Braun der SA, auch nicht das Grün der Gendarmerie, sondern eine eigene schmutzig-grau-grüne Farbe, sehr ähnlich der Uniform der Serben im Kriege. Ich musste immer, wenn ich die Uniformierten sah, an die serbischen Kriegsgefangenen denken, die wir anno 1915 machten … An der Mütze war ein Totenkopf aus Weißblech angebracht, am Kragen befanden sich die beiden SS-Runen. Die Wachtruppe war nicht die übliche SS. Sie bestand nicht etwa aus Personen, die eine zivile Beschäftigung hatten und sich nur von Zeit zu Zeit ihre Uniform anzogen, sondern die SS im Konzentrationslager ist eine Berufstruppe und bildet als sogenannte SS-Verfügungstruppe einen Teil der regulären Wehrmacht,[4] die aber nicht dem Kriegsminister, sondern Herrn Himmler als Chef der deutschen Polizei untersteht. Wie mir später erzählt wurde, machen die SS-Leute zunächst ein freiwilliges Probejahr durch, und dann verpflichten sie sich, wenn sie es wollen, für zwölf Jahre zum Dienst in dieser Truppe. Nach Ablauf dieser Zeit haben sie wie jeder Unteroffizier der Wehrmacht Anspruch auf den Zivilversorgungsschein und damit auf eine Anstellung im mittleren Beamtendienst.

Es fiel mir auf, dass alle SS-Männer, die man sah, Sterne am Kragen hatten. Es waren dies also keine »Gemeinen«, sondern »Chargen«. Ich kannte so viel von den Abzeichen, um zu wissen, dass ein Stern einen Scharführer darstellt – das ist so viel wie etwa ein Obergefreiter – und dass zwei Sterne einen Oberscharführer bezeichnen, einen Rang, der etwa dem Unteroffizier gleichzusetzen ist.[5] Wenn hier Hunderte von diesen Chargen herumliefen, wie groß musste erst die Zahl der ihnen unterstellten SS-Männer sein. Vier, fünf Scharführer kamen an der Reihe entlang, in der ich stand. Sie hatten elektrische Taschenlampen in der Hand und beleuchteten damit aus der Nähe die einzelnen Gesichter. Sie machten sich einen Spaß daraus, mit ihren behandschuhten Händen Ohrfeigen auszuteilen und den Leuten Fußtritte zu versetzen. Ich hörte Worte wie: »Sieh Dir doch mal diese Nase an! Das ist der Abraham aus Jerusalem« – und schon hatte der Jude einen Schlag ins Gesicht bekommen. Ein paar Schritte neben mir stand ein großer, sehr gut aussehender Mann. Einer der Scharführer fragte ihn, was er sei. »Universitätsprofessor«, lautete die Antwort. Schon hatte der Mann eine gewaltige Ohrfeige, die von den Worten begleitet war: »Eine Frechheit, mich so anzulügen! Juden sind keine Universitätsprofessoren. Die Juden treiben nur Wucher und ziehen uns Ariern das Geld aus der Tasche«.

Die Scharführer gingen weiter, und das Licht der Taschenlampe fiel auf meine Orden im Knopfloch. »Was haben Sie da?« »Kriegsorden«, antwortete ich. »So ein gemeiner Verbrecher, will im Krieg gewesen sein. In Wirklichkeit warst Du zu Hause und hast Dich vollgefressen und Lebensmittel geschoben.« Schon bekam ich eine schallende Ohrfeige mit voller Kraft. Ich musste mich mit Gewalt zurückhalten, um dem Lümmel nicht an die Kehle zu springen. Der Mann fragte weiter: »Was ist das Kreuz da unten?« und zeigte auf das einzelne Abzeichen auf der Mantelklappe. »Das E. K. Erster Klasse«, war die Antwort. »So ein Lügner und Betrüger!«, sagte der Scharführer, »der Kerl trägt das E. K. 1, wo er überhaupt nicht im Felde war.« Im Nu hatte ich eine zweite Ohrfeige auf die andere Seite. Mir dröhnten die Ohren, und die Augen flimmerten. Ich konnte kaum verstehen, was der Lümmel weiter fragte. Welchen Rang ich im Kriege gehabt hätte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, ich sei Leutnant gewesen. Daraufhin wurde ich mit Fußtritten traktiert. Inzwischen hatten sich weitere Scharführer eingefunden, die sich den Vorgang lachend mit ansahen. Einer meinte: »So ein Schwein! Will einen so hohen Kriegsorden haben. Er wird schon merken, dass man mit solchen Lügen hier im KZ nicht weiterkommt.« Dann ließen die »Herren« von mir ab und wandten sich anderen Opfern zu. Ich nahm die Orden vom Mantel ab und steckte sie in die Tasche. Nachdem sie so besudelt waren, habe ich sie später, als ich wieder frei war, nicht mehr getragen.

Es war neun Uhr, wir standen mit dem Hut in der Hand. Es wurde kühler. Die Scharführer gingen einzeln fort und kamen mit Mänteln wieder. Es waren schöne, warmhaltende Kommissmäntel. Zum ersten Male sah ich einen Offizier, einen Sturmführer, der am Kragen...

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